Stefan Zweig
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
Artemis & Winkler, 2002
Was ist drin?
Zwischen der k. u. k. Monarchie und Hitler: Stefan Zweigs melancholisches Bild einer zerstörten Welt.
- Memoiren
- Moderne
Worum es geht
Rückblick auf eine untergegangene Welt
Stefan Zweigs Memoiren sind das Gemälde einer verlorenen Zeit, deren „seltsames Überbleibsel“ er sich selbst einmal genannt hat. Manche seiner Schriftstellerkollegen brachten kein Verständnis dafür auf, dass er 1942 im brasilianischen Exil den Freitod wählte. Warum er diesen Weg ging, wird einem nach der Lektüre von Die Welt von Gestern klar. Hier erzählt ein Mitglied des Wiener Großbürgertums, ein Weltenbummler, Kosmopolit und Pazifist, der von den Nazis in die Emigration getrieben wurde, aus seinem verlorenen Leben. Er schildert sein Jahrhundert mit all den lieb gewonnenen Dingen, die langsam zerfallen und demontiert werden. Zweig meldet sich als Zeitzeuge zu Wort, der belegt, wie es einmal war und wie es nie wieder werden kann. Dabei pflegt er einen fesselnden, lebendigen Stil, der den Leser schnell in den Bann zieht. Kaum eine Biografie aus der Nazizeit rechnet so schonungslos mit dieser „dümmsten Epoche der Weltgeschichte“ ab.
Take-aways
- Stefan Zweigs Die Welt von Gestern beinhaltet die Memoiren des Autors und gehört zu den wichtigsten Werken der deutschsprachigen Exilliteratur.
- Inhalt: Zweig erinnert sich an seine Jugend und die Zeit bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der Erste Weltkrieg reißt ihn 1914 aus der gemütlichen, sicheren Welt der k. u. k. Monarchie. Nach 1918 wird er einer der einflussreichsten deutschsprachigen Dichter, bis ihn Hitlers Regime zum verfemten und gejagten Emigranten macht.
- Zweig vermittelt exemplarisch das Lebensgefühl eines Weltbürgers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
- Sein Schicksal ist typisch für die Zeit, aber auch eng verbunden mit seiner jüdischen Herkunft, seinem Beruf und seinem Reichtum.
- Im Vordergrund steht die Darstellung des Lebensgefühls und Schicksals von Zweigs Generation; viele persönliche Details spart er aus.
- Da der Autor im Exil nicht auf seine frühere Korrespondenz zurückgreifen konnte, beruhen seine Memoiren vor allem auf der Erinnerung.
- Zweig begann das Buch etwa 1939 und beendete es 1942; veröffentlicht wurde es erst nach seinem Selbstmord im gleichen Jahr.
- Sein Freitod löste große Bestürzung und teilweise Unverständnis aus, wurde dieser doch als Kapitulation vor den Nazis gedeutet.
- Neben der Schachnovelle gehört Die Welt von Gestern zu Zweigs bekanntesten Werken.
- Zitat: „Alle die fahlen Rosse der Apokalypse sind durch mein Leben gestürmt, Revolution und Hungersnot, Geldentwertung und Terror, Epidemien und Emigration.“
Zusammenfassung
Ein Kind aus gutem Hause
Stefan Zweig kommt 1881 als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Textilfabrikanten und seiner Frau zur Welt. Die Jahre seiner Kindheit erlebt er als „goldenes Zeitalter der Sicherheit“. In der fast tausendjährigen österreichischen Monarchie ist alles genau geregelt. Jeder weiß, was er zu tun hat, wann er befördert werden wird und wann er in Pension geht. Die österreichische Krone ist aus Gold und ebenso solide wie der ganze Staat. Sicherheit und Wohlstand sind für alle Schichten möglich. Die Versicherungsbranche boomt, weil jeder sein Hab und Gut vor Schaden bewahren will. Selbst Babys haben bereits ein Sparbuch. Auf die vorherigen Jahrhunderte blickt man mit einer gewissen Arroganz zurück. Der Glaube an Humanität, Liberalismus, Wissenschaft und Kultur ist stark. Zweigs Eltern huldigen eher dem modernen Fortschrittsglauben als der orthodoxen Religiosität. Der Vater stammt aus Mähren und die Mutter aus Ancona in Süditalien. Die Familie von Zweigs Mutter erstreckt sich über die halbe Welt: Er hat Verwandte in Paris, St. Gallen, New York und Wien. Das bringt viele Reisen mit sich. Für den jungen Stefan ist es immer wieder ein Erlebnis, mit welcher Leichtigkeit man am Esstisch die Sprache wechselt. Seine Mutter achtet darauf, dass sich die Familie auf dem richtigen gesellschaftlichen Niveau bewegt. Selbst bei den Schulfreunden der Kinder wird auf die Herkunft geachtet und gewissenhaft nachgeforscht, woher die jeweilige Familie stammt.
Wien, die kunstverliebte Stadt
Familie Zweig lebt im Wohlstand und wird mit der Zeit reicher und reicher. Dennoch ist Sparsamkeit an der Tagesordnung: Obwohl er ein wohlhabender Mann ist, leistet sich Zweigs Vater kaum Luxus, und wenn doch, dann zeigt er ihn nicht offen. In Wien liebt man das Understatement, die Gemütlichkeit, den Plauderton. Von den strebsamen deutschen Nachbarn im Norden wird man deshalb verachtet und wohl auch ein wenig beneidet. Nie sieht Stefan seinen Vater hastig eine Treppe hinunterlaufen. Man nimmt sich Zeit, gibt sich lässig, isst reichlich, trinkt gut und setzt frühzeitig einen Bauch an. Kriege gibt es zwar viele, aber sie finden außerhalb Österreichs und damit nur in der Zeitung statt. Zweigs Vater blättert sie um wie den Sportteil. Mehr als alles andere interessieren sich die Wiener für das Theater und die Kultur. Schließlich hat die Stadt eine Vielzahl berühmter Künstler hervorgebracht: Nicht nur frühere wie Mozart, sondern auch aktuelle wie Gustav Mahler, Arthur Schnitzler, Max Reinhardt, Hugo von Hofmannsthal oder Arnold Schönberg. Die Begeisterung für die Bühne grenzt an Manie: Selbst Handwerker kennen die bekannten Schauspieler, lesen in der Morgenzeitung zuerst das Theaterprogramm und leiden furchtbar, wenn ein Star die Bretter der Bühne für immer verlässt. Die Köchin der Zweigs etwa heult wie ein Schlosshund, als die Burgschauspielerin Annette Wolter stirbt. Und dies, obwohl sie die Künstlerin nie gesehen, geschweige denn persönlich gekannt hat. Aber Künstler gehören eben zum kollektiven Besitz der Stadt, und ein Engagement am Burgtheater gilt als Ritterschlag.
Zwischen Schule und Kaffeehaus
Die Schule empfindet Stefan Zweig als eine mühsame Tretmühle. Der Stundenplan ist übervoll, und Kinder, die das Gymnasium besuchen, müssen mindestens drei lebende Sprachen lernen, dazu Griechisch und Latein. Für unbeschwerte Freizeitvergnügen bleibt keine Zeit. Das Verhältnis zu den Lehrern ist von großem Respekt geprägt und entsprechend steif. Stefan kommt es vor, als müsse er sich in sich „hineinducken“, wenn er das Schulgebäude betritt, und er ist heilfroh, als er die Schultür für immer hinter sich zuschlagen kann. Der junge Zweig interessiert sich für Literatur und Kunst, schwärmt für Hugo von Hofmannsthal und bleibt oft nächtelang auf, um zu lesen. Mit seinen Freunden besucht er die Kaffeehäuser, wo man alle Zeitungen der Welt lesen, interessanten Diskussionen lauschen und sich ganz nach Gusto bilden kann. Noch ist die Zeit davon geprägt, dass die Jungen älter erscheinen wollen, als sie sind, und nicht – wie wenige Jahre später – die Älteren jünger. Selbst ein 30-Jähriger gilt noch als unreif, und als Gustav Mahler mit nur 37 Jahren Direktor der Wiener Hofoper wird, geht ein Aufschrei durch die Stadt. Der Jugendwahn mit negativem Vorzeichen führt sogar dazu, dass sich junge Akademiker goldene Brillen aufsetzen und sich lange Bärte wachsen lassen, nur um einige Jahre älter auszusehen. Die Botschaft an den Nachwuchs ist klar: Niemand soll reüssieren, bevor seine Zeit gekommen ist.
Das geheime Sexualleben
Die Pubertät hält für Zweigs Generation große Herausforderungen bereit. Er und seine Schulkameraden beginnen die Welt und die Gesellschaft mit anderen Augen zu sehen. Jetzt, an der Schwelle des Erwachsenwerdens, begreifen sie, dass die Sexualität eine verpönte Sphäre ist: anarchisch, unschicklich, etwas, was man nur hinter vorgehaltener Hand erörtert, am Besten aber gar nicht. Zwar wird körperliche Nähe nicht mehr wie im Mittelalter verteufelt, ein Tabuthema aber bleibt sie. Die Angehörigen von Zweigs Generation haben keinerlei Zugang zu den Dingen, die sie so brennend interessieren – ganz anders als etwa die Jugendlichen um 1940. Selbst in der Literatur wird alles Sexuelle ausgeblendet, sublimiert, verdrängt. Allerdings bricht es sich dennoch Bahn: in billigen Drucken, die unter der Ladentheke gehandelt werden, und im Zotentheater. Ein untrüglicher Spiegel der Sexualmoral ist die Mode, die sogar denjenigen, die sie selbst miterleben, 40 Jahre später als seltsam erscheinen wird. Die Frauen eng zusammengeschnürt, die Männer über alle Maßen steif, von Vatermördern eingezwängt und mit doppelt und dreifach gestärkten Hemden angetan. Die krampfhafte Verhüllung des Körpers bewirkt aber gerade das Gegenteil von dem, was die Prüderie beabsichtigt: Sexualität wird zum Thema Nummer eins, wenn auch bloß im Geheimen. Während die jungen Mädchen ängstlich von Gouvernanten bewacht werden, gesteht man den jungen Männern immerhin zu, sich ihre Hörner abzustoßen. Manch besorgter Vater engagiert hierzu sogar spezielle Dienstmädchen, sodass der Filius „es“ nicht in einem Bordell tun muss und womöglich noch eine Geschlechtskrankheit mit nach Hause schleppt. Die Prostitution floriert in diesen Tagen der gehemmten Lust ganz besonders.
Heiteres Studentenleben
So schön es für Zweig gewesen ist, die Schule zu verlassen, so langweilig erscheint ihm das Studium. Da sein älterer Bruder bereits im väterlichen Unternehmen arbeitet und er selbst als Zweitgeborener lediglich dafür sorgen muss, dass einer in der Familie einen Doktortitel hat, lässt ihn sein Vater das Studienfach frei wählen. Zweig entscheidet sich für Philosophie, nutzt das Studentenleben aber vor allem, um die plötzliche Freiheit zu genießen. Er lernt den Feuilletonisten Theodor Herzl kennen und beginnt, für die Neue Freie Presse zu schreiben. Seine Eltern sind beeindruckt und schlagen ihm deshalb auch den Wunsch nicht aus, in Berlin weiterzustudieren. Was Zweig dorthin zieht, ist freilich nur das Künstlerleben jener Stadt, die gerade an der Schwelle steht, eine Metropole zu werden. In der Uni lässt er sich nur zweimal pro Semester blicken: zum Antritt der Kurse und zur Bestätigung des Besuchs derselben. Am Ende des Studiums konzentriert er sich darauf, den Stoff der versäumten Semester nachzuholen. Er besteht die Prüfung, zumal ihn sein Professor bereits durch erste Buchveröffentlichungen kennt und ihm keine schwierigen Fragen zumutet. Nach dem Studium geht Zweig auf längere Reisen durch Europa, aber auch nach Afrika und Asien. Am meisten schwärmt er jedoch für Paris. Hier genießt er sein Leben in unbekümmerter Gelassenheit. Standesdünkel wie in Berlin gibt es in Paris nicht: Hier schwatzt die Prostituierte mit der Dame aus gutem Hause, und niemand schert sich darum, wer mit wem spazieren gegangen oder in einem kleinen Hotel verschwunden ist. In Paris lernt Stefan Zweig Rainer Maria Rilke kennen, der ihn über alle Maßen begeistert.
Schatten über Europa
Je mehr Zweig in der Welt herumreist, desto mehr liebt er Europa. Hier verändert sich jedes Jahr so viel, dass es eine wahre Freude ist. Das Berlin von 1910 ist nicht zu vergleichen mit demjenigen von 1905 oder gar 1901. Wann immer er nach Wien, London, Mailand oder Amsterdam kommt, sind die Straßen und Plätze prächtiger geworden, die Lebensqualität besser. Jahrzehnte des Friedens haben Europa von innen gekräftigt. Allerdings erklingen in der Ferne schon die Trommeln des Kriegs. Zweig ist verunsichert, als er in einer Wochenschau eines französischen Provinzkinos miterleben muss, wie der deutsche Kaiser Wilhelm, der in einem Beitrag zu sehen ist, ausgepfiffen wird. Diese antideutsche Stimmung löst einen Schauder in ihm aus. Als schließlich 1914 der berüchtigte Schuss von Sarajevo fällt, zerbricht die Welt der Sicherheit. Zum Zeitpunkt des Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand hält sich Zweig in Baden bei Wien auf, wo er im Kurpark promeniert. Plötzlich wird das Kurkonzert unterbrochen und das Attentat bekannt gemacht. Der Thronfolger war nicht besonders beliebt, darum macht man sich keine allzu großen Gedanken. Aber in den kommenden Tagen und Wochen verdüstert sich die politische Lage. Bald beginnt die allgemeine Mobilmachung, Bündnisse werden geschlossen und in schneller Abfolge Kriegserklärungen ausgesprochen. Zweig erlebt die Aufbruchsstimmung und den Jubel über den Krieg mit gemischten Gefühlen: Er fürchtet den Krieg, lässt sich aber vom Massentaumel zunächst mitreißen. 1914 hat das Volk noch Vertrauen in seine Herrscher. Ein Vierteljahrhundert später wird davon nichts mehr übrig sein.
Nach dem Krieg ist vor dem Krieg
Drei Jahre nach Kriegsausbruch weicht die Euphorie der Ernüchterung. Die Gesellschaft teilt sich: an der Front die sich aufopfernden Soldaten, in den Städten die Kriegsgewinnler, die in Saus und Braus leben. Kultur ist immer noch gefragt, wie Zweig fassungslos erkennen muss: Seine Tragödie Jeremias verkauft sich binnen kurzer Zeit 20 000 Mal. Er erwirbt ein Jagdschloss bei Salzburg, in dem er nach dem Krieg leben will, emigriert aber einstweilen in die neutrale Schweiz. Hier hält er engen Kontakt mit dem treuen Künstlerfreund Romain Rolland und lernt James Joyce kennen.
„Alle die fahlen Rosse der Apokalypse sind durch mein Leben gestürmt, Revolution und Hungersnot, Geldentwertung und Terror, Epidemien und Emigration.“ (S. 10)
Nach dem Krieg kehrt Zweig nach Österreich zurück und wird an der Grenze Zeuge eines historischen Augenblicks: Der letzte Kaiser Österreichs verlässt das Land, um in die Emigration zu gehen. Glücklicherweise erholt sich das ausgemergelte Land rasch vom Krieg. Zweig kann sogar bald wieder reisen, wenn auch nur nach Italien. Dort sieht er schon die Massenbewegung der kommenden Jahrzehnte heraufdämmern: den Faschismus. Berlin entwickelt sich in den Jahren der Inflation zu einem Babel der neuen Zeit: So viel Perversion und Ausschweifungen wie auf dem Kurfürstendamm oder auf den Transvestitenbällen hat Zweig nirgends sonst auf der Welt gesehen. Zwischen 1924 und 1933 erlebt Europa eine Verschnaufpause – bis mit Hitlers Auftreten erneut der Wahnsinn auf der Weltbühne regiert.
Sonnenuntergang
Zweig wird ein gefeierter Star der Literaturszene, hat viele Künstler als Freunde und reist wie selbstverständlich durch die Welt. An seinem 50. Geburtstag, im November 1931, blickt er zurück und malt sich zugleich aus, wie glanzvoll die Zukunft sein wird. Hitler ist für ihn zunächst ein Niemand: Er putscht und wird ins Gefängnis gesteckt. Nach seiner Entlassung aber trägt ihn die Unzufriedenheit im Volk rasch in wichtige Stellungen. Man sucht einen starken Mann, der Ordnung schafft, und bekommt ihn. Hitler versteht es, nach allen Seiten Versprechungen zu machen, die er – kaum ist er in der angestrebten Machtposition – einfach bricht. Nach dem Reichstagsbrand 1933 nimmt das Unheil seinen Lauf. Zweig fürchtet um seine Bücher, die in der Tat im Mai des gleichen Jahres zusammen mit den Werken anderer verhasster Autoren öffentlich verbrannt werden. Eine geplante Verfilmung wird abgesetzt. Immerhin gelingt es Richard Strauss, die Oper Die schweigsame Frau zur Aufführung zu bringen, für die Zweig das Libretto geschrieben hat – die Nazis scheinen es sich nicht leisten zu können, ihren wichtigsten Musiker zu zensieren. Doch dann wird die Oper nach nur zwei Vorstellungen verboten, und Strauss muss seinen Hut nehmen.
„Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit.“ (S. 15)
Allmählich wird Zweig der Druck, der auf ihm als Juden lastet, zu viel. Im Februar 1934 emigriert er nach England, unternimmt im folgenden Jahr eine Amerikareise und stattet erst 1937 seiner Mutter einen Besuch in Wien ab. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich ist er staatenlos. Als schließlich die Katastrophe über Europa hereinbricht, Polen von den Deutschen überfallen wird und England diesen den Krieg erklärt, hat er, nun wieder in England, den Status eines „feindlichen Ausländers“.
Zum Text
Aufbau und Stil
In 16 Kapiteln entrollt Stefan Zweig seine Sicht der Zeit vor, zwischen und während der beiden Weltkriege. Die Welt von Gestern ist eine Autobiografie – allerdings treffen die Ausdrücke „Memoiren“ oder – wie es im Untertitel heißt – „Erinnerungen“ den Kern des Buches noch besser. Zweig sieht sich beim Streifzug durch die Jahrzehnte, wie er im Vorwort schreibt, in derselben Rolle wie ein Referent bei einem Lichtbildervortrag: Im Vordergrund steht das Lebensgefühl der Menschen seiner Generation und weniger seine eigene Person. Zwar erfährt der Leser auch einiges über Zweigs Umfeld, aber viele persönliche Details bleiben ausgeblendet. Zweigs beide Ehefrauen werden nur am Rand erwähnt, manche wichtige Freunde und Schriftstellerkollegen gänzlich ignoriert.
In gepflegtem Stil, bisweilen anspruchsvoll, aber immer angenehm zu lesen, streift der Autor durch die Städte und die Jahre. Dabei geht er nicht streng chronologisch vor, sondern fügt Anekdoten aneinander und unternimmt Zeitsprünge, wenn es ihm hilfreich scheint. So kontrastiert er z. B. die Beschreibung des Vorkriegs-Paris mit dem Bild der französischen Hauptstadt, das sich ihm während der deutschen Besatzungszeit eingeprägt hat.
Interpretationsansätze
- Zweig lässt seine Memoiren im Jahr 1939 enden: Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen endet für ihn eine Epoche, und ein neues, grausiges Kapitel beginnt. Seine Erinnerungen sind ein melancholischer Abgesang auf eine glanzvolle Vergangenheit, die in seinen Augen unwiederbringlich verloren scheint: „Wir haben uns (...) die dümmste Epoche der Weltgeschichte für unser kurzes Leben ausgesucht“, schrieb er in einem Brief. Zweigs Selbstmord von 1942 dürfte nicht zuletzt eine Konsequenz dieser Enttäuschung gewesen sein.
- Stefan Zweig zeigt sich in seiner Autobiografie als Vertreter des Kosmopolitismus: Schon die Familien seiner Eltern waren über halb Europa verteilt, und Zweig selbst reiste zeit seines Lebens fast ununterbrochen. Darin liegt auch der Schlüssel zu seinem Pazifismus, seiner Toleranz und seiner harschen Ablehnung des Nationalsozialismus.
- Die Epochenumbrüche des frühen 20. Jahrhunderts werden in Zweigs Memoiren deutlich sichtbar: Die Kindheit und Jugend in Wien, die Zeit während des Ersten Weltkriegs und das Exil bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs – das sind Zweigs „drei Leben“. Zweigs Schicksal ist typisch für seine Zeit und zugleich eng verbunden mit seiner individuellen Situation: seiner jüdischen Herkunft, seinem Beruf und seinem Reichtum.
- Eine gewisse Schamhaftigkeit gehörte zu Zweigs Wesenszügen und sorgte dafür, dass in seiner Autobiografie viele private Details ausgespart bleiben. Sein Freund und Vertrauter Hermann Kesten sagte über Zweig: „Der Bewunderer, Schüler, Patient von Sigmund Freud war viel zu keusch, um eine echte Autobiografie zu schreiben.“
- Für die verdrängte Sexualität als Ursache vieler Neurosen findet Zweig in Die Welt von Gestern immer wieder Belege, etwa wenn er auf die engstirnige Sexualmoral seiner Jugendzeit zu sprechen kommt. Ein Beleg dafür, wie sehr Freuds Psychoanalyse ihn beeinflusst hat.
Historischer Hintergrund
Von der k. u. k. Monarchie bis zum „Anschluss“ Österreichs
Die 1867 gegründete Doppelmonarchie Österreich-Ungarn wurde in Form einer konstitutionellen Monarchie geführt, an deren Spitze Franz Joseph I. als Kaiser von Österreich und König von Ungarn stand. Das Hauptproblem des an sich prosperierenden Staatengebildes war die Nationalitätenfrage: Österreich-Ungarn war ein zersplitterter Vielvölkerstaat. Die Deutschnationalen unter Georg Ritter von Schönerer strebten einen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich an. Querelen mit Serbien führten 1914 zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, nachdem Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo dem Attentat eines serbischen Nationalisten zum Opfer gefallen waren.
Aus dem Ersten Weltkrieg ging Österreich destabilisiert hervor: Die Monarchie wurde abgeschafft und die Republik ausgerufen. Wie in anderen Ländern versuchten auch in Österreich extreme politische Kräfte, die junge Republik zu schwächen und die Macht an sich zu reißen. Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen politischen Gruppierungen, unter ihnen die Nationalsozialisten und die Sozialdemokraten, waren an der Tagesordnung. Armut und Arbeitslosigkeit trieben viele in die Arme radikaler Parteien. Der 1932 gewählte Bundeskanzler Engelbert Dollfuß plante, Österreich in eine faschistische Diktatur zu verwandeln, fiel aber selbst einem Attentat der Nationalsozialisten zum Opfer. 1933 übernahm der gebürtige Österreicher Adolf Hitler in Deutschland die Macht und setzte alles daran, seine alte Heimat ins Reich zu holen. Im März 1938 stellte er Österreich ein Ultimatum und forderte eine Beteiligung nationalsozialistischer Politiker an der Regierung. Der amtierende Kanzler trat daraufhin zurück, und Hitler marschierte am 12. März mit seinen Truppen ein. Tags darauf wurde der „Anschluss“ Österreichs an Deutschland offiziell vollzogen.
Entstehung
Für viele deutschsprachige Autoren im Exil erwies sich die Autobiografie nicht nur als geeignete literarische Form zur Vergangenheitsbewältigung, sondern auch zum Verständnis der Gegenwart. Zur gleichen Zeit wie Stefan Zweig schrieben etwa auch Alfred Döblin und Heinrich Mann ihre Erinnerungen nieder. Als Zweig 1934 auf der Flucht vor den Nazis nach London ging, reifte in ihm bereits der Gedanke an ein autobiografisches Zeugnis. Wirklich angehen mochte er das Unternehmen aber erst nach dem neuerlichen Umzug in die USA. Eine Rede, die er für den P.E.N.-Club-Kongress 1939 in Stockholm verfasste, aber wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs nicht halten konnte, gab ihm Gelegenheit, über die geeignete Form nachzudenken. Zweig vertrat in dem Redetext eine Position, die er auch zwei Jahre später in einem Brief an Richard Friedenthal äußerte: „Geschichte kann man nie genau reproduzieren – wer weiß denn ‚die Wahrheit!‘ – wir müssen sie erfinden.“
Bei der eigentlichen Arbeit an seinem Buch musste sich Zweig denn auch vollkommen auf sein Gedächtnis verlassen: Nachdem er 1940 mit wenig Gepäck in die USA gekommen war, hatte er keine Möglichkeit, an seine zurückgelassene Korrespondenz zu gelangen. Immerhin stand ihm seine erste Frau Friderike – obwohl inzwischen von ihm geschieden – für Gespräche zur Verfügung, um Ordnung in seine Memoiren zu bringen. Nach einem erneuten Umzug nach Brasilien, zusammen mit seiner zweiten Frau Lotte, arbeitete Zweig weiter an der Biografie und ließ sie Ende 1941 seinem im schwedischen Exil lebenden Verleger Gottfried Bermann Fischer zukommen.
Wirkungsgeschichte
Die Welt von Gestern erschien erst nach Zweigs Selbstmord 1942 im Exilverlag von Bermann Fischer in Stockholm. Die Nachricht vom Tod des gefeierten Autors löste überall in der Welt Bestürzung aus. Tausende kamen zum Staatsbegräbnis in Brasilien. Zweig hatte seinerzeit ein großes Publikum, manche bezeichneten ihn gar als den erfolgreichsten deutschen Schriftsteller der 20er und 30er Jahre. Entsprechend groß war das Interesse an seinen Memoiren. Thomas Mann, der seinen Schriftstellerkollegen im Exil wegen dessen strikt pazifistischer Haltung kritisiert hatte, konstatierte anlässlich seines Todes: „Sein Weltruhm war wohlverdient und es ist tragisch, dass die seelische Widerstandskraft dieses hochbegabten Menschen unter dem schweren Druck dieser Zeit zusammengebrochen ist. Was ich am meisten an ihm bewunderte, war die Gabe, historische Epochen und Gestalten psychologisch und künstlerisch lebendig zu machen.“ Mann und manche andere Exilschriftsteller brachten zunächst wenig Verständnis für Zweigs Freitod auf, weil er damit den Nazis einen Triumph verschafft habe. Die Welt von Gestern wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Über den Autor
Stefan Zweig wird am 28. November 1881 in Wien geboren; die Familie ist jüdischer Herkunft. Der Junge wächst in großbürgerlichem Milieu auf und erhält eine umfassende humanistische Bildung. Er studiert Philosophie, Germanistik und Romanistik in Wien und Berlin. Schon früh betätigt sich Zweig als Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber, bereits 1901 erscheint mit Silberne Saiten sein erster Gedichtband. Nach der Promotion 1904 unternimmt er zahlreiche Auslandsreisen, die ihn bis nach Amerika und Indien führen. 1920 heiratet er Friderike von Winternitz. Den aufkommenden Nationalsozialismus betrachtet er als Humanist und Pazifist zwar mit Sorge, entscheidet sich aber für eine weitgehend unpolitische Haltung. Dass diese Zurückhaltung unangebracht ist, bekommt er schon bald zu spüren: Als die Nationalsozialisten 1933 die Bücher unliebsamer Autoren verbrennen, sind auch Zweigs Werke darunter. Im Zuge der wachsenden politischen Unruhen in Österreich und unter dem zunehmenden Einfluss der Nationalsozialisten wird das Haus Zweigs 1934 nach Waffen durchsucht. Daraufhin entschließt er sich zur Emigration nach England – ohne seine Frau. In London beginnt er eine Beziehung mit seiner Sekretärin Lotte Altmann. Diese heiratet er 1939, nachdem er sich ein Jahr zuvor von Friderike hat scheiden lassen. Angesichts der zunehmenden militärischen Erfolge der Nazis fühlt sich Zweig auch in England nicht mehr sicher. 1940 emigriert er in die USA, ein Jahr später nach Brasilien. Zusammen mit Lotte lebt er in Petrópolis, in der Nähe von Rio de Janeiro. Das Grauen des Zweiten Weltkriegs und der Siegeszug der Nationalsozialisten erschüttern ihn so sehr, dass er zunehmend an Depressionen leidet. Schließlich nimmt er sich gemeinsam mit seiner Frau am 23. Februar 1942 das Leben. Zu Zweigs wichtigsten Werken zählen die Schachnovelle (1942), die Erzählungen Brennendes Geheimnis (1911) und Verwirrung der Gefühle (1927), der Roman Ungeduld des Herzens (1938) und die Autobiografie Die Welt von Gestern (postum 1942 erschienen).
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