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Archäologie des Wissens

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Archäologie des Wissens

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Michel Foucaults methodologisches Hauptwerk − ein radikaler Bruch mit der traditionellen Ideengeschichte.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Gegenwart

Worum es geht

Die Abschaffung des Subjekts

Michel Foucaults Abhandlung Archäologie des Wissens rief nach ihrem Erscheinen 1969 sowohl Begeisterung als auch Ablehnung hervor. Das Werk ist das einzige des französischen Poststrukturalisten, in dem er ausführlich seine Methode darlegt. Gleich zu Beginn grenzt Foucault sich von der traditionellen Ideengeschichte ab, von ihrer teleologischen Ausrichtung und ihren Kategorien wie „Epoche“, „Werk“, „Tradition“ oder „Autor“. Stattdessen, so Foucault, seien Texte als Teil von Diskursen zu sehen und auf die Arten und Regeln diskursiver Praktiken zu untersuchen, die in ihnen zum Vorschein kommen. So könnten Brüche und Diskontinuitäten erkannt werden. Nur indem man eine Aussage von vorgefertigten Mustern befreit, so Foucault, lassen sich tatsächliche, neue Beziehungen innerhalb eines Diskurses erkennen. Mit ironischem Gestus weist er auf die Grenzen des abendländischen Vernunftdenkens und die Selbstüberhöhung des bürgerlichen, vermeintlich souveränen Subjekts hin. Das brachte ihm den Vorwurf ein, er verfolge eine antiaufklärerische, antiemanzipatorische Stoßrichtung. Ein hochabstraktes Werk, an dem sich bis heute die Geister scheiden. 

Take-aways

  • Archäologie des Wissens ist eine wichtige Studie des poststrukturalistischen Philosophen Michel Foucault.
  • Inhalt: Die neue Ideengeschichte hat sich von Kategorien wie „Werk“, „Autor“, „Epoche“ oder „Mentalität“ befreit. Sie untersucht nicht, was jemand mit einem Text ausdrücken wollte oder in welcher Tradition der Text steht, sondern welche Arten und Regeln diskursiver Praktiken darin zum Vorschein kommen.
  • Foucault vollzieht in Archäologie des Wissens eine radikale Trennung zwischen Begriffen, Ideen und Idealen.
  • Der Autor entwickelte seine Methode unter dem Einfluss der französischen École des Annales.
  • Er nutzt in Archäologie des Wissens zwar strukturalistische Methoden, grenzt sich aber zugleich vom Strukturalismus ab.
  • Sein Stil ist hochabstrakt, doch teils auch poetisch und voller Metaphern.
  • Als Verehrer Friedrich Nietzsches und Georges Batailles kritisiert Foucault in seinem Buch die negativen Aspekte der Aufklärung.
  • In Frankreich wurde Archäologie des Wissens gefeiert, in Deutschland dagegen eher zurückhaltend aufgenommen.
  • Bis heute übt das Buch großen Einfluss vor allem auf die Literatur- und Sozialwissenschaften aus.
  • Zitat: „Man muss jene dunklen Formen und Kräfte aufstöbern, mit denen man gewöhnlich die Diskurse der Menschen miteinander verbindet.“

Zusammenfassung

Der Wandel der Geschichtsschreibung

Seit einigen Jahrzehnten untersucht die Geschichtsschreibung vorzugsweise lange Zeiträume. Dazu bedient sie sich wirtschaftlicher Modelle, analysiert Warenströme, Bevölkerungszahlen, Klimaschwankungen, soziologische und technische Entwicklungen. Sie operiert mit Theorien, Modellen, Texten und Begriffen. Dabei stellt sich allerdings die Frage, nach welchen Kriterien diese Einheiten überhaupt festgelegt und gegeneinander abgegrenzt werden. Während früher gefragt wurde, ob ein Dokument authentische und wahre Informationen liefere, gehen Historiker heute anders an Zeugnisse vergangener Zeiten heran. Sie untersuchen sie nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin und interpretieren sie nicht, um die Vergangenheit zu rekonstruieren, sondern zerlegen und ordnen ihre Elemente, um wie Archäologen verschiedene Schichten freizulegen.

„Das Dokument ist nicht das glückliche Instrument einer Geschichte, die in sich selbst und mit vollem Recht Gedächtnis ist; die Geschichte ist eine bestimmte Art für eine Gesellschaft, einer dokumentarischen Masse, von der sie sich nicht trennt, Gesetz und Ausarbeitung zu geben.“ (S. 15)

Während die klassische Historiografie die Kontinuität der Ereignisse betonte, sind in der neuen Geschichtsschreibung die Diskontinuität, der Bruch, die Transformation zu zentralen Prinzipien historischer Analyse geworden. Zudem richtet sich der Blick des Historikers weg von einer globalen, allgemeinen Geschichte und hin zu kleineren zeitlichen und thematischen Ausschnitten. Allerdings werden nicht einfach die verschiedenen Geschichten  etwa die der Wirtschaft, der staatlichen Institutionen, der Religionen  nebeneinandergestellt, sondern es werden systematisch Bezüge zwischen ihnen hergestellt.

Die neue Geschichtsschreibung hat sich befreit von der Frage nach dem Sinn von Geschichte, von der die klassische Historiografie beherrscht war. Sie überschneidet sich mit anderen Forschungsgebieten wie Linguistik, Ethnologie, Psychologie oder Literaturwissenschaft. Sie widersetzt sich allen Grenzziehungen und zeichnet sich durch dynamische Offenheit aus.

Die Befreiung von vorgefertigten Kategorien

Um die Geschichte des Denkens zu erforschen, muss man sich zunächst einmal von alten Begriffen trennen: „Tradition“, „Einfluss“, „Entwicklung“ oder „Geist“ sind künstliche Einheiten, mit denen wir versuchen, früheren Diskursen Kontinuität, Kohärenz und Sinn zu verleihen. Kategorien wie „Literatur“ oder „Politik“ hatten in früheren Jahrhunderten noch keine Bedeutung. Dennoch analysieren wir Texte aus jener Zeit mit solchen Kategorien, wir stülpen sie ihnen gewissermaßen über, ohne sie zu problematisieren.

„Man muss jene dunklen Formen und Kräfte aufstöbern, mit denen man gewöhnlich die Diskurse der Menschen miteinander verbindet. Man muss sie aus dem Schatten jagen, in dem sie herrschen.“ (S. 34)

Ebenso handelt es sich bei den Begriffen „Buch“ und „Werk“ um unreflektierte Konstrukte, mit denen wir Zeugnissen der Vergangenheit analysieren und ordnen. Ein Buch ist aber keine geschlossene Einheit, sondern Teil eines komplexen Diskurses. Es verweist auf andere Bücher und Texte. Auch die Kategorie des Werkes beruht auf reiner Interpretation. Denn es ist nicht klar, ob etwa Schmierzettel, Korrekturen, Briefe oder Gespräche eines Autors auch dazugehören.

„Das Werk kann weder als unmittelbare Einheit noch als eine bestimmte Einheit noch als eine homogene Einheit betrachtet werden.“ (S. 38)

Statt einen Text also durch diese vorgegebenen Kategorien zu organisieren, sollte man seine Aussage, und sei sie auch noch so banal, als einzigartiges Ereignis betrachten. Die Aussage sollte auch nicht reflexartig auf die Absicht des Autors zurückgeführt oder mit Aussagen anderer Autoren zu einer Gruppe von Aussagen zusammengefasst, sondern vollkommen isoliert angegangen werden. Nur indem man Aussagen von vorgefertigten Mustern befreit, kann man tatsächliche, neue Beziehungen innerhalb eines Diskurses erkennen.

Die Regeln definieren den Diskurs

Auch „die Medizin“, „die Ökonomie“ und „die Grammatik“ sind aus dem Rückblick geschaffene diskursive Einheiten.

„Was ist also die Medizin, die Grammatik, die politische Ökonomie? Sind sie nichts anderes als eine retrospektive Umgruppierung, durch die die heutigen Wissenschaften sich einer Illusion über ihre eigene Vergangenheit anheimgeben?“ (S. 48)

Sie definieren sich nicht durch die Objekte, die sie untersuchen, denn diese sind zu vielfältig und verändern sich im Laufe der Jahrhunderte. Der Begriff des Wahnsinns etwa war im 17. und 18. Jahrhundert Teil des medizinischen Diskurses, wurde aber im 19. Jahrhundert auch Gegenstand des psychopathologischen Diskurses. Auch Erscheinungen, die zuvor Teil des kriminologischen Diskurses waren – etwa Mord, Selbstmord oder sexuelle Vergehen – wurden im 19. Jahrhundert psychologisiert und pathologisiert. 

Diskurse sind also nicht durch ihre Objekte kennzeichnet, aber ebenso wenig durch die Art der Äußerungen, den Stil. Denn wie sich etwa ein Arzt über einen Patienten äußert oder welche Rolle er diesem gegenüber einnimmt, hat sich ebenfalls grundlegend verändert. Zuvor stellte der Arzt Fragen, er beobachtete und betastete. Der ärztliche Diskurs war überwiegend deskriptiv. Mit den neuen technischen Möglichkeiten geht der ärztliche Blick im 19. Jahrhundert mehr in die Tiefe. Ein neues System des Registrierens, Klassifizierens, Interpretierens von Daten setzte sich durch.

Wandel des Diskurses durch ein festes System

Die Einheit eines Diskurses lässt sich also weder auf seine Objekte noch auf den Stil zurückführen, sondern vielmehr auf die Regeln, die ihn bestimmen. Das zeigt etwa das Beispiel der Naturgeschichte im 17. Jahrhundert. Hier tauchen nicht einfach neue Begriffe auf, etwa „Säugetiere“, und es werden auch nicht überkommene Begriffe wie „Gattung“ oder „Art“ anders verwendet. Vielmehr wird der naturgeschichtliche Diskurs dadurch bestimmt, wie Aussagen angeordnet werden, wie Beobachtetes umschrieben wird, welche Beziehung zwischen Beobachten, Beschreiben und Klassifizieren besteht, welche zwischen der einzelnen Beobachtung und dem allgemeinen Prinzip.

Wenn sich in einer bestimmten Menge von Aussagen ein ähnliches System der Streuung, eine serielle Regelmäßigkeit erkennen lässt, hat man es mit einer diskursiven Formation zu tun. Die ihr zugrunde liegenden Systeme sind nicht statisch, durch Menschen bestimmt oder durch Institutionen oder die Wirtschaft auferlegt, sondern liegen im Diskurs selbst. Die diskursive Formation folgt keinem linearen historischen Verlauf und ist unabhängig von Epochen. Vielmehr ermöglicht das Formationssystem es, dass Gegenstände neu auftauchen (zum Beispiel werden neue Verhaltensweisen als pathologisch definiert), neue Äußerungsformen verwendet (zum Beispiel quantitative oder statistische) und neue Begriffe (zum Beispiel „Perversion“ oder „Neurose“) entworfen werden.

Subjekte, Orte und Situationen des Diskurses

Doch von wem geht der Diskurs aus? Wer legitimiert seinen Wahrheitsanspruch? Im Falle des medizinischen Diskurses ist das der Arzt.

„Der Status des Arztes umfasst Kriterien des Wissens und der Kompetenz; Institutionen, Systeme, pädagogische Normen; gesetzliche Bedingungen, die ein Recht auf die Anwendung und das Ausprobieren des Wissens geben, allerdings nicht ohne ihnen Grenzen zu setzen.“ (S. 75)

Auch die Orte, von denen aus der Arzt sich äußert, sind von Bedeutung: Krankenhaus, Privatpraxis, Laboratorium oder Bibliothek. Im 19. Jahrhundert wächst die Autorität des Dokumentes, während diejenige der Tradition und des Buches sinkt. Im Krankenhaus wird nun systematisch beobachtet. Nicht mehr die individuelle Krankheit, sondern statistische Betrachtungen wie Häufigkeit, Verteilung oder Wahrscheinlichkeit stehen nun im Vordergrund.

In diesem Bezugssystem können sich Subjekte in unterschiedlichen Situationen befinden: fragend, horchend, betrachtend oder notierend. Sie nehmen unterschiedliche Positionen im Informationsnetz ein, etwa im theoretischen Unterricht, in der Krankenhauspädagogik oder als Sender bzw. Empfänger von Berichten, Statistiken, Theorien und Plänen.

„Der so begriffene Diskurs ist nicht die majestätisch abgewickelte Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts: Im Gegenteil handelt es sich um eine Gesamtheit, worin die Verstreuung des Subjekts und seine Diskontinuität mit sich selbst sich bestimmen können.“ (S. 82)

Der Diskurs entsteht in diesen unterschiedlichen diskursiven Praktiken. Er wird nicht durch die Einheit der Elemente, sondern eben gerade durch deren Streuung im sozialen Raum bestimmt. Nicht Ideen oder die empirische Entstehung von Begriffen ist daher zu untersuchen, sondern vielmehr die verstreuten Orte, an denen diese auftauchen. Die vielfältigen Äußerungen müssen nicht auf eine kohärente dahinterstehende Idee, auf erkennende Subjekte oder psychologische Zustände von Individuen zurückgeführt werden. Stattdessen gilt es, ihre Verwendung in der Praxis zu analysieren.

„In der Analyse, die hier vorgeschlagen wird, haben die Formationsregeln ihren Platz nicht in der ‚Mentalität‘ oder dem Bewusstsein der Individuen, sondern im Diskurs selbst; (…).“ (S. 92)

Insofern ist die diskursive Formation weniger durch Subjektivität oder Individuen gekennzeichnet, sondern sie ist eine Art gleichförmige Anonymität all derjenigen, die sich in einem bestimmten diskursiven Feld äußern.

Die Aufgabe der Analyse

Beim Diskurs handelt sich also um eine begrenzte Zahl von Aussagen, die derselben diskursiven Formation zuzurechnen sind und für die ganz bestimmte Existenzbedingungen gelten. Nicht die Frage, warum und wie ein Diskurs plötzlich in der Geschichte auftaucht, ist interessant, sondern seine Grenzen, Einschnitte und Verwandlungen. Auch ist es grundfalsch, die verschiedenen Texte, Praktiken und Institutionen einer Epoche auf einen darunterliegenden Diskurs reduzieren und ihren impliziten Sinn erkennen zu wollen. Statt Ungesagtes in die Texte hineinzuinterpretieren, gilt es, Lücken, Schnitte, Brüche herauszustellen, die Aussagen in ihrer Streuung, ihrer Verschiedenheit, ihrer Äußerlichkeit zu analysieren – ohne Bezug auf Verborgenes oder Innerliches. Wichtig dabei ist, den Diskurs nicht auf Individuen oder ein kollektives Bewusstsein zu beziehen, sondern ihn als anonymes Feld zu betrachten.

Es geht also nicht darum, zu entscheiden, wer unter denjenigen, die zu einem diskursiven Feld wie der Naturgeschichte oder der Medizin gehören, die Wahrheit sagt, wer überzeugend argumentiert oder wer eine Theorie am radikalsten formuliert. Vielmehr gilt es zu analysieren, inwieweit bestimmte Autoren von derselben Sache sprechen, sich auf ein und demselben Niveau bewegen oder dieselben Begriffe verwenden. Dabei wird nicht linear deduziert, sondern vom Inneren des diskursiven Feldes an den Rand und zurück. Es werden die Unterschiede, die Andersartigkeiten und Diskontinuitäten herausgearbeitet, um das „historische Apriori“ freizulegen.

Für eine Archäologie des Wissens

Die archäologische Methode unterscheidet sich radikal von der vollkommen veralteten Ideengeschichte. Sie behandelt Texte nicht als Allegorie für etwas anderes, sie interpretiert nicht, sie kennt nicht „Buch“ oder „Werk“, sondern nur verschiedene Typen und Regeln diskursiver Praktiken, die in Werken zum Vorschein kommen. Sie versucht nicht, zu rekonstruieren, was Subjekte, die sich in einem Diskurs äußerten, in diesem Moment dachten, wollten, planten oder wünschten.

„Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eine erneute Schreibung: das heißt in der aufrechterhaltenen Form der Äußerlichkeit eine regulierte Transformation dessen, was bereits geschrieben worden ist.“ (S. 200)

Die archäologische Beschreibung unterscheidet auch nicht – wie die herkömmliche Ideengeschichte  zwischen wertvollen Texten, die Neues schaffen und zu Veränderungen führen, und banalen, alltäglichen, die Neues nur reproduzieren. Bei der archäologischen Beschreibung spielt es keine Rolle, ob etwas alt oder neu ist. Sie will lediglich die Regelmäßigkeit von Aussagen erkennen, also die spezifischen Bedingungen, unter denen diese getätigt werden ohne Berücksichtigung von Originalität oder Nachahmung, schöpferischem Glanz oder Banalität. Auf diese Weise erstellt die Archäologie eine Art Stammbaum eines Diskurses mit zentralen Aussagen, in dem Entdeckungen, Begriffswandlungen, neue Begriffe und neue Techniken wie Sammeln, Klassifizieren usw. erfasst sind.

Unterschiede zur Ideengeschichte

Klassische Ideengeschichte ist auf Kohärenz aus, ob auf der Ebene des Textes oder des Individuums. Widersprüche empfindet sie als oberflächlich oder zufällig und unterdrückt sie. Dagegen sucht die archäologische Methode genau diese inneren Widersprüche eines Diskurses. Sie vergleicht die verschiedenen Diskurse, statt sie voneinander abzugrenzen, und arbeitet ihre Begrenzungen, Überschneidungen, Korrelationen und Verzahnungen heraus.

Zugleich lässt sie Beziehungen zwischen den diskursiven und den nichtdiskursiven Bereichen wie etwa politische Ereignisse oder wirtschaftliche Praktiken und Prozesse erkennen, ohne allerdings, wie die traditionelle Ideengeschichte, Kausalitäten herzustellen oder vermeintliche Kontinuitäten, Vorbereitungen, Übergänge aufzuzeigen. Die archäologische Beschreibung reduziert die Geschichte des Denkens nicht von vornherein auf eine Teleologie oder eine transzendente „Wahrheit“.

„Nun bin ich aber unbeirrt weiter vorwärtsgegangen. Nicht weil ich des Sieges oder meiner Waffen sicher wäre. Sondern weil mir schien, dass im Augenblick das Wesentliche darin lag, die Geschichte des Denkens aus seiner transzendentalen Unterwerfung zu befreien.“ (S. 289)

Das Misstrauen der Kritiker gegenüber dieser Methode ist verständlich. Es ist nicht besonders angenehm, zu erkennen, dass die Äußerung eines Einzelnen, die ihn unsterblich machen sollte, keine individuelle Spur hinterlässt, sondern nur Teil eines allgemeinen Gemurmels ist, eines anonymen Diskurses, der seinen eigenen Regeln folgt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Archäologie des Wissens gliedert sich in fünf Hauptteile, die wiederum jeweils aus mehreren Kapiteln bestehen. Diese überschneiden sich inhaltlich teilweise und wiederholen schon Gesagtes in anderen Worten. Teile der Einleitung sowie der Schluss sind als fiktives Interview geschrieben, in dem der Autor seine Methode gegen die Einwände eines imaginären Kritikers verteidigt. Das Buch ist in der Ich-Form geschrieben – das heißt, der Leser begleitetet Foucault bei der Entwicklung seiner Theorie: Der Autor tastet sich an sein Thema heran, stellt Fragen und nennt eigene Zweifel, berichtet von Fehlschlägen. Der Stil des Werks bleibt – sicher auch bedingt durch die Thematik – hochabstrakt. Zudem deutet Foucault etablierte Begriffe in seinem Sinne um, was vom Leser einige gedankliche Gymnastik erfordert. Immer wieder gibt es aber auch fast poetisch formulierte Passagen und mutige Metaphern.

Interpretationsansätze

  • Die Archäologie des Wissens nimmt in Foucaults Gesamtwerk eine Sonderstellung ein. Als einziges seiner umfangreicheren Werke beschäftigt es sich nicht mit einem bestimmten historischen Thema, sondern mit der eigenen Methodik.
  • Foucault gibt dem Begriff „Archäologie“ eine neue Bedeutung: Ihm ist es eben nicht um eine Suche nach der „arché“ – altgriechisch für „Ursprung“ – zu tun, sondern um das Freilegen aller Aussagen in einem diskursiven Feld. An anderer Stelle bezeichnete Foucault seine Methode auch als „Ethnologie der Kultur, der wir selbst angehören“.
  • Dabei grenzt er sich vom Strukturalismus ab. Und das, obwohl er teilweise strukturalistische Methoden nutzt – etwa in seiner radikalen Kritik des Subjektbegriffes. Zwar versteht er Diskurs in erster Linie als eine Ansammlung von Zeichen, die auf Inhalte verweisen, aber Diskurse verwenden Zeichen für mehr als nur für die Bezeichnung von Dingen. Dieses „mehr“ gilt es nach Foucault ans Licht zu bringen.
  • Foucault vollzieht eine in der Geistesgeschichte bis dahin einmalige radikale Trennung zwischen Begriffen, Ideen und Idealen. Er interessiert sich nicht für die Idee hinter einem Begriff, sondern für dessen Streuung über die verschiedensten Textsorten.
  • Foucault weist ironisch, teils sogar spöttisch auf die Grenzen des abendländischen Vernunftdenkens und die Selbstüberhöhung des bürgerlichen, vermeintlich souveränen Subjekts hin. In der Tradition der von ihm verehrten Denker Friedrich Nietzsche und Georges Bataille kritisiert er die düsteren Aspekte ​​der Aufklärung.
  • Nach eigener Aussage fühlte Foucault sich durch die Vertreter der französischen Zwölfton- und seriellen Musik wie Pierre Boulez beeinflusst. Diese hätten ihn aus dem „dialektischen Universum“ herausgerissen, in dem er bis dahin gelebt habe.

 

Historischer Hintergrund

Die Schule der Annales

Ende der 1920er-Jahren gründeten die französischen Historiker Marc Bloch und Lucien Fevre die nach der französischen Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale benannte École des Annales. Sie propagierten eine Vielfalt der Methoden und eine Öffnung der Geschichtswissenschaften gegenüber anderen Fächern wie Soziologie, Geografie und Ethnologie. Das Grundmotiv war die Abkehr vom Einzelfall und die Hinwendung zur Struktur. Nach Auffassung des Annales-Historikers Fernand Braudel sollten sich historische Darstellungen nicht allein auf großen Ereignisse und die Leistungen von herausragenden historischen Figuren konzentrieren. Stattdessen galt es, den historischen Wandel anhand gesellschaftlicher Strukturen, die als handlungsleitende Instanzen betrachtet wurden, zu erklären. Dazu zählten nicht nur regionale Mentalitäten und natürliche Lebensbedingungen, sondern auch klimatische Gegebenheiten. Im Zentrum der Betrachtung stand oftmals das Leben der einfachen Leute, das Annales-Historiker anhand von Quellen wie Testamenten, Heirats- und Sterbeurkunden sowie Statistiken erforschten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die École des Annales an französischen Universitäten durch und entwickelte sich bald zur einflussreichsten historiografischen Denkschule. Kausalitäten und Kontinuitäten, wie sie die historische und die marxistische Geschichtsschreibung offenlegten, lehnte man ab. Stattdessen wurde Geschichte von Anhängern der École des Annales als Abfolge serieller Einheiten betrachtet, und die „longue durée“, die Langzeitbetrachtung, favorisiert. Statt großer Persönlichkeiten, Schlachten und Dekrete rückten Getreidepreise, demografische Entwicklungen und Handelsdaten in den Vordergrund. Statt dynastischer Abfolgen nahmen die Historiker familiäre Strukturen und Volkskulturen in den Blick. 

Entstehung

Foucault war wie die Mehrheit der französischen Historiker jener Zeit ein großer Anhänger der sogenannten seriellen Geschichtsschreibung, die seiner Meinung nach zur Befreiung von jeglicher Geschichtsphilosophie und -teleologie sowie zur Abschaffung des Subjekts als handelnder historischer Figur geführt habe. Schon bald nach Abschluss seines Buches Die Ordnung der Dinge (Les mots et les choses) im Jahr 1966 unternahm er den Versuch, seine eigene Methodik in Aufsätzen genauer darzustellen. Die Urfassung der Archäologie des Wissens, die über 600 Seiten umfasst und in der französischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird, ist durchgehend in Ich-Form verfasst. Die auf über die Hälfte gekürzte erste Buchfassung erschien 1969 beim Pariser Verlag Gallimard.

Wirkung

Das Erscheinen der Archäologie wurde in Pariser Akademikerkreisen gefeiert. Schon bald darauf wurde Foucault ein Lehrstuhl für „Geschichte der Denksysteme“ am renommierten Pariser Collège de France eingerichtet. Seine Vorlesungen waren für die Öffentlichkeit zugänglich und gut besucht. Die intellektuelle Zielgruppe war von Foucaults Mischung aus hochabstraktem philosophischen Duktus und literarischen, metaphernreichen Stilelementen begeistert. Bald avancierte Foucault zu einem Star des Universitätsbetriebes. So bezeichnete ihn etwa Louis Althusser als Entdecker einer „wahren Geschichte“, „völlig unerwarteter Zeitlichkeiten“ und „neuer Formen der Logik“.  Auch der Althistoriker Paul Veyne betonte, Foucault habe die Ideengeschichte revolutioniert, und der Philosoph Gilles Deleuze pries in einer Rezension des Werkes die Modernität des Autors und seiner Methode.

In Deutschland und den angelsächsischen Ländern war die Reaktion dagegen eher gemischt. Der Spott, mit dem Foucault die traditionelle, auf Kontinuität bedachte Geistesgeschichte als „liebenswerte, aber verspätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen“ bedachte, löste unter Fachkollegen Empörung aus. Vor allem in Deutschland begegnete man dem Werk mit großer Skepsis und Kritik. So warf Jürgen Habermas Foucault Inkonsequenz und einen Mangel an Normativität, also letztlich die Beliebigkeit seiner Theorie vor. Auch die amerikanische Philosophin Nancy Fraser bemängelte den kulturellen und ethischen Relativismus des Foucaultschen Modells. Unter vielen anderen wies der Historiker Hans-Ulrich Wehler auf die antiaufklärerische, antiemanzipatorische Stoßrichtung des Werks hin, die sich aus der Entmündigung des handelnden Individuums ergebe. Er bezeichnet Foucault als „intellektuell unredlichen, empirisch absolut unzuverlässigen, kryptonormativistischen ‚Rattenfänger‘ für die Postmoderne“. Zugleich gab es Wissenschaftler, die sich ausdrücklich auf Foucaults Theorie beriefen und diese fortführten – in den USA etwa Judith Butler mit ihren Veröffentlichungen zur Geschlechtergeschichte und in Deutschland den Philosophen Peter Sloterdijk, der zu Beginn der 1970er-Jahre Foucaults Diskurstheorie rezipierte und einige Begriffe daraus übernahm.

Foucaults Diskurstheorie erfreut sich vor allem in der Sozial- und Literaturwissenschaft bis heute großer Popularität. Obwohl sie einen wesentlichen Einschnitt in der Philosophiegeschichte darstellte und zusammen mit anderen Werken die poststrukturalistische Wende einleitete, blieb das Werk einer breiteren Leserschaft unzugänglich. Letztlich festigte die Archäologie des Wissens zwar Foucaults wissenschaftlichem Ruf, das Buch wurde aber weniger gelesen als seine übrigen Werke, da es als unverständlich und abgehoben galt.

Über den Autor

Michel Foucault wird am 15. Oktober 1926 in Poitiers geboren. Dort besucht er zwischen 1940 und 1945 das jesuitische Gymnasium. Ab 1945 lebt er in Paris, wo er an der Eliteuniversität École normale supérieure Philosophie und Psychologie studiert. Nach Abschlüssen in diesen Fächern lehrt er dort von 1950 bis 1955 Psychologie und ist zugleich zeitweise Assistent an der Universität von Lille. Er nimmt Lehrtätigkeiten in Schweden und Warschau an und ist 1959/60 als Direktor des Institut français in Hamburg tätig. Nietzsche, Marx, Freud und Heidegger prägen Foucaults Denken. In seiner 1961 veröffentlichten Dissertation Wahnsinn und Gesellschaft (Folie et déraison) untersucht er, wie der Wahnsinn im Verlauf der Geschichte mittels definitorischer Macht von der Vernunft unterschieden wird. Machtstrukturen, die Rolle des Wissens bei ihrer Herausbildung und ihre Beziehungen zum Individuum werden zu den zentralen Themen seines Schaffens. In Die Ordnung der Dinge (Les mots et les choses, 1966) beschäftigt er sich mit der Entstehung der Humanwissenschaften. Seine wissenschaftliche Karriere führt ihn über die Universität von Clermont-Ferrand und eine zweijährige Gastprofessur an der Universität in Tunis zurück nach Paris, wo er ab 1968 überwiegend lebt. Ab 1970 hat er den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France inne. Foucaults Denkmethode ist am ehesten der philosophischen Richtung des Poststrukturalismus (und damit der Postmoderne) zuzuordnen. 1963 beginnt Foucault mit Die Geburt der Klinik (Naissance de la clinique) die Entstehung von Institutionen zu erforschen, was er 1975 mit Überwachen und Strafen (Surveiller et punir) fortsetzt. In seinem zwischen 1976 und 1984 in drei Bänden veröffentlichten letzten großen Werk Sexualität und Wahrheit (Histoire de la sexualité) analysiert er die Sexualität aus psychiatrischer, rechtlicher und moralischer Perspektive. Als einer der einflussreichsten Philosophen der Neuzeit stirbt Foucault am 25. Juni 1984 in Paris an den Folgen von Aids.

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