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Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys

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Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys

Diogenes Verlag,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

Einer der kuriosesten Romane der Weltliteratur, der quasi nur aus Abschweifungen besteht: die komisch-frivole Geschichte des Tristram Shandy und seiner verschrobenen Verwandtschaft.

Literatur­klassiker

  • Roman
  • Aufklärung

Worum es geht

Roman der Abschweifungen

Die Geschichte von Tristram Shandy beginnt mit der Zeugung des Helden, genauer mit einem Coitus interruptus. Entsprechend ist die Unterbrechung denn auch das wichtigste Strukturprinzip des Romans: Sterne mäandert durch die fiktive Autobiographie, liefert zu jedem Ereignis noch die Vorgeschichte und gefällt sich in Abschweifungen, Exkursen und Anekdoten. Kein Wunder, dass die Handlung nicht über den fünften Geburtstag des Helden hinauskommt! Bis dahin passieren ihm allerhand Unglücksfälle: Bei der Geburt wird ihm die Nase eingedrückt, er erhält einen falschen Namen und wird von einem niedersausenden Fenster beschnitten. Große Teile des Romans handeln aber noch nicht einmal von Tristram, sondern von seinem Onkel Toby. Dessen obsessives Steckenpferd ist der Festungsbau in seinem Gemüsegarten, wo er die Kriegszüge der Briten en détail nachspielt. Sterne versammelt noch mehr wunderliche Typen in seinem Roman, der alles ist, nur nicht langweilig. Frei wie die Gedanken schweifen die skurrilen Erzählungen durcheinander und halten sich selten an die chronologische Erzählzeit. Ein humorvolles, bisweilen auch anrührendes Lesevergnügen - für jeden, der genügend Zeit mitbringt. Im 20. Jahrhundert wurde Sternes Werk von modernen Autoren wie James Joyce und Virginia Woolf wiederentdeckt.

Take-aways

  • Laurence Sterne veröffentlichte die neun Bände seines Romans Tristram Shandy zwischen 1759 und 1767.
  • Bei der Verfertigung des zehnten Bandes starb der Autor, sodass der Roman unvollendet ist - was allerdings nicht weiter auffällt.
  • Der Grund hierfür: Der Roman ist chaotisch strukturiert, er lebt von Unterbrechungen und Abschweifungen, reiht Vorgeschichten, Anekdoten, Reiseberichte und Erzählungen von Nebenfiguren aneinander und formt daraus ein buntes Kaleidoskop.
  • Die Romanhandlung beginnt 1718 und endet fünf Jahre früher, im Jahr 1713.
  • Tristram Shandy wendet sich direkt an den Leser und will seine Lebensgeschichte erzählen - er kommt aber niemals richtig damit zurande.
  • Schon bei seiner Zeugung geht etwas schief: Sein Vater wird durch eine triviale Frage der Mutter unterbrochen, worin Tristram den Grund für seine spätere Kränklichkeit sieht.
  • Tristram wird mit der neuartigen Geburtszange von Dr. Slop zur Welt gebracht, der ihm damit die Nase zerquetscht.
  • Weitere Missgeschicke: Das Kind wird auf den falschen Namen getauft; sein Vater vernachlässigt die Erziehung über der Verfassung eines Erziehungsbuches; schließlich wird der kleine Tristram von einem herabsausenden Fenster beschnitten.
  • Zahlreiche Abschweifungen garnieren Tristrams Lebensgeschichte, darunter die Erlebnisse von seinem Onkel Toby, der im Krieg verwundet wurde und hemmungslos seinem Steckenpferd frönt: dem Bau von Festungen.
  • Toby spielt zusammen mit seinem Diener Trim aktuelle Kriegshandlungen nach. Dabei verliebt er sich in die Witwe Wadman, die er jedoch nicht "erobern" kann.
  • Der Roman birst vor sexuellen Anspielungen, die Sterne jedoch geschickt verpackt.
  • Tristram Shandy war bei den Lesern sehr beliebt, geriet im 19. Jahrhundert in Vergessenheit und wurde von den Autoren des modernen psychologischen Romans wiederentdeckt.

Zusammenfassung

Coitus interruptus

Die genauen Umstände bei der Zeugung eines Kindes spielen eine große Rolle für das spätere Leben des kleinen Menschleins. Hätten also Tristram Shandys Eltern ein wenig mehr Sorgfalt bei diesem "Geschäft" walten lassen - wer weiß, was aus dem guten Tristram hätte werden können? Aber nein: Tristrams Vater Walter Shandy hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, alle routinemäßigen Vorrichtungen nach einem strengen Zeitplan auszuführen. Dazu gehörte a) der Beischlaf mit seiner Frau, aber auch b) das Aufziehen der großen Uhr am Treppenaufgang. Dummerweise fielen beide Aufgaben a) und b) Anfang März 1718 zusammen, sodass Tristrams Mutter Elizabeth Shandy ihrem Mann mitten in der innigen Umarmung die etwas deplatzierte Frage stellte: "Schatz, hast du denn auch die große Uhr schon aufgezogen?" Es konnte ja nichts Gescheites aus ihm werden, stellt (der erwachsene) Tristram Shandy fest: All seine Gebrechen und Schwächen führt er auf diesen verpatzten Liebesakt seiner Eltern zurück. Seine Zeugung, seine Geburt, seine Taufe: alles eine Verkettung von Unfällen und Missgeschicken. Geboren wird der kleine Tristram dann aber doch noch: am 5. November 1718.

Schwere Geburt, Teil 1

Eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit Tristrams Geburt spielt die Hebamme des kleinen Ortes. Yorick, der stets ein wenig spöttische Pfarrer der Stadt, hat persönlich dafür gesorgt, dass sie ausgebildet wurde. Tristram stößt bei der Recherche für seine eigene Lebensgeschichte auf einen Ehevertrag zwischen seiner Mutter Elizabeth und seinem Vater Walter: Letzterer billigt seiner Frau zu, dass sie im Falle einer Schwangerschaft nach London reisen und dort die Dienste eines erfahrenen Arztes in Anspruch nehmen könne. Sollte sie diesen "Freifahrschein" allerdings missbrauchen, würde sie das Recht darauf verwirken. Dummerweise hat sich Elizabeth Shandy ein Jahr vor Tristrams Geburt eben dieses Missbrauchs schuldig gemacht. Die Folge: Das Kind kommt nicht in London, sondern auf dem Land zur Welt. Tristrams Mutter besteht auf der Hebamme, sein Vater will, dass Dr. Slop, der Geburtshelfer, als "Reserve" ebenfalls mit eingeschaltet wird. Während Tristrams Mutter in den Wehen liegt, diskutieren ihr Mann und dessen Bruder, Tristrams Onkel Toby, im unteren Stockwerk des Hauses.

Das Steckenpferd des Onkel Toby, Teil 1

Der schamhafte und friedfertige Onkel Toby wurde einst bei der Belagerung von Namur in Flandern "in der Leistengegend" verletzt. Danach musste er aus der englischen Armee ausscheiden und sich vier Jahre lang gesundkurieren, wobei er immer wieder mit Fragen über das genaue Zustandekommen seiner Verletzung bestürmt wurde. Weil aber niemand so recht verstand, was Toby von der Belagerung erzählte, besorgte er sich eine Karte der Gegend, mit deren Hilfe er die geographische Lage genau erklären konnte. Dies wiederum erweckte in ihm selbst den Wunsch, sich intensiv mit den Methoden der Befestigungs- und Belagerungstechnik auseinander zu setzen. Sein Diener Korporal Trim schlug ihm vor, ein maßstabsgetreues Modell der belagerten Festung zu bauen, um die Schlacht detailliert nachspielen zu können. Hätte er nur gewusst, was er mit diesem Vorschlag anrichten würde! Onkel Toby war sofort Feuer und Flamme und konnte es gar nicht erwarten, das Krankenlager wieder zu verlassen: Er hatte sein - fortan bis zur Obsession getriebenes - Steckenpferd gefunden: den Festungsbau!

Schwere Geburt, Teil 2

Zurück zu Tristrams Geburt: Weil es im oberen Stockwerk, wo Frau Shandy in den Wehen liegt, zunehmend unruhiger wird, lässt Walter Shandy die Hebamme und Dr. Slop rufen. Walter kann immer noch nicht so recht verstehen, warum seine Frau die Hebamme bevorzugt. Onkel Toby meint, dass es sich vielleicht um Schamhaftigkeit handelt, gibt aber zu, dass er im Grunde nichts von Frauen verstehe, wie sein fehlgeschlagener Versuch, die Witwe Wadman zu erobern, beweise. In diesem Augenblick erscheint der Diener Obadiah mit Dr. Slop. Dieser hat jedoch seine Tasche mit den medizinischen Instrumenten zu Hause vergessen, sodass Obadiah erneut losgeschickt wird. Onkel Toby erinnert das rasche Erscheinen des Doktors - es sind nur wenige Minuten vergangen, seitdem Obadiah losgerannt ist - an ein Buch über Festungslehre, in dem von einem blitzschnellen Segelwagen die Rede ist. Er bittet seinen Diener Trim, das besagte Buch zu holen. Zum Erstaunen aller flattert eine Predigt heraus ("Über das gute Gewissen"), die der Pastor Yorick dort vergessen hat und die Trim sogleich vorträgt. Danach erscheint Obadiah mit der Tasche des Doktors, der, etwas konsterniert, von Walter Shandy erfährt, dass er nur als "Reserveoffizier" zu warten braucht, während die Hebamme die Hauptarbeit macht.

„Wenn doch mein Vater oder meine Mutter oder eigentlich beide - denn beide waren gleichmäßig dazu verpflichtet - hübsch bedacht hätten, was sie vornahmen, als sie mich zeugten!“ (S. 5)

Dr. Slop und Walter beginnen, über den medizinischen Fortschritt zu fachsimpeln, was Onkel Toby sichtlich langweilt. Dr. Slops Lieblingsthema: die Geburtshilfe mit der Geburtszange. Sogleich packt er die seine aus und demonstriert das Vorgehen an Tobys Hand, die er dabei heftig lädiert. Das lässt nichts Gutes erahnen - besonders weil sich die Hebamme nicht sicher ist, ob der Kopf oder die Hüfte des Kindes zuerst auf die Welt kommen wird. Dr. Slop hält dies für eine eminent wichtige Frage: Könnte doch seine Zange bei einem Knaben "allerhand anrichten". Weil die Hebamme um Hilfe bittet, eilt er ins obere Stockwerk, während im Parterre alle Anwesenden in einen tiefen Schlaf fallen. (Diesen nutzt der Erzähler Tristram dazu, sein Vorwort zu dem Buch nachzureichen.) Als alle Anwesenden wieder erwacht sind, erfahren sie von Korporal Trim, dass das Kind mit Hilfe der Geburtszange auf die Welt geholt worden ist. Allerdings hat Dr. Slop dabei die Nase des Knaben zerquetscht, sodass er nun einen künstlichen Nasensteg basteln muss, um sie wieder aufzurichten. Dieses Missgeschick bestürzt Tristrams Vater, der sich in der "Nasenkunde" recht gut auskennt und eine kleine Nase mit Armut in Verbindung bringt.

Taufe mit Folgen

Die einzige Gegenmaßnahme, die so viel Unglück wieder ins Lot bringen könne, sei der richtige Name, meint der Vater: Das Kind soll "Trismegistus" getauft werden. Nachdem der Erzähler auf einen simplen Treppenabstieg von Walter und Toby mehrere Kapitel verwendet hat, kommt die Zofe Susanna in Panik herbeigelaufen: Das Kind wird schwarz im Gesicht! Es muss sofort getauft werden, weil es sterben könnte! Walter Shandy nennt der Zofe den Namen und diese verschwindet wie der Blitz in den oberen Gemächern. "Wird sie sich den Namen merken können?", grübelt Walter laut. Später erfährt er: Nein, sie konnte es nicht. Und so heißt sein Sohn nun nicht Trismegistus, sondern Tristram. Ausgerechnet der Name, den Walter kurz zuvor noch als den verabscheuungswürdigsten, schmutzigsten und blödesten Namen gebrandmarkt hat, den man sich denken kann! Jetzt glaubt er daran, dass ihn der Himmel systematisch bestrafen will. Er lässt Pfarrer Yorick rufen und fragt ihn, ob sich die Taufe nicht rückgängig machen ließe. Dieser ist sich nicht ganz sicher und lotst Toby und Walter zum Kirchenrechtler Didius, mit dem sie sich erst einmal zum Essen setzen. Bevor das Gespräch auf das Namensproblem kommen kann, verbrennt sich einer der Gelehrten des Didius an heikler Stelle an einer gerösteten Kastanie. Man diskutiert das beste Heilmittel für Brandwunden. In der Frage der Namensänderung kommt man indes nicht weiter.

Beschneidung wider Willen

Wieder zu Hause angekommen, erhält Walter ein Schreiben, mit dem seine Tante Dinah ihm die stattliche Summe von 1000 Pfund hinterlässt. Das stürzt ihn in ein Dilemma: Soll er Tristrams älterem Bruder Bobby eine Bildungsreise durch Europa sponsern oder das Geld selbst behalten? Eine weitere Nachricht schafft Klarheit: Bobby ist gestorben. Das Entscheidungsproblem hat damit ein "glückliches" Ende gefunden. Nachdem er seinen ältesten Sohn ausgiebig beweint hat, widmet er sich umso mehr der Frage, wie es mit seinem Jüngsten Tristram weitergehen soll. Walter beginnt eine "Tristrapaedia" zu schreiben, ein pädagogisches Werk, das genaue Anweisungen darüber enthält, wie der Knabe erzogen werden soll. Nach nur drei Jahren ist er immerhin schon zur Hälfte damit fertig. Dumm ist nur, dass in der Zwischenzeit Tristrams Erziehung zu kurz kommt. Die vierte Katastrophe im Leben des Knaben ereignet sich, als er gerade fünf Jahre alt ist. Weil Susanna zu faul ist, den Nachttopf hervorzuholen, lässt sie den kleinen Tristram sein Geschäft zum Schlafzimmerfenster hinaus verrichten. Dabei löst sich das Schiebefenster, es saust von oben herab - und das Kind erhält eine unfreiwillige Beschneidung. Korporal Trim nimmt die ganze Schuld auf sich: Er hat das Fenster auseinander genommen, als er Einzelteile für Geschützrohrattrappen für das Festungsmodell von Onkel Toby gesucht hat.

Das Steckenpferd des Onkel Toby, Teil 2

Während Dr. Slop und das Hausmädchen sich um die Wunde kümmern, kommt Walter zu der Erkenntnis, dass Tristram einen Hauslehrer benötigt, damit das Kind nicht länger in den ungeschickten Händen der Weiber bleiben müsse. Außerdem beschließen Herr und Frau Shandy in nächtelangen Debatten, dass Tristram nun endlich eine Hose angepasst bekommen müsse: Der Kinderrock sehe doch auf Dauer zu albern aus. Nun betreten wir einen gänzlich anderen Schauplatz: den Gemüsegarten von Onkel Toby. Dort nämlich hat er sich vor Jahren ein Stück Land reserviert, auf dem er die im Krieg belagerten Städte maßstabsgetreu nachbaut und deren Einnahme im Kleinen er überwacht. Wenn die Zeitung von den neuesten Kriegshandlungen in Flandern berichtet, spielen er und Trim jeden Vorstoß im Modell nach - bis der Friede von Utrecht diesen Spaß zunichte macht. Toby ist untröstlich, hält er doch den Krieg für ein vollkommen natürliches Übel. In diese Zeit der Untätigkeit fällt die schon erwähnte Liebesaffäre mit der Witwe Wadman - eine andere Art von "Festung", die es zu erobern gilt.

Eine Reise durch Europa

Die genauen Details dieser Eroberung verschieben wir auf später. Dem Erzähler Tristram läuft nämlich inzwischen die Zeit davon: Weil er nach den Ereignissen, die schon sechs Bücher füllen, immer noch nicht älter als fünf Jahre geworden ist, macht er kurzerhand einen großen Zeitsprung und schwenkt zu einer Reise über, die er als Erwachsener durch Europa gemacht hat. Seine Reisestationen: Calais, über das es nicht viel zu berichten gibt, Boulogne, wo ihn die Postkutsche mehrmals im Stich lässt, Montreuil, wo er die Tochter des Gastwirtes schöner findet als die Architektur, schließlich Paris, dessen Straßen er fleißig auflistet. Als er auf dem Rücken eines Esels durch die Ebenen von Südfrankreich reitet, erinnert er sich jedoch aller Einzelheiten der Liebesgeschichte seines Onkels Toby:

Die Belagerung der Bastion Wadman

Als Onkel Toby und Trim zum ersten Mal aufs Land hinausfahren, um ihre Festung aufzubauen, ist das Landhaus vollkommen unbewohnbar. Daher steigen sie bei der Witwe Wadman ab, die sich innerhalb kürzester Zeit in Toby verliebt. Toby selbst bekommt davon nichts mit, schließlich ist er in seine Schlachtpläne vertieft. Die Witwe nutzt also jede Möglichkeit, Toby nahe zu kommen und ihm kleine, flüchtige Zärtlichkeiten zuteil werden zu lassen. Das meiste davon verpufft ungesehen. Als aber der Friede von Utrecht kommt und sich Toby und Trim in ihrem nachgebauten Horchposten gerade über Trims Amouren im Krieg unterhalten, wagt die Witwe einen letzten Vorstoß: Sie bittet Toby, ihr ein Sandkorn aus dem Auge zu entfernen. Toby inspiziert also pflichtschuldig die Augen der Witwe - und nach diesem tiefen Blick ist auch er verliebt.

„Sollten Sie, teurer Freund und Genosse, mich darum jetzt zu Beginn noch für etwas sparsam und zurückhaltend im Wiedergeben von Einzelheiten halten, so haben Sie Geduld, lassen Sie mich fortfahren und meine Geschichte auf meine eigene Weise erzählen.“ (S. 14)

Zugeben kann er dies freilich nicht. Zusammen mit Trim arbeitet er aber einen Schlachtplan aus, um die "Bastion Wadman" zu erobern. Am nächsten Morgen gegen elf Uhr besucht Toby - unter reger Anteilnahme von Trim, Walter und dessen Frau - die Witwe. Toby gesteht seine Liebe, die Witwe erkundigt sich nach seiner Wunde. Er macht ihr einen Heiratsantrag und bietet ihr an, den Finger auf den exakten Punkt seiner Verwundung zu legen. Kurz darauf erscheint Trim mit einer Karte von Namur, wo Toby der Witwe den besagten exakten Punkt zeigt. Nicht ganz das, was die Witwe - zwischen Scham und Neugierde hin- und hergerissen - erwartet hat, aber sei's drum. Auf den Heiratsantrag geht sie nicht ein. Im Gespräch mit ihrer Zofe Bridget findet Trim jedoch heraus, wo die Witwe der Schuh drückt: Sie vermutet, dass Onkel Toby wegen seiner Verletzung für die Freuden der Ehe und des Kinderzeugens nicht mehr in Frage komme. Als Toby dies erfährt, ist er peinlich berührt. Noch peinlicher findet es aber sein Bruder Walter. Mit dessen obskurer Anekdote über einen unfruchtbaren Stier und eine Kuh endet Tristrams Geschichte genauso unvermittelt, wie sie begonnen hat.

Zum Text

Aufbau und Stil

Tristram Shandy gilt als Vorläufer moderner Experimentalromane. Die insgesamt neun Einzelbände dieser fiktiven Autobiographie enthalten unterschiedlich viele, unterschiedlich lange Kapitel. Besonderheiten wie extrem kurze, einfach ausgelassene oder später nachgeholte Kapitel finden sich an vielen Stellen. Hinzu kommen typographische und gestalterische Finessen: handgemalte Kritzeleien, Asterisken (*) bei ausgelassenen Buchstaben, Wörtern oder Sätzen oder eine komplett schwarze Seite (nach dem Tod Pastor Yoricks). Ähnlich spielerisch geht es auch auf der inhaltlichen Ebene und in der Zeitstruktur zu: Der Erzähler, mal aus der auktorialen (allwissenden) Sichtweise, mal aus der Perspektive des erwachsenen Tristram berichtend, hält sich nicht an die Chronologie, huscht von einer Zeitform in die andere, wechselt von der Gegenwart in die Zukunft oder Vergangenheit und stellt mitunter sogar das Phänomen von "Erzählzeit" und "erzählter Zeit" selbst in den Mittelpunkt seiner Erörterungen. Es ist also kein Wunder, dass die Handlung 1718 beginnt und fünf Jahre früher endet. Der Ich-Erzähler spricht den Leser in vielen verschiedenen Varianten persönlich an: als Dame oder Herr, als den "lieben" oder auch einmal als den "ungebildeten Leser". Eine Konstante im Roman ist die Digression, die Abschweifung: Beinahe jedes Element des Geschehens wird mit zusätzlichen Erläuterungen versehen, sodass sich die Handlung im Krebsgang seitwärts oder rückwärts entwickelt - ohne jemals da anzukommen, wo sie hinwollte. Der Erzähler erfreut sich sichtlich seiner Abschweifungen. Das geht sogar so weit, dass er eine neue Abschweifung extra ankündigt und dann so lange darüber sinniert, bis er verblüfft feststellt, dass dies ja nun schon die Abschweifung war!

Interpretationsansätze

  • Als Hintergrund für Sternes Erzähltechnik dient der erkenntnistheoretische Essay Über den menschlichen Verstand (1690) des englischen Philosophen John Locke. Der Mitbegründer des Empirismus behauptete, dass die Seele des Menschen bei seiner Geburt eine Tabula rasa, also eine leere Tafel sei und dass sich aus Erfahrungen und Assoziationen neue Bewusstseinsinhalte formen ließen. Auf diese Erkenntnistheorie beruft sich Sterne explizit an mehreren Stellen im Roman und führt sie systematisch ad absurdum - indem er über den Abschweifungen die eigentliche Geschichte verdrängt.
  • Die Marotten der Figuren sind kein schmückendes Beiwerk, sondern wichtig für die Charakterisierung. So vermag beispielsweise Onkel Toby einer Unterhaltung nur dann zu folgen, wenn irgendwelche militärischen Begriffe darin vorkommen; er selbst benutzt solche ständig, sogar wenn es sich um Liebesdinge handelt. Die spleenigen Figuren sind vollkommen auf sich und ihre subjektive Welt bezogen.
  • Warum wurden die zeitgenössischen Leser von Sternes Absurdität nicht verwirrt? Sie besaßen eine Folie, auf die Sterne selbst mehrfach hingewiesen hat und mit deren Hilfe die Leser den Roman verstehen konnten: Cervantes' Don Quijote. Das Buch des spanischen Schriftstellers war zu Sternes Zeiten sehr beliebt, sodass die Leser keinerlei Probleme damit hatten, die Ereignisse im Roman einzuordnen: als humorvolle Don Quijoterien.
  • Sterne verschlüsselt die zahlreichen frivolen Anspielungen in seinem Roman auf raffinierte Weise: So besitzen das fortwährende Gerede über das "Steckenpferdreiten", Walters "Nasenkunde" und das eingestreute "Nasenmärchen" einen eindeutig sexuell-anzüglichen Charakter.

Historischer Hintergrund

Die englische Literatur zu Sternes Zeit

Literaturgeschichtlich wurde die Zeit zwischen 1744 und 1784 von dem klassizistischen Dichter Samuel Johnson geprägt, der den Literaturbetrieb seiner Zeit maßgeblich beeinflusste (und der auch Sternes Roman rezensierte - und verurteilte). Abgesehen von Johnson tendierte die Literatur bereits zur dichterischen Romantik. Das zeigt sich u. a. in den Romanen der drei wichtigsten Prosaschriftsteller der Zeit: Samuel Richardson, der den bürgerlichen Roman förderte, Henry Fielding mit seinem humorvoll-realistischen Stil und Tobias Smollet, der den Abenteuer- und Reiseroman aufleben ließ. Laurence Sterne wird von Literaturwissenschaftlern aber meist als wichtigster Romanautor dieser Epoche gesehen: Mit Tristram Shandy revolutionierte er die Romantechnik, indem er die durchgängige Handlungsstruktur zerstörte, mit der Erzählzeit frei umsprang und alle bestehenden Romankonventionen mit Füßen trat. Das zeigt sich schon am Titel: Statt "Leben und Abenteuer" seines Helden zu beschreiben - dieser Konvention folgten viele andere Schriftsteller - bot er dem Leser "Leben und Ansichten" seines Helden an: So öffnete er der freien Assoziation der Gedanken Tür und Tor. Sternes Erzählweise ist - bei allen derben und intelligenten Späßen - stellenweise rührselig und nähert sich deswegen dem Programm der Empfindsamkeit an, jener literarischen Richtung der Sentimentalität und des Gefühlsüberschwangs, deren Namensgeber ein weiteres Werk Sternes werden sollte: Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien (1768).

Entstehung

Im Alter von 45 Jahren begann Laurence Sterne mit der Arbeit an Tristram Shandy. Mit Hochdruck arbeitete er an dem Manuskript, das er im Mai 1759 dem Londoner Buchhändler und Verleger Robert Dodsley zum Verkauf anbot. Sterne beschrieb sein Buch als humoristisches Werk, das "den Schwächen der Wissenschaften" spotte. Dodsley reagierte jedoch nicht ganz so, wie Sterne es gewünscht hatte: Erstens schlug er vor, das Werk stilistisch vollkommen umzuschreiben. Zweitens, so scheint es, missfiel ihm der Inhalt, woraufhin Sterne das Buch mehreren "Testlesern" vorlegte. Einer von ihnen bemängelte die etwas leichtfertige und saloppe Art, in der Tristrams Erlebnisse geschildert werden. Diese Kritik nahm Sterne jedoch nicht an: Der Stil des Buches solle dem Verfasser ähneln und durch eine besondere Atmosphäre und Originalität wirken. Auch von seinen engsten Freunden musste sich Sterne Kritik am ersten Band gefallen lassen: Obwohl ziemlich hartgesotten, empfanden sie einzelne Passagen als zu derb und vulgär.

Im Herbst des Jahres 1759 wurde Sterne offensichtlich klar, dass er die Veröffentlichung nur mit eigenen Mitteln erreichen konnte. In York gab er eine Kleinauflage der ersten beiden Bände in Auftrag - die reißenden Absatz fand. Ermutigt durch diesen Erfolg, schmiedete der Autor ehrgeizige Pläne: Bis zu seinem Lebensende wollte er jedes Jahr zwei weitere Bände veröffentlichen. Im Januar 1761 folgten Band drei und vier, Dezember 1761 Band fünf und sechs, erst im Januar 1765 Band sieben und acht und im Januar 1767 Band neun. Den geplanten Band zehn konnte Sterne aus gesundheitlichen Gründen nicht vollenden.

Wirkungsgeschichte

Die Erstauflage der beiden ersten Bände fand einen rasanten Absatz - wohl wegen der sexuellen Anspielungen, die Sterne in seinem Roman verstreut hatte, aber auch wegen der revolutionären Erzählweise mit ihren ständigen Abschweifungen von der Haupthandlung. Bereits ein Jahr nach dem Erscheinen in England lag die erste (anonyme) deutsche Übersetzung vor. Natürlich machte sich Sterne mit der teilweise derben Sprache auch viele Feinde. Der zu seinen Lebzeiten einflussreiche Kritiker Samuel Johnson prophezeite dem Werk keinen anhaltenden Erfolg: "Erinnern Sie sich meiner Worte: Wie viel man auch derzeit davon spricht, so wird man, darauf können Sie sich verlassen, in zwanzig Jahren ein Antiquariat aufsuchen müssen, wenn man das bewusste Buch in seinen Besitz bringen möchte." Johnson sollte sich letztlich irren. Schriftsteller wie Denis Diderot, Christoph Martin Wieland und Jean Paul fühlten sich durch Tristram Shandy inspiriert. Auch Goethe lobte Sterne: "der schönste Geist, der je gewirkt hat; wer ihn liest, fühlt sich sogleich frei und schön; sein Humor ist unnachahmlich, und nicht jeder Humor befreit die Seele".

Nachdem Sternes Ruhm im 19. Jahrhundert verblasst war, erinnerte man sich seiner revolutionären Romantechnik im 20. Jahrhundert: Seine Art, Assoziationen und Gedanken der Titelfigur ungefiltert und ungeordnet auszusprechen, wurde von den Meistern des "stream of consciousness" James Joyce und Virginia Woolf aufgegriffen und perfektioniert. Woolf sagte über den englischen Schriftsteller: "Sternes Ideen sind so zwanglos, so unscheinbar, so privat, so entlegen, dass der Leser erstaunt ist und entzückt meinen muss, Schreiben sei doch leicht. Sogar seine Unanständigkeiten beeindrucken als eine besondere Art von Ehrlichkeit." Auch Samuel Becketts Theaterstück Warten auf Godot (1952) ähnelt in seinem radikal-absurden Versuch, eine Erwartung zu schaffen, deren Erfüllung nie eintritt, der Romankonzeption Sternes.

Über den Autor

Laurence Sterne wird am 24. November 1713 als Sohn eines englischen Militäroffiziers in Clonmel (Irland) geboren. Wegen seiner Intelligenz lassen ihn Verwandte ab 1733 an der Universität Cambridge Theologie studieren. 1738 wird er zum Pfarrer der anglikanischen Kirche geweiht. Die darauf folgenden 21 Jahre verbringt Sterne als Pfarrer und Domherr in Yorkshire. Nach seiner Hochzeit 1741 erhält er durch Verwandte seiner Frau eine zweite Pfarrei in Stillington. Während seiner Zeit als Pfarrer versteht es Sterne, Religiosität mit weltlicher Sinnenfreude zu verbinden. Mit anderen Worten: Zahlreiche Affären gehören zu seinem Liebesleben. 1759 veröffentlicht Sterne seine Kirchensatire A Political Romance sowie den ersten Band von The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Sterne revolutioniert mit seinem Tristram Shandy die Erzählweise von Romanen. Sein bissiger Humor voller schlüpfriger Anzüglichkeiten ist ein Spiegelbild seiner Lebensart. Es macht ihm nichts aus, auf der Kanzel in der Kirche über seine eigene missglückte Hochzeitsnacht zu debattieren, womit er sich nicht nur in seiner eigenen Familie viele Feinde macht. 1760 zieht er nach England, wo er sich in London niederlässt. Eine schlimme Tuberkuloseerkrankung kann seinen Lebenswillen nicht brechen. Die Sermons of Mr. Yorick (1760-1769), eine Sammlung seiner Predigten, werden von der Kritik gelobt - auch wenn überall gemunkelt wird, dass Sterne seinen guten Ruf als Geistlicher wiederherstellen wolle, nachdem er mit Tristram Shandy ein überaus anstößiges Buch veröffentlicht habe. Aus gesundheitlichen Gründen lebt Sterne 1762-1764 in Toulouse. 1765 unternimmt er jene Reise durch Frankreich und Italien, deren literarischer Bericht (A Sentimental Journey Through France and Italy, 1768) weltberühmt werden soll. Schon lange kränkelnd und getrennt von seiner Frau und Tochter, stirbt Sterne am 18. März 1768 in London.

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