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Kindheitsmuster
Buch

Kindheitsmuster

Berlin, Weimar, 1976
Diese Ausgabe: Suhrkamp, 2007 Mehr

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Literatur­klassiker

  • Autobiografie
  • Nachkriegszeit

Worum es geht

Verdrängte Kindheit im Nationalsozialismus

„Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?“ Diese Frage zieht sich als Leitmotiv durch Christa Wolfs autobiografisches Werk Kindheitsmuster. Auf der Suche nach ihrer Vergangenheit unternimmt die Erzählerin 1971 eine Reise in ihre nunmehr in Polen gelegene Heimatstadt. Sogleich steigen Erinnerungen auf: an alltägliches Kindheitsglück; an das in ihrer Familie herrschende Schweigegebot zu bestimmten Themen wie den Nazis oder den Juden; an die ideologische Indoktrination in der Schule und im Bund Deutscher Mädel; an ihre Zeit als BDM-Führerin; an Lüge, Scham und Verstellung. Schonungslos schildert Wolf die Verstrickungen ihres kindlichen Alter Egos Nelly Jordan im Nationalsozialismus, ihre Hingabe an den Führer, dem sie bis zuletzt die Treue hält, und die Flucht ihrer Familie vor der Sowjetarmee in den Westen im Jahr 1945 – in der DDR, wo das Dogma von den Sowjets als Befreier galt, ein Tabu. Indem die Erzählerin den Erinnerungsstrom immer wieder unterbricht und den Blick auf ihre Gegenwart richtet, macht sie den tieferen Sinn ihres Schreibens deutlich: Solange wir uns nicht erinnern und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, wird sich die Geschichte wiederholen.

Zusammenfassung

Das vergessene Kind

Im Sommer 1971 begibt sich die Erzählerin auf eine Reise zu den Stätten ihrer Kindheit. Zusammen mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder Lutz, ihrem Ehemann H. und ihrer 14-jährigen Tochter Lenka fährt sie in die in Polen gelegene Stadt G., in der sie 1929 geboren wurde und aufgewachsen ist. Damals hieß diese Stadt östlich der Oder, in der sie seit ihrer Flucht 1945 nicht mehr gewesen ist und wo sie heute niemanden mehr kennt, noch L. und gehörte zum Deutschen Reich. Die Erzählerin kann sich nur lückenhaft an diese Zeit erinnern. Das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen ist und das sie rückblickend Nelly Jordan tauft, ist für die Erwachsene nach 40 Jahren unerreichbar. Sie hat es vergessen und verdrängt. Durch die Rückkehr nach L. hofft sie, dieses Kind kennenzulernen und endlich zu verstehen.

Als sie vor ihrem ehemaligen Elternhaus steht, kommen ihr nach und nach Erinnerungen: an Märchenwesen, die Nellys Fantasie bevölkerten; an die Entdeckung ihres Ichs im Alter von drei Jahren; an unterdrückte Mordgedanken gegenüber ihrem neugeborenen Bruder...

Über den Autor

Christa Wolf wird am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe geboren. Nach der Vertreibung 1945 lässt sich ihre Familie in Mecklenburg-Vorpommern nieder. Wolf arbeitet zunächst als Schreibkraft und macht 1949 ihr Abitur. Im selben Jahr tritt sie der SED (Sozialistische Einheitspartei) bei. Während des Germanistikstudiums lernt sie ihren späteren Mann, den Schriftsteller Gerhard Wolf, kennen. Nach dem Studium arbeitet Christa Wolf zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin für den Deutschen Schriftstellerverband, dann als Verlagslektorin und als Redakteurin einer Literaturzeitschrift. Ab 1962 ist sie freie Schriftstellerin. Ein Jahr darauf erscheint der Roman Der geteilte Himmel, eine Auseinandersetzung mit dem Mauerbau und mit unterschiedlichen Lebensentwürfen in beiden Teilen Deutschlands. Christa Wolf gilt als Vorzeigeintellektuelle der jungen DDR, doch schon bald gerät sie wegen ihres subjektiven Stils und der Behandlung kontroverser Themen in Konflikt mit dem Machtapparat. Ihr zweiter Roman Nachdenken über Christa T. (1968) erscheint zunächst nur in kleiner Auflage. 1976 unterstützt die Autorin den Protest gegen die Zwangsausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Bei aller Kritik bleibt sie der Idee des Sozialismus dennoch treu. Als sogenannte loyale Dissidentin darf sie reisen, hält Vorträge im Ausland und wird zunehmend als gesamtdeutsche Schriftstellerin anerkannt. 1980 erhält sie den renommierten westdeutschen Georg-Büchner-Preis. 1983 erscheint ihre Erfolgserzählung Kassandra. Nach dem Fall der Mauer setzt Wolf sich für den „dritten Weg“ einer reformierten DDR und gegen die Wiedervereinigung ein. 1993 gibt sie zu, zwischen 1959 und 1962 als IM (inoffizielle Mitarbeiterin) für die Stasi gearbeitet zu haben, weist aber auch darauf hin, dass sie ab 1969 permanent von der Spitzelbehörde überwacht wurde. In den 90er-Jahren diffamieren westliche Kritiker die einst gefeierte Schriftstellerin als „Staatsdichterin der DDR“. Sie stirbt am 1. Dezember 2011 in Berlin.


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