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Der Brief des Lord Chandos

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Der Brief des Lord Chandos

Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte

Reclam,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Tiefster Zweifel am Wort – höchst virtuos in Worte gefasst.


Literatur­klassiker

  • Sprache & Kommunikation
  • Moderne

Worum es geht

Am Anfang war das Wort – und nun ist es am Ende

Ein frühes Dichtergenie schwört dem Schreiben ab, weil ihm die Worte plötzlich suspekt geworden sind. Die Situation, die der 28-jährige Hugo von Hofmannsthal in seinem fiktiven Brief eines englischen Lords an den Philosophen und Naturwissenschaftler Francis Bacon geschaffen hat, verweist auf seine eigene Lage und weicht doch deutlich von ihr ab: Auch Hofmannsthal galt als Wunderkind, auch er ist ein Aristokrat, auch er durchläuft eine sprachskeptische Phase. Und doch ist seine eigene Dichterexistenz nicht infrage gestellt, geht kein zweijähriges literarisches Schweigen dem Text voraus. Hofmannsthal spielt an Lord Chandos radikal durch, was ihm selbst Unbehagen bereitet. Die auf das Jahr 1603 datierte historisch-fiktive Maskerade von 1902 befindet sich zwischen den Zeiten und Gattungen, sie ist ein sprachkritischer, poetologischer Essay in Briefform, ein künstlerisches Manifest, eine zentrale Schrift nicht nur in Hofmannsthals Werk, berühmt geworden als Schlüsseltext der Moderne. Hofmannsthal macht die Sprachkrise durch brillant gesetzte Worte höchst anschaulich; man begreift das Leid des Lords ebenso wie die plötzlichen Offenbarungen, die ihm zuteilwerden und die eine neue Dichtkunst aufscheinen lassen.

Take-aways

  • Ein Brief von Hugo von Hofmannsthal gilt als Schlüsseltext der Sprachskepsis und als künstlerisches Manifest der Moderne.
  • Inhalt: Lord Chandos, früh als Dichter berühmt geworden, begründet 1603 in einem Brief an Francis Bacon, warum er nie mehr schreiben wird: Die Worte sind ihm suspekt geworden, sie enthalten keine Wahrheit und können keinen Zusammenhang mehr stiften.
  • Einige Sätze aus dem Brief wurden zu geflügelten Worten, etwa: „Was ist der Mensch, dass er Pläne macht!“
  • Zwischen Hofmannsthal und dem jungen Lord gibt es Parallelen: Hofmannsthal schrieb den Text mit 28 Jahren, mit 16 hatte er als literarisches Wunderkind gegolten.
  • Die Sprachlosigkeit wird ironischerweise sehr sprachmächtig beschrieben.
  • Der Text verweist auf eine neue Sprache, die als eine neue Dichtung zu verstehen ist und die das Durchbrechen herkömmlicher Wahrnehmungsmuster voraussetzt.
  • Später wandte sich Hofmannsthal Ausdrucksformen zu, die weniger stark auf der Sprache beruhen, etwa dem Tanz und der Oper.
  • Hofmannsthals Heimatstadt Wien war um 1900 ein wichtiges künstlerisches Zentrum. Die Endzeitstimmung brachte neue künstlerische Strömungen hervor.
  • Der deutsche Text mit seinem fiktiven englischen Lord, der antike Dichter liebt und auch italienische und spanische Werke liest, öffnet eine europäische Perspektive.
  • Zitat: „(…) die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend welches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“

Zusammenfassung

Eine Antwort

Philipp Lord Chandos, 26 Jahre alt und Sohn des Earl of Bath, schreibt am 22. August 1602 einen Brief an seinen Freund Francis Bacon. Damit antwortet er auf ein Schreiben von Bacon, in dem dieser sich darüber beklagt, kein literarisches oder philosophisches Werk mehr von Chandos erhalten zu haben – wo er schon den persönlichen Umgang mit ihm entbehren müsse. Bacon sorgt sich um den Freund. Chandos hat sich seit zwei Jahren nicht bei ihm gemeldet. In seiner Antwort setzt Chandos zu einer Begründung und Rechtfertigung seines literarischen Schweigens an.

Werke und Pläne in glücklichen Tagen

Chandos kann kaum glauben, dass er derselbe Mensch ist wie der damals 19-Jährige, der drei wortmächtige Schäferspiele schrieb. Diese Dramen, die seinerzeit einige Popularität erlangten, erscheinen ihm jetzt ebenso fern wie das lateinische Traktat, das er mit 23 Jahren schrieb: Den Grundeinfall dazu hatte er in Venedig und die vorgestellte Form, die ihm damals ganz plötzlich vor Augen stand, begeisterte ihn mehr als die venezianischen Prachtbauten um ihn herum. Jetzt löst der Titel, den er selbst dem Text gegeben hat, nur noch ungläubige Verwunderung bei ihm aus, als er ihn in Bacons Brief liest.

„(…) daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt, als von denen, die hinter mir sind (…)“ (S. 47)

Der Abgrund, der ihn von seiner literarisch produktiven Vergangenheit trennt, schneidet ihn ebenfalls von künftigen Werken endgültig ab. Da hilft es auch nichts – obwohl es ihn sehr rührt –, dass Bacon ihm in seinem Brief die Pläne zu Werken aufzählt, von denen Chandos ihm einst voller Begeisterung erzählt hat: Er hatte die ersten Regierungsjahre Heinrichs VIII. literarisch gestalten wollen; die hinterlassenen Schriften seines Großvaters, des Herzogs von Exeter, sollten die Grundlage dafür sein.

„Was ist der Mensch, daß er Pläne macht!“ (S. 48)

Hinsichtlich der Form war er stark von Sallust geprägt – bei diesem fand er eine formale Gestaltung, die nicht nur rhetorisches Kunststück ist, sondern auch von tieferer Wahrheit durchdrungen ist, die sich mit der Dichtung vereint.

Ein anderer einstiger Plan war, Fabeln und mythische Erzählungen aus der Antike zu bearbeiten: Chandos fühlte eine große Lust, in den alten mythologischen Gestalten zu verschwinden und aus ihnen heraus zu sprechen.

„Mein Fall ist, in Kürze, dieser: es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“ (S. 50)

Auch hatte er vor, ein enzyklopädisches Werk zu verfassen, in das er besonders denkwürdige Aussprüche gelehrter Männer und Frauen aufnehmen wollte, aber auch solche von klugen Köpfen aus dem Volk oder von Menschen, die ihm auf Reisen begegnet sind. Diese gesammelten Zitate wollte er mit schönen Sentenzen aus Büchern zusammenbringen, auch mit der Schilderung schöner Feste, imposanter Bauwerke, denkwürdiger Verbrechen und verrückt gewordener Leute.

„(…) die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend welches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“ (S. 51)

Was ihn damals seine Werke schreiben und Pläne zu weiteren Werken entwerfen ließ, war ein innerer Zustand, der einem permanenten Rausch gleichkam und in dem er alles als Einheit empfand: Geist und Körper, die Welt des Hofes und die Welt der Tiere, Kunst und Natur, Einsamkeit und Gesellschaft. Er konnte all das voll auskosten, nahm in allem Authentizität wahr und war in all diesen Lebenserscheinungen mit sich selbst verbunden. Ob er nun auf seiner Jagdhütte frisch gemolkene Milch trank oder ob er gelehrte Bücher las – alles war für ihn bunt und real, alles erschien ihm als Gleichnis, jede Erscheinung der Welt als Schlüssel zu einer anderen Erscheinung. Er selbst fühlte sich, als sei er imstande, sie alle aufzuschließen.

Der Fall

Im Nachhinein könnte jemand mit religiöser Neigung diesen Zustand vielleicht als Anmaßung begreifen und dessen Folge, die jetzige zweifelnde Kraftlosigkeit, als göttliche Strafe für diese Anmaßung. Doch solche religiösen Erklärungsmuster haben keine Macht über Lord Chandos: Die Religion ist für ihn nur eine höhere Chiffre. Sie entzieht sich ihm, wenn er Trost bei ihr sucht.

„Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.“ (S. 52)

Sein Problem ist, dass sich ihm alles entzieht: Er will nach etwas greifen und greift ins Leere. Die Zusammenhänge sind ihm verloren gegangen, beim Denken wie beim Sprechen. Das erste Symptom dieser Krankheit war, dass ihn ein merkwürdiges Unbehagen befiel, wenn über ein abstraktes Thema gesprochen wurde und wenn es galt, Wörter wie „Geist“ oder „Seele“ zu gebrauchen. Ihre Bedeutung zerfiel ihm, sie konnten nichts mehr in sich fassen.

„In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte (…) mir mehr als die schönste, hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist.“ (S. 55)

Er schildert eine Szene mit seiner vierjährigen Tochter: Er hatte das Mädchen bei einer Lüge erwischt und wollte nun mit ihr über die Notwendigkeit sprechen, immer die Wahrheit zu sagen. Doch die Begriffe, die er zu diesem Zweck gebrauchen wollte, nahmen in seinem Mund eine so mehrdeutige Färbung an, dass er ins Stottern geriet und bleich wurde. Er ließ das Kind stehen, ritt im Galopp davon und gewann erst nach einiger Zeit die Fassung zurück.

„Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffren, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken.“ (S. 56)

Dieses Unvermögen griff weiter um sich. Selbst in Alltagsgesprächen wurde es Lord Chandos jetzt unmöglich, beiläufige Urteile abzugeben, die etwa aussagen, ob eine Sache für jemanden gut oder schlecht ausgegangen ist, ob jemand ein guter, ein anderer ein schlechter Mensch sei, ob dieser zu beneiden, jener zu bedauern sie. All diese Urteile schienen ihm nicht haltbar, also zog er sich von ihnen zurück. Er hatte das Gefühl, als würde er alles aus zu großer Nähe sehen, jeder Überblick war ihm abhandengekommen, alles zerfiel in Details und diese Details zerfielen in noch kleinere Ausschnitte. Die Wörter schienen ihn wie aus Augen anzustarren oder ihn wie Strudel in die Leere zu ziehen.

„Und das Ganze ist eine Art fieberisches Denken, aber Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte.“ (S. 58)

Er suchte Trost und Rettung in der geistigen Welt der Antike, in den wohlgeordneten Begriffen von Seneca und Cicero – vergebens. Er verstand ihre kunstvoll arrangierten Begriffe zwar, fühlte sich von ihrer Harmonie aber ausgeschlossen und erst recht in die Einsamkeit gestoßen.

Seitdem führt er ein Leben, dessen Geistlosigkeit Bacon kaum wird nachvollziehen können – dabei unterscheidet es sich allerdings kaum vom Leben der meisten Adligen.

Einzelne begeisternde Momente

Doch es gibt durchaus einzelne Momente der Freude in Chandos’ jetzigem Leben. Es ist allerdings nicht einfach für ihn, zu beschreiben, worin diese Freude besteht, denn sie befindet sich jenseits der Sprache. Immer sind es ganz alltägliche Erscheinungen, die ihn plötzlich begeistern und ihn mit einem intensiven Gefühl höheren Lebens erfüllen: Eine Gießkanne, ein Hund in der Sonne, ein Krüppel, ein Friedhof, ein Bauernhaus – alles kann für ihn plötzlich zur Quelle einer Offenbarung werden. Willentlich kann er diese „Flut göttlichen Gefühls“ allerdings nicht herbeiführen.

„Es sind gleichfalls Wirbel, aber solche, die nicht wie die Wirbel der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber und in den tiefsten Schoß des Friedens.“ (S. 58)

Die Offenbarung kann sogar von etwas nur Vorgestelltem ausgelöst werden. So hatte Chandos kürzlich Rattengift in den Milchkellern eines seiner Meierhöfe ausstreuen lasen. Und eines Abends trat während eines Ausritts plötzlich dieser Keller vor sein geistiges Auge, in dem die Ratten mit dem Tod kämpften. Alles war ihm so sinnlich präsent, als sei er selbst dort: Er roch die dumpfe, giftig riechende Kellerluft; er hörte die Todesschreie, sah die Todeskrämpfe, das panische Durcheinanderrennen, die Verzweiflung der Tiere, die keinen Ausgang fanden; er sah, wie der Blick eines Muttertiers, dessen Junge zuckend starben, ins Unendliche ging.

„Ich fühlte (…) mit einer Bestimmtheit, daß ich auch im kommenden und im folgenden und in allen Jahren dieses meines Lebens kein englisches und kein lateinisches Buch schreiben werde (…)“ (S. 59)

Doch dieses Gefühl soll Bacon nicht als Mitleid missverstehen: Es war zugleich deutlich mehr und deutlich weniger als Mitleid – Chandos war förmlich in diese Geschöpfe hinübergeflossen, sie waren für ihn in diesem Moment zugleich Leben und Tod, Traum und Wachsein. Auch der Anblick einer vollen Gießkanne mit einem Wasserkäfer darin, der ihm ebenfalls einen solchen Schauer der Unendlichkeit versetzte, hatte rein gar nichts mit Mitleid zu tun.

„(…) nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische noch die italienische oder spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist (…)“ (S. 59)

Sein Gefühl in solchen Momenten ist intensiver als jede sexuelle Ekstase. Die jeweilige –eigentlich nichtige – Erscheinung wird in solchen Augenblicken für ihn kostbarer als alles andere. In diesen Momenten scheint dann auch alles wieder etwas zu bedeuten, sogar sein eigenes Gewicht. Innerhalb und außerhalb von ihm fließt alles. Alles antwortet aufeinander, sein Körper ist wie aus lauter Geheimcodes gemacht, die jedes Ding entschlüsseln können.

Er ahnt ein neues Verhältnis zum ganzen Dasein – wenn man nur „mit dem Herzen“ denken könnte. Wenn diese jähe Bezauberung allerdings wieder vorbei ist, fällt es ihm sehr schwer, das Erlebte in Worte zu fassen. Er weiß auch nicht zu sagen, ob diese Empfindungen geistiger oder körperlicher Natur sind.

Auswirkungen der Krankheit

Wenn er gerade keine dieser plötzlichen Offenbarungen erlebt, befindet Chandos sich in einem Zustand innerer Starre und Leere, mit dem auch eine große Gleichgültigkeit einhergeht. Es kostet ihn Anstrengung, seine Verfassung vor seiner Frau und vor seinen Angestellten zu verstecken. Nur weil er den ganzen Tag mit Beschäftigungen füllt – eine Gewohnheit, die auf die strenge Erziehung seines Vaters zurückgeht –, kann er nach außen hin den Schein wahren. Er tut, was man in seiner Position so tut: Gerade lässt er einen Flügel seines Hauses umbauen, und er bringt es fertig, ab und zu mit dem Architekten über den Fortschritt der Arbeit zu sprechen. Seine Güter bewirtschaftet er weiterhin. Vielleicht kommt er seinen Beamten und Pächtern wortkarger vor, aber deshalb nicht ungerechter.

Keiner von diesen Bauern, die mit der Mütze in der Hand vor ihrem Haus stehen, wenn Lord Chandos vorbeireitet, und respektvoll seinen Blick auffangen, keiner von ihnen ahnt, dass dieser Blick des Lords in Wirklichkeit suchend umherschweift, weil von jedem der unscheinbaren Objekte der bäuerlichen Lebenswelt jenes selig machende Gefühl aufsteigen könnte. Denn so viel glaubt er begriffen zu haben: Dieses Gefühl geht eher von Dingen aus, die von den meisten Menschen überhört oder übersehen werden: von einem späten Grillenzirpen, wenn es fast schon Herbst ist; von einem einsamen Hirtenfeuer in der Ferne – viel eher jedenfalls als von Erscheinungen, die viele mit Erhabenheit oder Intensität verbinden, wie dem Sternenhimmel oder dem Brausen einer Orgel.

Eine neue, unbekannte Sprache

Manchmal kommt Chandos sich vor wie der Rhetor Crassus, von dem es heißt, er habe eine zahme Muräne, die bei ihm in einem Teich lebte, so sehr geliebt, dass er bei ihrem Tod um sie geweint habe. Dadurch war Crassus zum Gespött im Senat geworden – was er mit einem Witz pariert hatte, ohne freilich seine Tränen um den geliebten Fisch zu leugnen.

Chandos kann kaum in Worte fassen, was ihn an Crassus so bewegt, aber seine Gestalt verfolgt ihn sogar nachts. Seine Gedanken drehen sich um den antiken Redner und geraten in Wallung. Es ist ein Denken wie im Fieber, viel unmittelbarer als Worte; es bildet „Wirbel“, aber im Gegensatz zu denen der Sprache führen diese Wirbel nicht ins Bodenlose, sondern in ihn selbst hinein und in einen tiefen Frieden.

Sein Problem ist, dass die Sprache, in der er vielleicht schreiben und auch denken könnte, keine der ihm bekannten Sprachen ist: weder Englisch noch Latein noch Italienisch noch Spanisch. Es wäre eine Sprache, von der er kein einziges Wort kennt.

Endgültiger Abschied

Deshalb weiß Chandos so genau, dass er in der ganzen langen Zukunft, die vor ihm liegt, kein Buch mehr schreiben wird. Auch war dies wohl sein letzter Brief an den von ihm hochverehrten Francis Bacon.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der nur wenige Seiten umfassende Brief des fiktiven Lord Chandos an den historischen Philosophen Francis Bacon ist auf den 22. August 1603 datiert. Es ist ein Antwortbrief, der wie ein Gespräch unter gelehrten Freunden gehalten ist. Der Adressat wird häufig – und immer mit großer Verehrung – namentlich angesprochen. In seinem Aufbau folgt der Brief im Wesentlichen der Chronologie der Ereignisse: Zuerst wird die unbeschwerte Vergangenheit geschildert, dann die Krise mit ihren Symptomen und Auswirkungen, aber auch die wenigen glücklichen Momente. Schließlich wird jede literarische Zukunft abgeschnitten und mit dem Brief auch der Kontakt zu Bacon endgültig beendet. Hugo von Hofmannsthal veranschaulicht Lord Chandos’ Sprachkrise mit einer ganzen Serie von Metaphern für das Medium Sprache. Die Worte entziehen sich der Kontrolle und entwickeln ein verstörendes Eigenleben, das sich gegen den Sprecher richtet: Sie schwimmen um Chandos herum, werden zu modrigen Pilzen oder zu Augen, die ihn anstarren, zu Wirbeln, in denen er unterzugehen droht.

Interpretationsansätze

  • Der fiktive Brief von Lord Chandos an Francis Bacon ist eine Übergangsform zwischen Realitätsdarstellung und Fiktion, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, eine historische Maskerade, die doch auf eine sehr unmittelbare Erfahrung zielt: Hugo von Hofmannsthal verarbeitet darin seine eigene Sprachkrise.
  • Der Text steht zwischen oder über den Nationalsprachen. Er ist sehr europäisch angelegt: Ein deutschsprachiger Autor aus dem Vielvölkerreich Österreich-Ungarn erfindet den Briten Lord Chandos, der auf Englisch und Latein schreibt, aber auch Italienisch und Spanisch beherrscht.
  • Lord Chandos’ Sprachkrise ist zugleich eine Bewusstseinskrise, und sie ist symptomatisch für die Zeit am Übergang der Jahrhunderte. Der Dichter bekundet Mühe, sich noch als Einheit zu definieren; sein Ich zerfällt in Einzelteile – wie die Welt überhaupt.
  • Im Brief besteht ein ironisches Verhältnis zwischen Inhalt und Form: Die Sprachkrise des Lord Chandos ist sprachlich brillant formuliert; der Dichter beschreibt seine geistige Leere rhetorisch geschickt und bildreich.
  • Der Brief ist als künstlerisches Manifest, also poetologisch zu lesen: Er ist nicht wirklich eine Absage an die Dichtung, sondern er zeigt ihre widersprüchlichen Entstehungsbedingungen auf. Die beglückende Erweckung unscheinbarer Gegenstände zu einem höheren Leben demonstriert, dass es, damit Dichtung entsteht, ein Durchbrechen der üblichen Wirklichkeitswahrnehmung braucht, eine Entfernung vom gewohnten Sehen und Denken.
  • In ihrer Hinwendung zu den alltäglichen Erscheinungen, die plötzlich alles bedeuten können, beinhaltet Hofmannsthals künstlerische Position auch eine Warnung vor einem reinen Ästhetizismus, der sich im Schönen der Kunst verliert und die unschöne oder banale Wirklichkeit völlig ausblendet. Eine solche nur in sich selbst kreisende Kunst würde das Leben verfehlen.

Historischer Hintergrund

Die Wiener Moderne

Um 1900 war die k. u. k. (kaiserliche und königliche) Monarchie Österreich-Ungarn in innerer und äußerer Zersetzung begriffen. Die Tschechen strebten nach Unabhängigkeit, in Ungarn jagte eine Revolte die nächste, der Staatsapparat versank in Korruption. Währenddessen beherrschte die diffuse Endzeitstimmung des Fin de Siècle das künstlerische Leben in Wien: Man entwickelte eine hochsensible Nervosität, beschrieb subtil die haarfeinen Unstimmigkeiten des modernen Lebensgefühls vor dem Ersten Weltkrieg. Der Naturalismus mit seinem Anspruch auf Objektivität wurde ab den 1890er-Jahren von der sogenannten Wiener Moderne hinterfragt.

Eine Gruppe von Dichtern, die als „Jung-Wien“ bekannt wurde und zu deren Mitgliedern unter anderem Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und Hugo von Hofmannsthal zählten, experimentierte mit impressionistischen, symbolistischen und neuromantischen Formen. Im Namen des Ästhetizismus forderten die fortschrittlichen Literaten die völlige Zweckfreiheit der Kunst. Sie trafen sich in Gaststätten wie dem Café Central oder dem Café Griensteidl und begründeten damit die berühmte Wiener Kaffeehausliteratur: Ohne Verzehrzwang konnten sie hier ausgiebig Charakter- und Milieustudien betreiben, sich untereinander austauschen, Kontroverses diskutieren und nebenbei Gelegenheitstexte verfassen. Dieses Zeitalter endete mit dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland und den darauffolgenden Schikanen gegen die jüdischen Intellektuellen.

Entstehung

Hugo von Hofmannsthal schrieb den Brief des fiktiven Lord Chandos an Francis Bacon mit 28 Jahren, im August 1902. Im Gesamtwerk Hofmannsthals gehört er in die Serie der erfundenen Gespräche und Briefe – wie auch der Dialog Über Charaktere im Roman und im Drama, das Gespräch über Gedichte und die Briefe des Zurückgekehrten. Das frühste Vorbild für diese literarisch-essayistische Textgattung sind die Dialoge Platons. Walter H. Paters Imaginary Portraits und Walter S. Landors Imgaginary Conversations gaben weitere Anstöße zu Experimenten mit dieser Form. Der Brief ist inspiriert von der Epoche Francis Bacons – der Abfassung des Textes ging eine Lektüre mehrerer Schriften von Bacon voraus – und basiert doch zugleich auf eigenen Erfahrungen des Autors. Die Parallelen zwischen dem Autor und Lord Chandos sind offensichtlich: Nur zwei Jahre Altersunterschied trennen beide, und wie Chandos hatte Hofmannsthal bereits ein hochgelobtes Frühwerk geschaffen, an dem man ihn nun messen würde. Im Unterschied zu seinem fiktiven Lord brach Hofmannsthal seine schriftstellerische Tätigkeit allerdings nie ab, er schrieb seit seinem frühen literarischen Durchbruch kontinuierlich Erzählungen und Dramen und arbeitete außerdem an seiner Habilitationsschrift.

Die im Brief geäußerte Sprach- und Erkenntniskritik war um 1900 weit verbreitet. Bereits Friedrich Nietzsche hatte in seiner Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne Zweifel am Wahrheitsgehalt von sprachlichen Äußerungen geäußert, später folgten ihm Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Robert Musil und Fritz Mauthner.

Wirkungsgeschichte

Der Chandos-Brief wurde zum ersten Mal in der auflagenstarken Berliner Tageszeitung Der Tag veröffentlicht, in zwei Teilen am 18. und 19. Oktober 1902. Er wurde sofort berühmt. Die Leser erkannten ihr Lebens-, ja Epochengefühl wieder. Die Zweifel am eigenen Ich, an der Welt und an der Sprache drückten das allgemeine Grundgefühl der Moderne aus. Der Kritiker Gustav Landauer sah den Brief schon 1903 als Manifest einer neuen Dichtergeneration, die sich vom Glauben an das Wort abwende und „zum Rhythmus, zum Unsagbaren“ tendiere. Noch heute gilt Ein Brief als Gründungsdokument der literarisch-philosophischen Moderne und als Inbegriff der Sprachkrise. Hugo von Hofmannsthal war zwar nicht der Erste, der eine solche Sprachskepsis äußerte, aber der Chandos-Brief führt die zuvor auch von anderen Autoren geäußerten Bedenken wirkmächtig zusammen. Der Text ist heute so berühmt, dass einige Stellen darin zu geflügelten Worten geworden sind, etwa „Was ist der Mensch, dass er Pläne macht!“ oder die Metapher von den Worten, die wie modrige Pilze im Mund zerfallen. Hofmannsthal selbst wandte sich in der Folge vermehrt anderen Kunstformen zu, in denen die Sprache keine oder keine so große Rolle spielt. Diese Kunstformen – Tanz, Ballett, Pantomime, Stummfilm, Oper, Drama – blühten bezeichnenderweise um die Jahrhundertwende auf. Dem Körper traute man jetzt viel eher zu, Gefühle auszudrücken, als der Sprache.

Zum 100-Jahr-Jubiläum der Veröffentlichung des Chandos-Briefs hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung 34 Schriftsteller aufgefordert, eine Antwort an Lord Chandos zu schreiben. Sie sind 2002 als Buch unter dem Titel Lieber Lord Chandos. Antworten auf einen Brief erschienen.

Über den Autor

Hugo von Hofmannsthal wird am 1. Februar 1874 als einziges Kind einer Wiener Bankiersfamilie geboren. Der hochbegabte Gymnasiast veröffentlicht mit 16 Jahren seine ersten Gedichte, die wegen seines Alters unter dem Pseudonym Loris erscheinen. Er lernt die großen Namen des literarischen Wien kennen und macht sich in diesen Kreisen als Wunderkind einen Namen. Auf Druck seines Vaters studiert er zunächst Jura, unterbricht sein Studium aber nach zwei Jahren, um freiwillig seinen einjährigen Militärdienst zu leisten. Nach seiner Rückkehr an die Universität wechselt er zum Romanistikstudium, das er 1898 mit einer Dissertation abschließt. Sein Zweifel am Ausdrucksvermögen der Sprache stürzt den Dichter in eine tiefe innere Krise. Die Freundschaft zu dem damals berühmten Lyriker Stefan George zerbricht an unterschiedlichen Auffassungen über den Sinn und Zweck der Kunst, vielleicht auch an Avancen, die George Hofmannsthal macht. Nach zahlreichen Reisen entscheidet er sich gegen die bürgerliche Laufbahn als Professor der Philologie und beschließt, freier Schriftsteller zu werden. 1901 heiratet er die Bankierstochter Gertrud Schlesinger und zieht sich in ein Barockschlösschen in Rodaun bei Wien zurück. In den folgenden fünf Jahren werden seine drei Kinder geboren. Inspiriert von den Freundschaften mit dem Komponisten Richard Strauss und dem Regisseur Max Reinhardt wendet sich Hofmannsthal verstärkt der Oper und dem Theater zu. Er schreibt unter anderem die Libretti für die Strauss-Opern Elektra (1908) und Der Rosenkavalier (1911) und beteiligt sich ab 1917 an der Gründung der Salzburger Festspiele. Während des Ersten Weltkriegs arbeitet er für das Kriegsfürsorgeamt, verfasst patriotische Propaganda und reist als Kulturbotschafter der Donaumonarchie ins Ausland. Die Niederlage Österreich-Ungarns ist für den konservativen Monarchisten ein schwerer Schlag. Er schreibt weitere Dramen, darunter sein Spätwerk Der Turm (1928). Am 13. Juli 1929 nimmt sich sein Sohn Franz das Leben. Zwei Tage später stirbt Hugo von Hofmannsthal 55-jährig auf dem Weg zu dessen Beerdigung an einem Schlaganfall.

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