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Geist der Utopie

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Geist der Utopie

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Blochs fulminantes Debüt gilt als das philosophische Werk des Expressionismus.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Marx und Messias

Während des Ersten Weltkriegs, als der junge Ernst Bloch Geist der Utopie verfasste, hatten Erneuerungsbewegungen Hochkonjunktur. Expressionisten und Esoteriker, Sozialisten und jüdische Messianisten, sie alle verband die Hoffnung auf Erlösung, ob nun durch Kunst oder Rausch, Revolution oder Religion. Ernst Blochs fulminantes Debüt vereint all diese auf den ersten Blick unvereinbaren Strömungen zu einem streckenweise schwer verdaulichen Mix. In bester kulturkritischer Manier wettert der Autor gegen die geistig flache und triviale Moderne. Rettung bieten laut Bloch die organisch-expressionistische Kunst, Tagträume und religiöse Vorstellungen, die dem Menschen den Weg zu seinem eigenen Innern, zu seinem utopischen Noch-nicht-Bewussten und einem gelungenen Leben weisen. Blochs überschäumendes Pathos, sein Sendungsbewusstsein und messianischer Impetus mögen heute befremdlich wirken – seine Botschaft, hinter dem Schein des Tatsächlichen das Wahre zu erkennen, spricht jedoch nach wie vor viele Menschen an.

Take-aways

  • Geist der Utopie ist Ernst Blochs 1918 erschienenes fulminantes Debüt.
  • Inhalt: Die Moderne ist von geistigem Niedergang geprägt, die Philosophie ist zu systematisch und wissenschaftlich, und der Staat dient nur ökonomischen Prinzipien. Es ist Zeit, dass der Mensch sich seines Noch-nicht-Gewordenen, der verborgenen Trauminhalte seiner Seele bewusst wird und diese in die Tat umsetzt.
  • Bloch verarbeitet verschiedenste philosophische Traditionen, von Aristoteles über den deutschen Idealismus und Marx bis hin zur Lebensphilosophie Nietzsches.
  • Sein Buch handelt weniger von politisch-gesellschaftlichen als von religionsphilosophischen und ästhetischen Fragen.
  • Utopie ist für Bloch keine feste Vorstellung, sondern ein offenes Konzept, ein noch nicht verwirklichtes Potenzial.
  • Der jüdische Messianismus und die christliche Mystik übten großen Einfluss auf ihn aus.
  • Das Werk entstand unter dem Eindruck esoterischer Erneuerungsbewegungen seiner Zeit.
  • Blochs Sprache ist bildhaft-poetisch, expressiv und voll von überschäumendem Pathos.
  • In der Forschung gilt Geist der Utopie als das philosophische Werk des Expressionismus.
  • Zitat: „Hier fließt allen Nebenflüssen ihr letzthiniges Hauptsystem: die Seele, der Messias, die Apokalypse sind das Apriori aller Politik und Kultur.“ 

Zusammenfassung

Das Wahre hinter dem Tatsächlichen

Das Leben ist leer geworden, es gibt nur grauenvolle Erinnerung. Die Nichtswürdigen wurden verteidigt von den Jungen, die fahnenschwingend in den Krieg gezogen sind, und nun sind sie tot. Dummheit und Mittelmäßigkeit haben triumphiert, unter dem Jubel der Intellektuellen, die nur Phrasen dreschen. Es gibt keinen sozialistischen Gedanken mehr, keine Idee dessen, warum eine Gemeinschaft bestehen sollte. Wohl verspüren wir eine vage Sehnsucht, aber wir schreiten nicht zur Tat, denn es mangelt uns an Aussichten, zu überwindenden inneren Widerständen, Zielen – kurz: an einer Utopie. Hinter dem bloß Tatsächlichen müssen wir die Wahrheit finden, für die es sich zu leben lohnt.

Das Organische in der Kunst

Neben den kunstvoll gestalteten antiken Krügen wirkt der braune Krug aus der rheinfränkischen Gegend grob und unscheinbar. Und doch ist er jenen kostbaren, bewusst modellierten, dabei aber oberflächlichen Exemplaren vorzuziehen. In ihm erkennt man noch das Dunkle, Verschrobene, Gewachsene uralter Zeiten. Wer diesen alten Krug lange genug betrachtet, nimmt seine Farbe und Form in sich auf. Der alte Krug erzieht den Betrachter zu sich selbst hin. Man ahmt ihn nicht nach und fühlt sich nicht in ihn ein, sondern man wird sich seines eigenen Anteils an Dunklem, Nordischem, seltsam Gewachsenem bewusst. Wie es im Innern des Kruges aussieht, ist schwer zu ergründen. Er hat nichts Künstlerisches, aber so wie er müsste ein Gegenstand mindestens aussehen, um als Kunstwerk gelten zu dürfen.

„In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selbst ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden.“ (S. 11)

Früher hatte noch das kleinste Stück gewerblicher Handarbeit etwas Fetischhaftes, Künstlerisches. In Zeiten billiger Massenproduktion ist das verloren gegangen, die Produkte sind austauschbar, langweilig und fantasielos. Die Maschine bestimmt das Tempo, die Arbeiter verrichten nur Teilarbeiten und kommen nicht in den Genuss des Endprodukts. Das Zweckrationale, Konstruierte, Technische herrscht vor. Der verzweifelte Wille zum Ornament lebt im Kunstgewerblichen fort. Bei allem Negativen, das das Stilsterben seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit sich bringt, hat es doch die positiven Kräfte des Expressionismus hervorgebracht. In den Werken Franz Marcs, Kandinskys und Picassos blüht das Ungewollte, Irrationale, Organische wieder auf.

„ Das macht, wir haben keinen sozialistischen Gedanken. Sondern wir sind ärmer als die warmen Tiere geworden; wem nicht der Bauch, dem ist der Staat sein Gott, alles andere ist zum Spaß und zur Unterhaltung herabgesunken.“ (S. 11)

Mit Ausnahme des Barocks wurzelt die Kunst der Neuzeit mit ihrem Hang zum Geschmackvollen, Symmetrischen, Maß- und Taktvollen in der griechischen Antike. Dieses formvollendete Griechische ist aber flach und nur auf äußere Erscheinung aus, während das innere Leben, wie es etwa in alten nordischen Bauernmöbeln zutage tritt, verschlungen, ausschweifend, wild und anorganisch ist. Wenn die Kunst überhaupt noch zu retten ist, muss sie von dieser primitiven nordisch-gotischen Organik lernen. Die expressionistische Kunst steht in dieser Tradition, ihre Kompositionen geben das ganze Spektrum der Emotionen – Hass, Zorn, Liebe, Glut – wieder. In expressionistischen Bildern wird das Ding wieder zur Maske, zum Fetisch, und der Betrachter erkennt in den dargestellten Dingen sein eigenes Inneres, seine eigene Seele.

Träume als Wegweiser

Jeder Mensch muss sich selbst belügen. Ohne die wohltätige Wirkung des Träumens könnten wir nicht existieren. Die einen träumen nur und bleiben in sich. Die anderen machen es besser, handeln und gehen nach außen. Sie versuchen, ihre Träume naiv in die Tat umzusetzen – oft vergeblich, denn wir sind nun einmal nicht allein auf der Welt. So scheitert Don Quichote, weil er in seinen Träumen gefangen bleibt und die gewandelte Umwelt nicht zur Kenntnis nimmt. Sein Irrsinn gründet tief in dem Gegensatz zu seiner Zeit. Es kommt aber darauf an, die eigenen Träume fruchtbar zu machen und dem ziellosen Lauf der Welt eine so gut wie möglich am Wahren orientierte Fantasie einzuhauchen.

„Es gibt keinen Menschen, der ohne die wohltätigen Folgen des Träumens auch nur einen Schritt gehen könnte oder gar imstande wäre, sich zu seiner Tagesarbeit zu erheben.“ (S. 57)

Unsere Träume, das „scheinbar so völlig illusionshafte Hoffenkönnen“, sind der Wahrheit und Realität näher als die tatsächlichen Umstände. Sie sind nicht strikt ichbezogen, sondern stellen mit der Außenwelt verknüpfte Erlebnisse dar. Gehen wir im Traum durch einen Wald, sind das Moos, die Blumen, die Stämme und Wurzeln uns nahe, ja wir sind all das selbst. Solche Erfahrungen zeigen uns das noch Namenlose, nicht Gewordene unseres Bewusstseins und weisen uns den Weg dorthin.

Gegen den westeuropäischen Rationalismus

Wir erleben einen seit Generationen anhaltenden geistigen Niedergang und einen Hang zur Trivialisierung. Was aus eigenem Antrieb und als ursprüngliches Erleben stattfinden sollte, ist zu leeren Floskeln herabgesunkenen. Der Geist, dessen Aufgabe es ist, tätig zu sein und in die Tiefe zu gehen, wird von Schwätzern und Intellektuellen abgetötet. Ein naturwissenschaftliches, spekulatives und rational orientiertes Denken herrscht vor. Die westliche Philosophie ist seit Newton und Kant zu reinem Szientismus verkommen. Für Mysterien und alte Volksrituale, religiöse Vorstellungen, Zauber- und Hexenglauben, Sternzeichen und Tierkreise, für die tiefe Wahrheit von Sagen und Märchen ist da kein Platz mehr.

„Es ist der Mensch, das Erste, Letzte, Freieste, oder noch hüllenloser gesehen: das Wir, das den Messias sucht und auf den Messias wartet.“ (S. 277) “

So weltlich und enzyklopädisch unser Bewusstsein, so schwach und rein vom Intellekt bestimmt ist unser Gottesbild. Dabei wäre es die Aufgabe des Denkers, jenseits aller Rationalität die eigene Existenz zu verstehen. Eben dazu dienen die christlichen Gleichnisse, die den Menschen unmittelbar ansprechen und ihn seine verborgenen, fremden Seiten erkennen lassen. Der Mensch sucht den Messias und wartet auf ihn. Doch der rationale, abstrakte Denker will von dem Sich-Finden der Seele, von Innerlichkeit und Existenznot nichts wissen. In seinem logischen Rationalismus wertet er alle Dunkelheiten als Paradoxien ab. Das abstrakte, ichferne Denken hat dazu beigetragen, dass die Menschen heute so matt und arm sind. Sie begreifen nicht, dass Subjektivität und Innerlichkeit die Voraussetzungen sind, um Gott und die Wahrheit zu erkennen.

„Wir sind nun freilich so matt und seelisch verschleiert geworden, daß wir unsere Armut kaum mehr fühlen.“ (S. 277)

Das essayistische Denken dagegen verbindet zwei widersprüchliche Denkarten: die liebevolle Anschauung des Einzelnen und den stürmischen Drang nach Ziel und Sinn des Lebens. Der essayistische Denker betrachtet das Kleine, Unscheinbare, Alltägliche und wird von ihm durchsetzt. Er gleicht sich dem von ihm  Betrachteten an, er wird angefüllt mit der Pflanze, dem Stein oder Krug. Er geht in das Einzelne, zur historischen Realität Gewordene der Welt hinein und gelangt so zu sich selbst, zu seinem lebendigen, musischen, gläubigen Ich.

Für einen theoretischen Messianismus

Es bedarf einer neuen Erkenntnistheorie, die jenseits aller objektiven Fakten und positiven empirischen Einzelwissenschaften nach der Wahrheit, der utopischen Wirklichkeit der Dinge, der Menschen und ihrer Werke fragt. Eine solche setzt die Logik des Tatsächlichen keineswegs außer Kraft. Aber es gibt eine zweite, transzendente Wahrheit, die vom Subjekt abhängig ist. Es bedarf der Konzentration auf sich selbst, auf das eigene reinere und höhere Leben, auf die innere Erleuchtung und Erlösung von der existenziellen Leere, dem Tod und dem Bösen. Der Drang, in sich hineinzulauschen und so der zu werden, der man ist, wird zu einer Erneuerung der ganzen Welt und der gegebenen Wirklichkeit führen.

„Der Wunsch baut auf und schafft Wirkliches, wir allein sind die Gärtner des geheimnisvollsten Baums, der wachsen soll.“ (S. 337 f.)

In dieser neuen Art von Messianismus herrscht kein allmächtiger Gott und keine Vorstellung von Gnade, Opfer oder Knechtschaft. Es gibt auch kein vorausbestimmtes und fest definiertes Ziel, sondern die Menschen dienen einander und behaupten sich stolz gegen Gott und die Welt. Die Menschen sind schutzlos, doch tief in ihnen verborgen schläft ein bislang unbekannter Christus, der noch nicht erschienene Messias. In ihm vereinigen sich das Judentum, das romantische, barocke Deutschtum und das sozialistische Russland, in dem wir zurzeit jenseits aller liberalen angelsächsischen Oberflächlichkeit die Geburt des wahrhaft freien Menschen erleben.

Die Liebe als Weg nach Innen

Die Menschen frieren, es herrscht Kälte in ihrem Umgang miteinander, besonders seit sie die Geldwirtschaft eingeführt haben. Der Mann ist vollständig durch den Beruf, durch die Art seines sozialen Nutzens bestimmt. Er führt eine leblose, verkümmerte Existenz, die er nur bereichern kann, indem er an der Wärme und Fülle des Daseins teilhat, wie sie die Frau verkörpert. Allerdings sind in unserer modernen Zeit die Frauen, die der Not oder ihrem Talent folgend einen Beruf ergreifen, ebenso farblos und armselig wie die Männer –  sofern ihr Beruf nichts mit Einfühlsamkeit und Zuwendung zu tun hat.

„Wir frieren, es ist kalt unter uns zu leben.“ (S. 342)

Der Zwang zur Reproduktion allein kann das Phänomen der Liebe zwischen Mann und Frau nicht erklären. Auch der vollkommen geistesfremde, organisch-tierische sexuelle Akt ist kein ausreichender Grund. Tatsächlich herrscht beim Geschlechtsakt zunächst nur Wollust und leerer Genuss, aber schon bald schlägt die Begierde um, und die Liebe wird stärker als das Ich und als der Tod. Aus dem reinen körperlichen Genuss wird eine Art geistiger Innenschau. Durch die Verschmelzung von Mann und Frau und die Befruchtung wird zudem den Seelen, die noch nicht geworden sind, ein Körper gegeben, sodass die Menschheit nicht aufhört zu existieren, solange der Messias noch nicht geboren ist.

Gegen Geldwirtschaft und Arbeitszwang

Das moderne Staatsleben ist einzig von geldwirtschaftlichen Zielen bestimmt – ein echtes Armutszeugnis. Zwar gibt es auch idealistische Bestrebungen, aber man gesteht ihnen nicht die Kraft zu, etwas zu verändern. Das Geschäftliche dominiert, das Geistige ist beliebig geworden. Wenn die Menschen nicht gezwungen wären zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wären sie gewiss nicht so böse. Die Sorge um das alltägliche Überleben tut ihrer Seele nicht gut. Gut sein bedeutet schuldlos zu sein, die anderen Menschen nicht auszubeuten und anzufeinden, sondern ihnen zu helfen. Das aber verhindern die Geldwirtschaft und das vom Staat geschützte Eigentum. Die Hierarchie im Staat sollte also besser nicht in der Ökonomie gründen. Idealerweise stünden am unteren Ende der Gesellschaft Bauern und Handwerker, oben wäre ein Adel, der sich durch Ehre und Ruhm konstituiert und weder Krieg noch Leibeigenschaft kennt. Ihm sollten ritterliche, fromme Menschen angehören, die eine Art geistige Aristokratie bildeten.

„Die meisten Menschen wären weniger böse, wenn sie weniger zum Erwerb gezwungen wären.“ (S. 403)

Der zunehmende Einsatz von Maschinentechnik wird künftig zur Abschaffung der Armut und Entlastung der Menschen von ökonomischen Fragen führen. Die Staaten und Kulturen werden enger zusammenrücken, der universelle Christus wird auf die Welt kommen. Die erneuerte Kirche als metaphysische Erziehungs- und Heilanstalt wird sich stärker des inneren, irrationalen Wesens im Menschen annehmen. Darin besteht die wahre sozialistische Idee: dass die Menschen frei werden – nicht in dem Sinne, dass die Bequemlichkeiten und Genüsse, die bislang den oberen Klassen vorbehalten waren, nun plötzlich allen verfügbar sind. Ziel ist es vielmehr, dass jeder Mensch arbeitsfreie Zeit hat, um sich selbst in seiner existenziellen Not und Bedürftigkeit zu erfahren, auf dass er in der Stunde seines Todes mit sich im Reinen sei.

Die echte soziale und kulturelle Ideologie

Marx spricht von den notwendigen wirtschaftlichen Änderungen, aber über das Sittliche, über die moralischen Konsequenzen, die sich aus der richtigen Wirtschaftsweise des Sozialismus ergeben, schweigt er. Der von Grund auf atheistische Marxismus will dem Menschen einen Himmel auf Erden bereiten –  praktisch, kalt, ohne transzendente Momente. Die echte sozialistische Ideologie dagegen richtet sich gegen das Kalte, Böse, das uns in Form von Ich- und Gottvergessenheit sowie Transzendenzverlust heimsucht. Der Satan macht uns hart und sorgt dafür, dass wir uns vor unseren Nächsten verschließen und uns nicht mehr für die Gemeinschaft und das Wesentliche interessieren. Kunst, Philosophie und Religion haben die Aufgabe, die Kälte in unseren Herzen zu vertreiben, dem Neid, der Erschlaffung und Verhärtung des Geistes entgegenzuwirken und die Seele zu erschaffen.

„Denn es gibt letzthin nichts unter allen Dingen zu bedenken als die Seele, das noch verhüllte innere Wesen, das Erste, Letzte und Freieste, einzig Metaphysische und Allerrealste auf der Welt.“ (S. 404)

Die eigentliche Erbsünde besteht nicht darin, dass der Mensch Gott gleichen will, sondern darin, dass er nicht wie Gott und Jesus sein will. Wenn wir nach dem im Johannes-Evangelium angekündigten apokalyptischen Weltuntergang und der Zerstörung alles Seienden vor Gott stehen werden, wird am Ende nur noch unser seelischer Besitz zählen, also das Ausmaß, in dem wir es geschafft haben, die göttlichen Anlagen in uns zu verwirklichen. Dabei dürfen wir uns Gott nicht als einen Richter vorstellen, der uns am Jüngsten Tag straft und uns in die Hölle schickt. Wenn wir es nicht geschafft haben, Gott als treibende Kraft in uns zu finden, ist das an sich schon Strafe genug. Die menschliche Seele trägt das Göttliche in sich, und im Traum erhält sie eine Ahnung davon. Unsere Aufgabe besteht darin, diesen Trauminhalt der Seele, dieses utopisch Tatsächliche in der Zukunft zur Realität werden zu lassen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Aufbau von Geist der Utopie ist uneinheitlich und nicht symmetrisch: Einige der sechs Großkapitel sind in sich unterteilt, andere nicht. Manche Unterkapitel haben Überschriften, andere Randtitel, bei wieder anderen fehlt jede Gliederung. Bloch unterstreicht damit formal das Organische seines Werks, den unwissenschaftlichen, fragmentarischen, essayistischen Charakter. Sein Stil ist bildhaft, poetisch, pathetisch, mit einer Neigung zum Predigthaften. Die langen, atemlosen Sätze sind verschachtelt und reichen oft über Seiten. Blochs suggestive, expressionistische Poetik drückt sich auch in zahlreichen Wortneuschöpfungen aus, darunter „Ichkristallwald“, „Mückenseele“ oder „Geisteszigeuner“. Ständig bezieht Bloch sich direkt oder indirekt auf die Quellen seines Denkens, von der Bibel und antiken Mythen bis zu Dostojewski, von Aristoteles bis zu Kierkegaard, Hegel und Nietzsche. Die Kombination aus einem überschäumenden, bildhaft-poetischen, pathetischem Stil und der beim Leser als selbstverständlich vorausgesetzten theoretischen Kenntnis der großen Dichter und Denker macht die Lektüre äußerst schwierig.

Interpretationsansätze

  • Geist der Utopie, das sich selbst in unterschiedlichen philosophischen Traditionen – von Aristoteles über den deutschen Idealismus eines Kant und Hegel sowie Marx bis hin zur Lebensphilosophie Bergsons und Nietzsches – verankert, handelt nicht von politischen, sondern von ästhetischen und religionsphilosophischen Themen. Wenn Bloch das Neue beschwört, zielt er nicht auf einen politischen Umsturz, sondern auf einen „Geist der Utopie“, der in der Kunst, insbesondere in der Musik, aber auch in der Mystik für den Einzelnen spürbar wird.

  • Utopie ist für Bloch ein offenes Konzept, ein Schoß von Möglichkeiten und die treibende Kraft, die Mensch und Materie innewohnt. Im Kunstwerk, aber auch in der Natur begegnen wir demnach uns selbst, unserem eigenen Dunklen, Verborgenen, dem Noch-nicht-Gewussten. 

  • Obwohl Bloch selbst Atheist war, ist sein Werk stark von religiösem Denken beeinflusst. Eine zentrale Rolle spielt der jüdische Prophetismus und Messianismus einerseits sowie die christliche Mystik und Eschatologie andererseits. Zusammen bilden sie gegen die Theokratie und die Sakralisierung der Macht das utopische Element in der Religion.

  • Von den frühchristlichen Gnostikern Marcion und Basilides übernimmt Bloch das Konzept der Innensicht und Selbstbegegnung, das zur Erlösung des Menschen führt. Gnosis bezeichnete ein verborgenes Wissen von den Ursprüngen des Universums und seinem Untergang. Die sichtbare Welt ist demnach ein Chaos und eine Illusion, die es durch Versenkung in sich selbst und durch Rauscherfahrung zu überwinden gilt.

  • Mit den Gnostikern, aber auch mit den Expressionisten, als deren Philosoph er sich selbst sieht, teilt Bloch die Vorstellung, dass eine totale Zerstörung der alten Welt nötig sei, um etwas radikal Neues, Utopisches aufzubauen. Der Untergang der Welt und der Menschheit ist demnach gleichbedeutend mit ihrer Erlösung.

  • Als hellseherische Lichtgestalten in einer von Dummheit und Mittelmaß geprägten Zeit nennt Bloch Stefan George und Rudolf Steiner, dem er bei aller Kritik bescheinigt, mit seiner Theosophie die alten Verbindungen zu verschüttetem Wissen wieder aufzunehmen. Vor allem aber sah er sich selbst als Vorläufer eines neuen Messias. Seinem Freund Georg Lukács schrieb Bloch 1911, die Menschen, denen er gesandt sei, würden „in sich den heimkehrenden Gott erleben und verstehen“.

Historischer Hintergrund

Esoterische Erneuerung und moderner Messianismus

Die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war in Deutschland von künstlerischen, religiösen und sozialen Erneuerungsbewegungen sowie einem leidenschaftlichen Idealismus geprägt. Der Expressionismus, der zwischen 1910 und 1920 seine fruchtbarste Zeit erlebte, richtete seinen Protest gegen die bestehende bürgerliche Ordnung und schrieb der Kunst eine erlösende Funktion zu. Künstler wie Franz Marc, Ernst Ludwig Kirchner und Wassily Kandinsky propagierten mehr Direktheit, Authentizität und Subjektivität in der Malerei. Die expressionistischen Literaten bevorzugten Themen wie Weltuntergang und Zerfall, Krieg und Großstadt, Rausch und Zerfall. So entwickelte Gottfried Benn eine eigene Ästhetik des Abstoßenden, Schockierenden, Kranken. Viele Dichter begrüßten 1914 den Ersten Weltkrieg als Geburtshelfer eines neuen Deutschlands, so etwa Georg Trakl oder Georg Heym, der über Langweile und den „faden Geschmack der Alltäglichkeit“ klagte und sich einen Krieg herbeiwünschte, nur um den Rausch der Begeisterung zu spüren.

Stefan George hingegen, dessen dunkel raunende Gedichte einem totalen Ästhetizismus huldigen, stand dem Krieg eher skeptisch gegenüber. In den Vorkriegsjahren scharte er einen Kreis ergebener Jünger um sich, die sich von seiner dämonenhaften Erscheinung magisch angezogen fühlten und in ihm den Propheten eines neuen Reiches erkannten. Ein starker Hang zur Esoterik zeichnete auch den theosophischen, ab 1912 „anthroposophischen“ Ansatz Rudolf Steiners aus. In seinen Schriften, die schon vor dem Krieg rasanten Absatz fanden, verteidigte Steiner übersinnliche Welterkenntnis gegen die positivistisch ausgerichtete Wissenschaft seiner Zeit: Neben der sichtbaren physischen gelte es, eine seelische und geistige Welt zu erforschen. Steiners „Geisteswissenschaft“, die die Lehre von Karma und Wiedergeburt mit Okkultismus und schwärmerischem Mystizismus verband, sollte den Menschen in die Lage versetzen, die materielle Welt aus der geistigen heraus zu verstehen und neu zu gestalten.

Von großer Bedeutung in jener Zeit war auch das jüdische Denken, zu dessen wichtigsten Vorstellungen seit der Antike der Messias zählte, der die Weltgeschichte zu Ende bringen oder zum Besseren wenden soll. Ab den 1840er-Jahren beriefen sich liberale Rabbis, Zionisten und jüdische Sozialisten auf das Messianische, das heißt auf die Veränderbarkeit und Machbarkeit von Geschichte und die Verbesserung der politisch-sozialen Zustände, ohne jedoch auf die Figur des Messias-Königs zu rekurrieren. Zu den wichtigsten Vertretern dieses im frühen 20. Jahrhundert überaus einflussreichen „Messianismus ohne Messias“ zählten Hermann Cohen, Martin Buber und der radikale jüdische Sozialist Gustav Landauer, der am Marxismus die Kälte bemängelte, den modernen Staat ablehnte und eine Rückkehr zur mittelalterlichen Kommune forderte. Im Unterschied zu Vertretern des Zionismus richtete Landauer seine Hoffnung nicht auf Israel, sondern auf das Russland der Oktoberrevolution.

Entstehung

Noch vor dem Ersten Weltkrieg freundete Bloch sich mit Georg Lukács an, der ihn dazu inspirierte, die gnostische Literatur zu studieren. In dieser Zeit setzte er sich auch intensiv mit dem jüdischen Messianismus und den Schriften Bubers und Landauers auseinander. Bloch, einer der wenigen Denker, die den Kriegsausbruch nicht begrüßten, begann 1915 mit der Arbeit an Geist der Utopie und vollendete das Werk 1917 während seines Exils in der Schweiz, wo er für Max Webers Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik über pazifistische Utopien in der Schweiz forschte. Während seines Aufenthalts in der alternativen Künstlersiedlung am Monte Verità in der Nähe von Ascona, wo viele Emigranten vor den Kriegswirren Zuflucht suchten, vollendete er sein Werk.

Der Dirigent Otto Klemperer, der das Manuskript von Georg Simmel bekam, war von Blochs musiktheoretischen Ausführungen so begeistert, dass er das Werk dem Verlag Duncker & Humblot zum Druck empfahl. 1918 erschien die erste Auflage von Geist der Utopie in dem Berliner Verlag, 1923 folgte die zweite, veränderte Auflage, die stärker an Marx und weniger an Religionsphilosophie und Theosophie orientiert war.

Wirkungsgeschichte

Geist der Utopie wurde 1918 als zeitgemäßes Buch aufgenommen – im Guten wie im Schlechten. So nannte der pazifistische Literat Kurt Hiller Blochs Debüt abfällig das in „dunkler Tunke“ geschriebene „Weltanschauungsbuch der Saison“, während andere den Autor als zornigen, gotterfüllten Propheten feierten. Walter Benjamin schrieb 1918, er verdanke dem Buch Wesentliches, grenzte sich aber zugleich scharf von dessen utopischem Messianismus ab. Gershom Sholem kritisierte Blochs Christologie, seinen lockeren Umgang mit Quellen und das nicht eindeutige Bekenntnis zum Judentum. Obwohl Geist der Utopie kein eigenes philosophisches System entwickelt, beeinflusste es Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Jean-François Lyotard oder Gianni Vattimo maßgeblich. In der Forschung gilt Geist der Utopie als das philosophische Hauptwerk des Expressionismus.

Über den Autor

Ernst Bloch wird am 18. Juli 1885 in Ludwigshafen geboren. Er entstammt einer Familie jüdischen Glaubens und wächst in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Schon früh ist er von den Schriften Schellings fasziniert. Er studiert in München und Würzburg Philosophie und schließt 1908 mit einer Promotion über Heinrich Rickert ab. In den folgenden Jahren gehört Bloch in Heidelberg zum Kreis um Max Weber. Von 1917 bis 1919 lebt der Pazifist aus Protest gegen den Ersten Weltkrieg als Emigrant in der Schweiz. Dort schließt Bloch sein 1918 veröffentlichtes Werk Geist der Utopie ab, worin er sich zum ersten Mal als undogmatischer Marxist profiliert, der sich auch an Themen der religiösen Offenbarung orientiert. In den 1920er-Jahren arbeitet er als freier Publizist in Berlin, von wo aus er nach der Machtergreifung der Nazis emigriert, zuerst wieder in die Schweiz, dann nach Wien und Prag. In jener Zeit entsteht ein dunkler Fleck in Blochs Biografie: Gegenüber seinen Freunden Georg Lukács und Theodor W. Adorno verteidigt er vehement Stalins Schauprozesse, eine Position, die Bloch erst 1956 im Zuge der Entstalinisierung der Sowjetunion aufgeben wird. 1938 emigriert er in die USA und beginnt dort die Arbeit an seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung. Mit hohen Erwartungen an den sozialistischen Neuaufbau kehrt Bloch 1949 in die DDR zurück, wo er eine Professur in Leipzig erhält. Das Prinzip Hoffnung erscheint in drei Bänden zwischen 1954 und 1959 in der DDR. Dort wird Bloch wie ein Staatsphilosoph behandelt – bis er die Staatsführung wegen der Unterdrückung des Ungarnaufstandes 1956 offen kritisiert. Das wird zum äußeren Anlass des Bruches. 1957 wird er zwangsemeritiert. Als Walter Ulbricht 1961 die Mauer errichten lässt, entschließt sich Bloch, der DDR den Rücken zu kehren, und nimmt eine Gastprofessur in Tübingen an. Dort stirbt er am 4. August 1977.

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