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Der arme Mann im Tockenburg

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Der arme Mann im Tockenburg

Diogenes Verlag,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

Die Lebensgeschichte des Bauern, Tagelöhners und Soldaten wider Willen Ulrich Bräker ist ein anrührendes Buch von einzigartiger Originalität.

Literatur­klassiker

  • Autobiografie
  • Empfindsamkeit

Worum es geht

Ein lebenslanger Kampf gegen die Armut

Er wird in eine arme Familie hineingeboren, und noch im letzten Jahr seines Lebens muss er Konkurs anmelden: Ulrich Bräker. Seine in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts niedergeschriebene Lebensgeschichte Der arme Mann im Tockenburg ist das bewegende, innerhalb der deutschen Literatur wohl einzigartige Zeugnis eines Mannes, der ein Leben lang um eine bessere Existenz kämpft und sogar bereit ist, dafür seine schweizerische Heimat zu verlassen und in die Fremde zu gehen. Doch statt des erhofften materiellen Wohlstands erlebt er die Schinderei in der preußischen Armee und einen trotz seiner Kürze erschütternden Einsatz im Siebenjährigen Krieg. Nach Desertion und Rückkehr in die Heimat ist er so arm und verzweifelt wie zuvor, auf Phasen der finanziellen Besserung folgt immer wieder der erneute Absturz in die Misere. Bei seiner Frau stößt der schriftstellernde Bräker auf pures Unverständnis, zwei seiner Kinder werden von einer Seuche dahingerafft. Einzig Lesen und Schreiben eröffnen ihm eine Gegenwelt und verschaffen ihm etwas Erleichterung. Der lange Zeit als unbeholfen und amateurhaft belächelte Lebensroman des Toggenburger Bauern ist eines der originellsten, erfrischendsten und zugleich bewegendsten Werke der deutschen Literatur. Seine Stellung als Klassiker ist heute unbestritten.

Take-aways

  • Ulrich Bräkers Autobiographie ist eines der ersten Zeugnisse der deutschen Literatur, in denen das Leben der armen Landbevölkerung von einem Betroffenen geschildert wird.
  • Schon als Kind muss Ulrich im schweizerischen Toggenburg harte Arbeit verrichten, zunächst als Ziegenhirte, dann als Knecht und Tagelöhner.
  • Sein Vater ist derart verschuldet, dass er weder ein noch aus weiß und seinen Hof irgendwann verkaufen muss.
  • Ein Bekannter nimmt den jungen Ulrich in die Fremde mit, doch ist er nicht an dessen Wohl interessiert, sondern liefert ihn den preußischen Rekrutierungsoffizieren aus.
  • Nach einer beschwerlichen Reise durch ganz Deutschland gelangt Ulrich nach Berlin, wo er zwangsweise in die Armee eingezogen wird.
  • Nach einer unmenschlich harten Ausbildung nutzt Ulrich das durch die Schlacht von Lobositz heraufbeschworene Chaos, um zu desertieren.
  • Es gelingt ihm, sich in die Heimat durchzuschlagen, doch muss er dort das elende Leben in Schulden und Armut wieder aufnehmen.
  • Während seine Jugendliebe einen anderen geehelicht hat, heiratet Ulrich eine zwar tüchtige, seinen literarischen Ambitionen aber verständnislos gegenüberstehende Frau.
  • Zu jener Zeit begründete Friedrich der Große, der bedeutendste Vertreter des aufgeklärten Absolutismus in Europa, die Stellung Preußens als europäische Großmacht.
  • Das in der Schweiz vorherrschende Bild der preußischen Armee als gnadenlose Zuchtmaschinerie ist wesentlich durch Bräkers Lebenserinnerungen geprägt.
  • Bräkers Sprache lehnt sich eng an das Schweizerdeutsche an, oft sind einzelne Wörter oder sogar ganze Sätze im Dialekt wiedergegeben.
  • Das Buch fand beim zeitgenössischen Publikum großen Anklang, geriet dann in Vergessenheit und etablierte sich erst im 20. Jahrhundert als Klassiker.

Zusammenfassung

Geboren kurz vor Weihnachten

Ulrich Bräker wird am 22. Dezember 1735 in einem armen Dorf in der schweizerischen Region Toggenburg geboren, am Weihnachtstag findet in Wattwil die Taufe statt. Die Bauernfamilie Bräker ist seit Generationen arm. Kaum trägt Ulrich die ersten Hosen, nimmt ihn sein Vater zum Salpeterbrennen mit, wobei der Junge ein erstes Mal in Lebensgefahr gerät: Er will einen Bach überqueren und wird beinahe vom Wasser mitgerissen. Ulrichs strenger, aber gerechter und im Grunde gutmütiger Vater kauft sich in der Gemeinde Krynau das kleine Gut Dreyschlatt. Dafür stürzt er sich in Schulden, die ihm 13 Jahre lang ein Leben in Not und Armut aufzwingen. Alle zwei Jahre hat die Familie Nachwuchs, und so muss Ulrich schon bald sein unbeschwertes Bubenleben aufgeben, um als Geißhirte zu arbeiten. Obwohl der Alltag streng und ermüdend ist, genießt er die Unabgängigkeit von seinem Vater und das Zusammensein mit anderen Hirten; allerdings stürzen ihn deren Zoten oft in peinliche Verwirrung. Nach ein paar Jahren ist Ulrich groß genug, um seinem Vater als Knecht zur Hand zu gehen, was aber derart mühselig ist, dass er ab und zu in Versuchung gerät, sich heimlich aus dem Staub zu machen. Allmählich erwacht sein Interesse an der Lektüre, er verschlingt die Bibel und andere religiöse Literatur und wird vom Pfarrer unterrichtet.

Der erste Kuss

Die Schuldenlast wird für die mittlerweile zehnköpfige Familie so drückend, dass der Vater trotz der erstaunlichen Geduld seiner zahlreichen Gläubiger das Gut Dreyschlatt verkaufen muss. Die Bräkers ziehen im Winter mit ihrem kärglichen Hausrat auf Schlitten an ihren neuen Wohnort, wo Ulrich schwer erkrankt und beinahe stirbt. Nach seiner Genesung gesteht ihm der Vater, dass er sich nicht unglücklich geschätzt hätte, wenn der Junge aus dem Leben geschieden wäre, denn die Haushaltung sei überladen, und es falle ihm von Tag zu Tag schwerer, so viele Münder zu stopfen. Während die kleineren Kinder nun zur Linderung der Not spinnen müssen, arbeitet Ulrich als Knecht bei einem Bauer. In seinem 20. Lebensjahr verliebt er sich in Ännchen, die Stieftochter der Nachbarsfamilie. Obwohl seine Zuneigung erwidert wird, erweisen sich die Schüchternheit und die Armut des jungen Burschen als Hindernisse. Außerdem sieht der Vater die sich anbahnende Beziehung äußerst ungern; schließlich sei Ännchens Stiefvater ein leichtsinniger Branntweinwirt. Einzig die guten Worte seiner Frau halten den Vater davon ab, der Liebelei seines Sohnes mit handfesten Mitteln ein Ende zu setzen. Nach längerem Getändel kommt es zwischen den beiden Verliebten jedenfalls zum ersten Kuss, und Ulrich hält sich für den glücklichsten Menschen der Welt.

„Mein Vater war sein Tage ein armer Mann; auch meine ganze Freundschaft hatte keinen reichen Mann aufzuweisen.“ (S. 43)

Im Herbst des Jahres 1755 überzeugt ein Bekannter namens Laurenz Ulrichs Vater, seinen Sohn mit in die Fremde zu nehmen, in der Hoffnung, er werde dort zu Reichtum kommen und nach seiner Rückkehr die Familie aus ihrer wirtschaftlichen Not befreien können. Unter Tränen verabschiedet sich Ulrich von Ännchen, wobei sich die beiden ewige Liebe und Treue schwören. In Schaffhausen verhökert Laurenz den Burschen an einen preußischen Offizier namens Markoni, der Rekruten für die Armee anheuert. Markoni verspricht Ulrich jedoch hoch und heilig, dass er nicht Soldat werden müsse, sondern als sein persönlicher Diener arbeiten könne. Er behandelt ihn gut und wird lediglich zweimal wütend: Einmal, als Ulrich das Halsband von Markonis Pudel nicht auf der Stelle findet, ein andermal, als er einen Spiegel zerbrochen haben soll. Inzwischen geht im Toggenburg das Gerücht um, Ulrich sei als Matrose aufs Meer verkauft worden, was den Vater zu einem überraschenden und emotionalen Besuch in Schaffhausen veranlasst. Kurz darauf macht sich Markoni zusammen mit Ulrich auf den Weg ins süddeutsche Städtchen Rottweil, wo sich der preußische Offizier dem süßen Leben hingibt: Gelage, Musik, Tanz, Wirtshausbesuche. Auch Ulrich erlebt eine vergnügliche Zeit. Obwohl er seinem Ännchen treu bleibt, schäkert er hin und wieder mit einer Wirtshaustochter. Eine Köchin namens Mariane verliebt sich sogar heftig in ihn, während er in Leidenschaft für deren ebenfalls kochende Kollegin entflammt. Erst als er merkt, dass sich die Angebetete jeweils heimlich in Markonis Zimmer schleicht, verwandelt sich sein Gefühl in tiefe Abneigung. Sein Herr hat nicht nur für Wein, Essen und ausgiebiges Feiern eine Schwäche, sondern auch für Frauen. Nur Rekruten für das preußische Heer gewinnt Markoni keine, und irgendwann geht ihm das Geld aus.

Eine böse Überraschung

Im März 1756 reist Ulrich in Begleitung einiger Rekrutenanwerber nach Berlin, sein Herr macht sich allein auf den Weg. Die Reise ist lang und beschwerlich, die Straßen und Wege sind mit Schnee oder Dreck bedeckt, täglich muss die Gruppe stundenlange Fußmärsche bewältigen. In Berlin angekommen, fragt der junge Schweizer nach seinem Herrn. Dieser ist zwar bereits seit mehr als einer Woche in der Stadt angekommen, bleibt jedoch unauffindbar. Zunächst erfüllen die Größe und Geschäftigkeit der Stadt den Neuankömmling mit der Illusion, seinem Leben eine entscheidende Wende geben, Geld verdienen und irgendwann Familie und Geliebte nachkommen lassen zu können. Stattdessen erlebt Ulrich eine böse Überraschung: Plötzlich tritt ein Feldwebel der preußischen Armee in sein Zimmer und überreicht ihm eine Uniform. Der Bauernbursche beteuert, dass er kein Soldat sei, sondern Markonis Bedienter, doch das nützt ihm nichts: Sein Herr hat ihn ans Heer verkauft. Als Ulrich gegen seine Zwangseinberufung protestiert, wird er aufs Übelste heruntergeputzt.

„Oft streckt’ ich mich vor Mattigkeit, und fast zerschmolzen von Schweiß, der Länge nach auf dem Boden und dachte: Ob’s wohl auch in der Welt überall so mühselig zugehe?“ (S. 79)

Dem Weltenbummler aus dem Toggenburg bleibt nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen, denn andernfalls droht ihm Gefängnis. Das Soldatenleben ist hart: Der Sold ist kärglich, die Ausbildung streng, wegen jeder Kleinigkeit werden die Soldaten von ihren Vorgesetzten verprügelt. Zu seinem Trost lernt Ulrich drei Landsleute kennen. Schließlich findet er heraus, wo sein ehemaliger Herr Markoni lebt, und nimmt sich vor, dem Verräter eine Abreibung zu verpassen. Doch dieser überrumpelt ihn mit seiner Freundlichkeit und seinen Entschuldigungen: Es sei ihm aus Geldnot nichts anderes übrig geblieben, als Ulrich der Armee zu überlassen. Gemeinsam mit den anderen Schweizer Soldaten schmiedet der Toggenburger Pläne für die Flucht. Als er jedoch miterlebt, wie aufgegriffene Deserteure "Spießruten laufen müssen" - d. h. grausam verprügelt werden -, verlässt ihn der Mut. Nach und nach verscherbelt Ulrich all seine Habe, das strenge Soldatenleben und die immer drückender werdende Armut lassen ihn in Depressionen versinken. Tagsüber muss er in seiner engen Montur stundenlang strammstehen oder marschierend blitzschnell Handgriffe an seiner Waffe vornehmen, wobei die wütenden Offiziere beim geringsten Fehler mit Stöcken auf ihn einzuprügeln drohen. Nach der Rückkehr in die Kaserne wird den Soldaten befohlen, ihr Gewehr, die Patronentasche und jeden Knopf der Uniform blitzblank zu putzen. Nachts wird Ulrich von Heimweh geplagt, weinend schaut er den Mond an und klagt ihm sein Leid.

Ein grausames Gemetzel

Die häufigen Manöver deuten darauf hin, dass es bald in den Krieg geht. Tatsächlich wird Ulrich in ein Regiment beordert, das kurz darauf Berlin verlässt und nach Osten marschiert. Die oft nächtlichen Märsche sind lang und anstrengend, die hungrigen Soldaten werden jeweils bei Bauern einquartiert, die sie bis aufs Blut aussaugen. Schließlich schlägt das Regiment bei Pirna für mehrere Tage ein großes Feldlager auf. Abgesehen von den Wachen ist den Soldaten nun ausnahmsweise etwas Müßiggang erlaubt: Sie kegeln, spielen, kochen, schnitzen und gehen innerhalb und außerhalb des Lagers spazieren. Doch die Ruhe ist von kurzer Dauer, denn in der Nähe des Städtchens Lobositz kommt es zu einer großen Schlacht gegen die sächsische Armee. Als Ulrich zum ersten Mal das Donnern der feindlichen Artillerie hört, würde er sich am liebsten unter der Erde verkriechen. Auch seine Kameraden erstarren in Totenblässe. Der Kampf entwickelt sich zu einem entsetzlichen Gemetzel, bei dem die verwundet am Boden liegenden Gegner mit Kolbenhieben oder Bajonettstichen getötet werden. Wie durch ein Wunder bleibt der junge Schweizer unverletzt. Er verschießt während des Kampfes zwar seine ganze Munition, glaubt jedoch nicht, irgendjemand getroffen zu haben.

„Ich bin in meinen Kinderjahren nur wenige Wochen in die Schule gegangen; bey Haus hingegen mangelte es mir gar nicht an Lust, mich in mancherley unterweisen zu lassen.“ (S. 81)

Ulrich nützt das blutige Getümmel, um zu fliehen. Er läuft als Deserteur zum Feind über. Die Sachsen behandeln ihn gut und stellen ihm sogar einen Pass aus, damit er in die Schweiz zurückkehren kann. Nach einem kurzen Aufenthalt in Prag tritt er schließlich zu Fuß die Heimreise an, wobei er in Begleitung seines ehemaligen Kameraden Bachmann Bayern durchquert und nach drei Wochen Rheineck in der Ostschweiz erreicht. Bachmann gibt sich als großer Jäger aus, weswegen ihn Ulrich verspottet. Dies macht Bachmann derart wütend, dass er seinen Reisegefährten kurz vor dem Ziel beinahe erschießt. Ulrich gelingt es zwar, die Situation durch ein paar beruhigende Worte zu entschärfen, doch ist das einstige Vertrauen zwischen den beiden Weggefährten ein für alle Mal zerstört. Eilig und mit Tränen in den Augen marschiert Ulrich weiter nach Wattwil. Am Eingang des Städtchens erfährt er von einem Bekannten, dass sein geliebtes Ännchen seinen Vetter geheiratet hat und bereits Mutter ist. Ulrich ist bis ins Mark erschüttert, lässt sich jedoch nichts anmerken. Seine eigene Familie erkennt ihn zunächst nicht, bricht dann aber in lautes Freudengeschrei aus. An den folgenden Abenden erzählt der Heimkehrer ausführlich seine Geschichte. Mit Ännchen kommt es zu einem kurzen, frostigen Wiedersehen. Die junge Frau entschuldigt sich und sagt, sie habe nicht mehr an Ulrichs Rückkehr geglaubt und sich von ihrem jetzigen Ehemann übertölpeln lassen. Der Betrogene gibt sich ungerührt, verabschiedet sich und geht.

Alles bleibt beim Alten

Nun muss der Heimkehrer wieder als Salpetersieder arbeiten, denn die Armut der Familie ist nach wie vor groß. Hin und wieder denkt er trotz aller erlittenen Entbehrungen mit Wehmut an sein Soldatenleben zurück, ja er erwägt sogar, aufs Neue auszuwandern. Stattdessen sieht er sich aber nach einer Frau um, wobei ihm zunächst keine auch nur annähernd so gut gefällt wie einst das Ännchen - mit Ausnahme eines Mädchens namens Käthchen, das in Herisau lebt und mit dem er sich auf eine kurze Liebesbeziehung einlässt. Außerdem beginnt er, Baumwollgarn zu verkaufen. Eines Tages erblickt er eine junge Schöne mit einem "Amazonengesicht", um die er vorsichtig zu werben beginnt. Nach längerem Zaudern zeigt die Umworbene zwar Interesse, stellt jedoch zahlreiche Bedingungen - u. a. soll Ulrich zuerst ein Haus bauen, denn eine Wohnung sei zu wenig. Dieser leidet nicht nur an einer schweren Krankheit, sondern verschuldet sich auch noch - genauso wie früher sein Vater. Obwohl ihm beinahe das Baumaterial ausgeht, bringt er es fertig, seinen eigenen Hausstand zu gründen. Seine Ehefrau ist gebieterisch und bringt ihrem Mann wenig Verständnis entgegen; die Ehe wird immer wieder von Krisen geschüttelt, hält aber. Im Jahr 1762 stirbt der Vater, weshalb Ulrich die Verantwortung für vier minderjährige Brüder übernehmen muss. Außerdem kommt bald sein erster Sohn zur Welt. Der Baumwollhandel bringt zwar phasenweise etwas Geld ein, doch ist Ulrich zu gutmütig und leichtgläubig, um seine Geldnot dauerhaft überwinden zu können. Immer wieder schmiedet er Pläne und gibt sich Phantasien hin; seine Familie wird ständig kinderreicher, die Jahre vergehen. Ulrich gibt die Hoffnung auf ein besseres Leben auch dann nicht auf, als durch mehrere aufeinander folgende Missernten eine grosse Wirtschaftskrise über das Land hereinbricht und er seine Familie kaum noch ernähren kann.

Flucht in die Literatur

Einzig die Lektüre und das Schreiben, von seiner Frau als unnütze Zeitverschwendung verurteilt, trösten ihn ein wenig. Zu allem Übel sterben auch noch die beiden erstgeborenen Kinder an der Ruhr. Ulrich erkrankt ebenfalls schwer, doch die Hoffnung, Gott möge ihn von seiner mühseligen Existenz erlösen, erfüllt sich nicht. Ulrich freundet sich mit einem Mitglied einer Kulturinstitution namens "Moralische Gesellschaft" an. Für eine von ihm verfasste Erzählung erhält er ein Preisgeld von einem Dukaten. Er tritt der Vereinigung bei und verschafft sich auf diese Weise endgültig Zugang zur Welt der Bücher - auch wenn ihn seine Ehefrau mit Vorwürfen überschüttet. Mehrmals kommt Ulrich in Versuchung, Selbstmord zu begehen oder sich einfach aus dem Staub zu machen, doch das Gefühl der Verantwortung für seine Familie hält ihn davon ab. Eines Nachts verfasst er einen Bittbrief an den Pfarrer und Schriftsteller Johann Caspar Lavater; am anderen Tage schämt er sich allerdings, ihn abzuschicken. Mit dem Weben von Baumwolltüchern gelingt es Ulrich nach und nach, die gröbste Not zu überwinden. Im Lauf der Jahre bringt er es sogar zu bescheidenem Wohlstand, den eine neuerliche Wirtschaftskrise zwar zu gefährden, aber nicht definitiv zu zerstören vermag. Ulrich geht es nun ganz passabel, seine Kinder wachsen heran, die Ehe ist zwar nicht wirklich glücklich, aber dauerhaft; hin und wieder findet er Zeit zum Lesen und Schreiben. Er führt nun zumindest äußerlich ein Leben alltäglicher Zufriedenheit, hinter dieser Fassade kämpft er aber immer wieder gegen seine Leidenschaft und seine Phantasie an, die ihn stets daran denken lassen, dass jenseits der Toggenburger Grenzen vielleicht ein größeres, bedeutsameres Leben möglich gewesen wäre.

Zum Text

Aufbau und Stil

Ulrich Bräkers Der arme Mann im Tockenburg ist eine Autobiographie, die mit der Geburt des Helden einsetzt und in chronologischer Reihenfolge dessen Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben erzählt. Anfang und Ende des Buches spielen in der Ostschweizer Region Toggenburg, im Mittelteil werden Ulrichs Abenteuer im Dienste der preußischen Armee geschildert. Auf den letzten 50 Seiten zieht der Autor eine Lebensbilanz, in der er seine charakterlichen Vorzüge und Fehler darlegt, sich und sein Buch gegen etwaige Vorwürfe verteidigt und seinen Kindern Ermahnungen erteilt. Stellenweise wirkt Bräkers Sprache, die von zahlreichen mundartlichen Wendungen durchzogen ist, zwar etwas unbeholfen, aber sie ist auch ungekünstelt, realistisch und direkt. Der Autor ist ein hervorragender Beobachter, seine Figuren sind mit großer psychologischer Tiefe gezeichnet. Die Beschreibungen der Armut und des harten Lebens in den Diensten der preußischen Armee gleiten niemals ins Sentimentale ab, sondern bestechen durch ihren Detailreichtum und ihre Nüchternheit. Gleichzeitig ist Bräkers Stil durch einen trocken-zurückhaltenden Humor geprägt, der den Schriftsteller auch verwerflich handelnde Figuren mit einem gewissen Verständnis schildern lässt. An keiner Stelle schwingt er sich zum Richter über andere auf.

Interpretationsansätze

  • Bräkers Werk besticht durch die realistische Schilderung bäuerlicher Armut im 18. Jahrhundert. Die materielle Not lässt sich auch durch Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit und Familiensinn nicht überwinden. Armut erscheint als Normalzustand der Existenz.
  • Der Ich-Erzähler Bräker ist eine innerlich zerrissene Figur, die ein Leben lang vergeblich um ihre Identität ringt. Das Lesen und Schreiben sowie die geistige Welt bieten zwar einen Fluchtraum vor den alltäglichen Widrigkeiten, entfremden den Helden jedoch zugleich von seiner sozialen Umgebung, ja sogar von seiner eigenen Familie.
  • Die Wahrnehmung der toggenburgischen Heimat ist ebenfalls von tiefer Widersprüchlichkeit geprägt: Zum einen ist es das geliebte, landschaftlich idyllische, Vertrautheit bietende Zuhause. Zum anderen ist es eine Scholle, die den Einzelnen unerbittlich an sich kettet und ihn an seiner individuellen Entfaltung hindert.
  • Bräkers Lebenserzählung hat eine Zirkelstruktur. Die Hoffnung darauf, sich nach dem mutigen Schritt in die Fremde dort mit Glück und Tatkraft eine bessere Existenz aufbauen zu können, erweist sich als trügerisch: Nach seiner Rückkehr findet sich der Erzähler in derselben verzweifelten Situation wieder, die ihn zum Aufbruch veranlasste.
  • Die bittere Realität triumphiert über jedes Ideal, nicht nur im ökonomischen, sondern auch im amourösen Bereich: Die beiden wahrhaft glücklichen Liebesbeziehungen im Leben des Helden haben keinen Bestand, während seine langjährige Ehe unglücklich ist. Eine Erlösung aus dieser Situation oder wenigstens eine Linderung bleibt ihm versagt.
  • Die Schilderung der unmenschlichen Abrichtungspraktiken in der preußischen Armee und die Beschreibung der grausamen Schlacht bei Lobositz sind eine von unten, aus Soldatensicht formulierte harsche Kritik an Militarismus, Expansionspolitik und Kadavergehorsam.

Historischer Hintergrund

Friedrich der Große und der Siebenjährige Krieg

Friedrich II. von Preußen, in dessen Armee Ulrich Bräker zwangsweise diente, gilt als bedeutender Herrscher des aufgeklärten Absolutismus im Europa des 18. Jahrhunderts. Im Unterschied zu seinem Vater, dem "Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm I., begeisterte er sich für Kunst, Literatur und Musik und vertrat ein aufgeklärtes Ideal der Humanität. Nachdem Friedrich II. im Jahr 1740 den Thron bestiegen hatte, wandte er sich zumindest teilweise von seinen humanistischen Idealen ab und begann, die politische und militärische Macht Preußens mit allen Mitteln auszubauen. Dies brachte ihn in einen Dauerkonflikt mit Österreich, das von Kaiserin Maria Theresia regiert wurde und von dem Friedrich die Abtretung Schlesiens forderte. Sowohl im Ersten als auch im Zweiten Schlesischen Krieg erwies sich der preußische König als hochbegabter Feldherr, sodass Österreich das umstrittene Gebiet abtreten musste. Die anhaltende Rivalität zwischen den beiden Mächten löste im Jahr 1756 den Siebenjährigen Krieg aus, in dem Preußen eine mächtige, aus Österreich, Russland, Schweden, Sachsen und Frankreich bestehende Koalition gegenüberstand. Friedrich II. zeigte sich abermals als herausragender Feldherr, doch geriet seine Armee nach wechselvollem Kriegsverlauf angesichts der zahlenmäßigen Übermacht seiner Gegner in eine zunehmend verzweifelte Lage. Die Tatsache, dass Russland aus der gegnerischen Koalition austrat, war Preußens Rettung. Dank des 1763 geschlossenen Friedens von Hubertusburg konnte Friedrich II. Schlesien endgültig behalten. Doch Friedrich II. war nicht nur ein erfolgreicher Militärstratege, sondern auch ein großer Förderer von Kunst und Wissenschaft mit einer entschiedenen Vorliebe für Frankreich. Nach seiner Machtergreifung lud er z. B. Voltaire an die Preußische Akademie der Wissenschaften ein, in Potsdam ließ Friedrich Schloss Sanssouci errichten.

Entstehung

Ab 1768 führte Ulrich Bräker mit eiserner Disziplin Tagebuch. Im Verlaufe von 30 Jahren entstanden mehr als 4000 Seiten Aufzeichnungen, die der Autor in der für ihn typischen Neigung zur Selbstunterschätzung als "zusammengeflickte Kritzeleien", "Hirngeburten" und "kuderwelsche Papiere" bezeichnete. Das umfangreiche Tagebuchmaterial diente ihm als Ausgangsbasis für die Lebenserinnerungen, die Bräker zwischen 1781 und 1785 niederschrieb. Obwohl er dem Vorbild der im 18. Jahrhundert verbreiteten Bekenntnisliteratur und dem damit verbundenen Hang zur Selbstanalyse folgte, schuf er ein Werk von einzigartiger Originalität. Zur Zeit der Niederschrift war der Toggenburger Bauer bereits ein belesener Mann: Er kannte beispielsweise Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente, Goethes Die Leiden des jungen Werther, Rousseaus Bekenntnisse sowie den autobiographischen Roman Anton Reiser von Karl Philipp Moritz.

Wirkungsgeschichte

Der arme Mann im Tockenburg wurde zunächst in der Zeitschrift Schweizer Museum und im Jahr 1789 als Buch veröffentlicht. Das Werk fand beim zeitgenössischen Publikum großen Anklang, was Bräker dazu ermunterte, 1793 auch einen Teil seiner Tagebücher zu veröffentlichen. Diese stießen jedoch bei der Kritik auf Ablehnung und bei den Lesern auf Interesselosigkeit, wonach der Verleger die Publikation einstellte. Für Bräker bedeutete das Erscheinen seiner Autobiographie, dass er selbst in seinem engsten Freundes- und Familienkreis als verschrobener Sonderling dastand, der die Zeit mit unnützen Phantastereien vergeudete. Die Stellung als publizierender Schriftsteller blieb somit in Bräkers Leben eine Episode.

In den folgenden Jahrhunderten geriet sein Buch weitgehend in Vergessenheit, oder es wurde allenfalls noch als unbeholfenes folkloristisches Elaborat eines Möchtegernschriftstellers wahrgenommen. Bezeichnend für diese Haltung ist die Kritik des Schweizer Literaturprofessors Jakob Baechtold, die 1882 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien: "Redliches Wollen fehlte ihm nicht, aber dem Können waren unüberwindliche Schranken gesetzt." Allerdings gibt es auch vereinzelte frühe Stimmen, die die Originalität des Schweizer Autors rühmen. Für Hugo von Hofmannsthal z. B. war Bräkers Autobiographie "ein wunderschönes Buch, weil es aus dem Volk heraus geschrieben ist", und "ein Gegenstück zu Goethes Beschreibung seines eigenen Lebens".

Großen Anteil an der Wiederentdeckung Bräkers im 20. Jahrhundert hatte der deutsche Germanist Hans Mayer, der dem Toggenburger eine "einzigartige Stellung als wohl erstem plebejischen Schriftsteller in der Literatur des 18. Jahrhunderts Deutschlands" zuerkannte. Das in der Schweiz vorherrschende Bild der preußischen Armee wurde wesentlich von Bräkers Schilderungen geprägt. Die Schlacht bei Lobositz, ein Theaterstück des DDR-Autors Peter Hacks, beruht auf Bräkers Schilderungen. Im Jahr 1998 erschienen zum 200. Todestag des Schriftstellers dessen gesammelte Schriften; damit wurden die Tagebücher erstmals in vollem Umfang dem Publikum zugänglich gemacht.

Über den Autor

Ulrich Bräker wird am 22. Dezember 1735 als Sohn eines armen Kleinbauern, Tagelöhners und Salpetersieders in Näbis im ostschweizerischen Toggenburg geboren. Schon in früher Kindheit muss er arbeiten, um einen Beitrag zum Unterhalt der Großfamilie zu leisten. Für die Schule bleibt wenig Zeit, doch liest der junge Ulrich unter Anleitung seines Vaters und des Dorfpfarrers die Bibel und andere religiöse Schriften. Entscheidend für Bräkers Leben sind zwei Wendepunkte: 1755 wird er als Söldner für das preußische Heer angeworben, wonach er im Siebenjährigen Krieg an der Schlacht von Lobositz teilnimmt und desertiert. Die in seinen Lebenserinnerungen aufgestellte Behauptung, er sei in Schaffhausen nichts ahnend in die Fänge von Rekrutenanwerbern geraten, wird allerdings heute von den Historikern angezweifelt, denn die Stadt sei damals in der ganzen Schweiz als Hochburg von Rekrutierungen bekannt gewesen. Das zweite für Bräkers Existenz bedeutsame Ereignis fällt ins Jahr 1776: Die Lichtensteiger "Moralische Gesellschaft" veranstaltet einen Aufsatzwettbewerb, bei dem Bräker einen Preis gewinnt. Danach wird er Mitglied dieser exklusiven bürgerlichen Vereinigung von Ärzten, Pfarrern, höheren Beamten, Lehrern und Fabrikanten, womit er auch Zugang zu einer großen Bibliothek erhält. Außerdem lernt er prominente Persönlichkeiten wie Lavater und seinen späteren Verleger Füssli kennen. In seiner spärlichen Freizeit liest und schreibt Bräker unablässig, wobei er allmählich von seinen konventionell-religiösen Vorstellungen abrückt und sich zu einem kritischen, aufgeklärten Geist entwickelt. Bräkers 1761 geschlossene Ehe ist unglücklich, vor allem, weil seine dominante Gattin die literarischen Ambitionen ihres Mannes ablehnt. Bräkers Alltag ist auch nach seiner Rückkehr aus Preußen voller Sorgen und Not: Armut, Schulden, der Tod des Vaters und zweier Kinder. Obwohl er es als Tuchhändler zeitweise zu bescheidenem Wohlstand bringt, holt ihn die Armut immer wieder ein. Noch kurz vor seinem Tod am 11. September 1798 muss er sich bankrott erklären. Neben den Lebenserinnerungen umfasst Bräkers Werk tausende Tagebuchseiten, ein Theaterstück sowie einen Roman. Bekannt geworden sind ferner seine Zusammenfassungen und Würdigungen von William Shakespeares Schauspielen.

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