Platon
Kratylos
Reclam, 2014
Was ist drin?
Warum heißen Dinge, wie sie heißen? Die Urfrage der Linguistik.
- Philosophie
- Griechische Antike
Worum es geht
Wörter auf der Goldwaage
„Treffen sich drei Schlaumeier in Athen“ – so könnte Platons Kratylos im Untertitel heißen, womit die Rahmenhandlung des Dialogs bereits vollständig erfasst wäre. Das gesprächige Trio besteht aus Hermogenes, Kratylos und Sokrates. Wie immer bei Platon widmet man sich voller Eifer einem Thema, von dem eigentlich niemand der Anwesenden so recht eine Ahnung hat. Und wie immer ist es der durchtriebene Sokrates, der als Einziger um sein Nichtwissen weiß. Im Kratylos geht es allgemein um Wörter und speziell um die Frage: Wann ist ein Wort „richtig“? Hermogenes meint: Wann immer man sich darauf einigt, dass etwas so oder so heißen soll. Kratylos widerspricht: Die Dinge haben ihre Namen quasi von Natur aus. Die beiden bitten Sokrates, die Frage zu klären. Der demontiert erst die eine, dann die andere Theorie und ergeht sich zwischendurch in etymologischen Belustigungen. Am Ende stellt sich heraus, dass das alles viel zu kompliziert ist, um mal eben bei Ouzo und Oliven ausdiskutiert zu werden. Die Nachwelt hat Platons Herausforderung angenommen: Kratylos markiert den Beginn jenes systematischen Nachdenkens über Sprache, das wir heute Linguistik bzw. Semiotik nennen.
Take-aways
- Platons Dialog Kratylos steht am Anfang der abendländischen Sprachwissenschaft.
- Inhalt: Sokrates soll einen Streit zwischen Hermogenes und Kratylos schlichten. Die Streitfrage: Lassen sich Dinge beliebig benennen oder gibt es für jedes Ding einen von Natur aus „richtigen“ Namen? Statt einer Antwort fördert Sokrates die eigentliche Schwierigkeit dieser Frage zutage.
- Mit dem eigentlichen Thema des Kratylos, der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, befasst sich heute die Wissenschaft der Semiotik.
- Die Streitfrage des Dialogs wurde 1916 von Ferdinand de Saussure geklärt: Wörter sind arbiträre Zeichen, gelten also aufgrund von Übereinkunft.
- Schon Platon scheint sich mit seinen extravaganten etymologischen Thesen über den naturalistischen Standpunkt lustig machen zu wollen.
- Auf Umwegen beeinflusste der Kratylos die bis heute andauernde Debatte über Möglichkeit oder Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis.
- Im Gegensatz zu anderen platonischen Dialogen findet man im Kratylos kaum szenische Ausmalungen der Gesprächssituation.
- Der Kratylos ist auch ein Vehikel für Platons Theorie von den unwandelbaren Ideen, die er hier der heraklitischen Lehre vom ewigen Wandel der Dinge entgegensetzt.
- Möglicherweise ist der Text in seiner heutigen Gestalt das Ergebnis eines späteren Editionsprozesses.
- Zitat: „Wenn ich ein bestimmtes Wort ausspreche, denke ich mir dabei etwas Bestimmtes, du aber erkennst, dass ich mir ebendas denke.“
Zusammenfassung
Sokrates als Streitschlichter
Hermogenes und Kratylos unterhalten sich, als Sokrates hinzukommt. Hermogenes bittet ihn, dabei zu helfen, einen strittigen Punkt zu klären: Hermogenes meint, die Benennung eines Dings unterliege der Willkür derjenigen, die sich auf diesen oder jenen Namen einigen. Kratylos sieht es anders: Jedem Ding komme von sich aus ein richtiger Name zu, alle willkürliche Benennung erzeuge bloß Schall und Rauch. Sokrates stellt fest: Die Dinge müssen, unabhängig von unserer Meinung über sie, ein eigenes Wesen haben. Das Benennen muss also auf das Wesen des Benannten eingehen. Sokrates vergleicht das Wort mit einem Weberschiffchen: So wie dieses fachgerecht verwendet werden muss, gelten auch für den Wortgebrauch bestimmte Regeln. Doch nicht der Weber hat das Weberschiffchen hergestellt, sondern der Tischler. Ein entsprechendes Verhältnis besteht zwischen demjenigen, der ein Wort gebraucht, und dem Schöpfer dieses Wortes. Doch selbst dieser kann nicht allein beurteilen, ob das von ihm geprägte Wort seinen Zweck erfüllt. Dazu bedarf es der sprachlichen Kompetenz eines Dialektikers. Wortschöpfung, schließt Sokrates, ist also etwas für Fachleute. Somit hat Kratylos Recht und die Benennung eines Dings unterliegt nicht jedermanns Willkür.
Abkunftstheorie der Namen
Hermogenes bittet Sokrates, das Kriterium der naturgemäßen Wortrichtigkeit weiter zu erläutern. Sokrates verweist auf Homer: Der gibt in seinen Werken oft sowohl denjenigen Namen eines Dings an, den die Götter diesem gegeben haben, als auch die von den Menschen verwendete Bezeichnung. Als Beispiele nennt Sokrates den Fluss Xanthos, oder eben Skamander, wie ihn die Menschen nennen. Zwar ist er sicher, dass hier der göttliche Name passender sein muss als der menschliche, er weiß aber nicht, warum. Eher schon meint er den Grund zu kennen, warum laut Homer der Sohn des Hektor zwei Namen trägt, und weiß auch, welcher von beiden der richtigere ist: Hektors Sohn wurde von den Frauen Skamandrios genannt, jedoch Astyanax von den Männern, und Letztere haben das gewichtigere Urteil. Zwischen dem Namen des Vaters und des Sohnes stellt Sokrates überdies eine Ähnlichkeit fest: „Hektor“ bedeutet „Inhaber“, „Anax“ steht für „Herrscher“. Innehaben und Herrschen sind wiederum dasselbe.
„Sokrates, Kratylos behauptet, es gebe für jedes Ding einen ihm von Natur zukommenden richtigen Namen, und der Name sei nicht das, was irgendwelche Leute unter sich festgelegt hätten (...); vielmehr gebe es eine Art natürliche Richtigkeit der Namen (...)“ (Hermogenes, S. 7)
Die Abkunft begründet also einen Namen. So heißt ja auch der Abkömmling eines Löwen wiederum Löwe. Dabei sind kleine Abweichungen ohne Bedeutung, solange der Name das Wesentliche erfasst. Sokrates gibt ein Beispiel: Der Name des Lautes „Beta“ enthält außer dem Buchstaben Beta selbst auch noch ein Eta, ein Tau und ein Alpha – und erfüllt doch seine Funktion, das Wesen des Lautes auszudrücken. Wenn allerdings ein Abkömmling ein anderes Wesen hat als sein Erzeuger, braucht er auch einen anderen Namen. So ginge der Name Theophilos (Gottlieb) bei einem Verbrecher nicht an, selbst wenn sein Vater fromm war.
Etymologische Belustigungen
Sokrates fährt fort, etymologische Untersuchungen anzustellen: Das Wort „theoi“ (Götter) komme daher, dass man früher die Himmelskörper für Götter gehalten habe. Da sich diese offenbar auf Bahnen über den Himmel bewegen, sind sie „theous“ (Läufer). Oder die Heroen: Deren Bezeichnung spiegelt ihre gemischte Abkunft – sie stammen aus Liebesbeziehungen zwischen Göttern und Menschen, sind also Kinder des Eros. Wenn bei der Wortbildung mehrere Wörter zu einem Wort verschmelzen, kommt es vor, dass das Gesamtgebilde ein wenig geglättet wird. Das ist beispielsweise bei dem Wort „anthropos“ (Mensch) der Fall: Es ist eine Zusammensetzung aus „opope“ (etwas wahrnehmen) und „anathrei“ (etwas bedenken) und drückt aus, dass der Mensch, was er wahrnimmt, bedenkt.
„Also ist das Wort ein Werkzeug für Mitteilung und für das Auseinanderhalten des Wesens der Dinge, wie das Weberschiffchen beim Gewebe.“ (Sokrates, S. 23)
Sokrates leitet die Bezeichnung „selanaia“ (Mond) von „selas“ (Glanz), „aei“ (immer), „neon“ (neu) und „henon“ (alt) ab, weil das Licht des Mondes immer zugleich aus altem und neuem Sonnenlicht besteht. Die daraus folgende Bildung „selaenoneoaeia“ wird zu „selanaia“ kontrahiert. Auf Wunsch des Hermogenes gibt Sokrates die Herkunft von Wörtern aus dem Begriffsbereich der Tugend und Tüchtigkeit an: In solchen Wörtern stecke eine bestimmte Auffassung der Wortschöpfer, dass nämlich, wie Heraklit lehrt, alles im Fluss sei. Das Wort „episteme“ (Wissen) etwa wurzelt in „hepisteme“ (Begleiterin), da alles Wissen zustande kommt, indem die Seele „den Dingen in ihrer Bewegung“ folgt.
„Die Aufgabe des Wortschöpfers ist es offensichtlich, unter Aufsicht eines dialektisch geschulten Mannes Wörter festzulegen, wenn diese ihren Zweck erfüllen sollen.“ (Sokrates, S. 33)
Das Wort „gyne“ (Frau) leitet Sokrates von „gone“ (Gebären) ab, „thely“ (weiblich) von „theles“ (Mutterbrust), Letzteres wiederum von „thetelenai“ (aufblühen), weil Kinder ja aufblühen, wenn sie an der Mutterbrust saugen. Er merkt selbst, dass er sich bisweilen von seinem eigenen Schwung zu gewagten Deutungen hinreißen lässt, und auch Hermogenes bemängelt das, besonders wenn Sokrates seine Herleitungen durch das willkürliche Weglassen bzw. Einfügen von Buchstaben plausibel zu machen versucht. Doch Sokrates rechtfertigt die Methode: Ein solches Vorgehen entspreche der Neigung der Menschen, Wörter durch Einschub und Unterschlagung einzelner Buchstaben nach der neusten Mode umzugestalten. Was für den Zusammenhang zwischen den auf Tugend bezogenen Wörtern und der Lehre des Heraklit, dass alles im Fluss sei, gilt, trifft auch auf „Schmähworte“ zu. Diese bezeichnen Dinge, die dem ewigen Fluss entgegenstehen. So sei „aischron“ (das Hässliche) aus „rhoun“ (Fluss) und „aei ischonti“ (immer hemmt) gebildet.
Zerlegung der Wörter in Elementarwörter
Für Ausdrücke, die man nicht weiter zurückführen oder zerlegen kann, schlägt Sokrates den Begriff „Elementarwörter“ vor. Allerdings bringt dieser Ansatz Schwierigkeiten mit sich: Woher haben die Elementarwörter ihre Bedeutung? Sokrates überlegt weiter: Ohne die Fähigkeit zur Lautäußerung müssten wir die Gegenstände unserer Aussagen gestisch nachahmen. So gesehen ist lautliches Benennen auch eine Nachahmung, nur findet sie eben mithilfe der Stimme statt. Andererseits kann es so einfach auch wieder nicht sein: Denn dann müsste ja beispielsweise die stimmliche Nachahmung eines Tieres zugleich dessen Benennung sein. Besser ist es, eine eigene Art Nachahmung als Mittel der Wortschöpfung anzunehmen. So wie die sicht- oder hörbaren Eigenschaften der Dinge von der Kunst bzw. der Musik nachgeahmt werden, ahmt die Wortkunst das Wesen der Dinge nach. Die Elementarwörter müssen nach dieser Methode erfunden worden sein.
„Wie mir scheint, ein ordentliches Kunterbunt von Wörtern, das du mir da an den Kopf wirfst, Sokrates.“ (Hermogenes, S. 137)
Wenn also Wortschöpfer vergangener Zeiten Namen durch lautliche Wesensnachahmung schaffen konnten, muss es eine Entsprechung zwischen der Systematik der Dinge und derjenigen der Laute geben. Zwar zweifelt Sokrates selbst an dieser Hypothese, will sich ihren Schwierigkeiten jedoch stellen, um nicht zu billigen Erklärungen greifen zu müssen; etwa, dass die Elementarwörter göttlichen Ursprungs seien. Er untersucht nun den Laut „Rho“ und die Wörter, in denen er vorkommt: Das Rho, meint Sokrates, ist ein Laut der Bewegung, ihm wohnt ein gewisser Schwung inne, die Zunge vibriert beim Aussprechen. Als Beispiele führt er an: „rhein“ (strömen), „rhoe“ (Strömung), „tromos“ (zittern), „trechein“ (laufen) und „rhymbein“ (drehen). Das Iota findet in Wörtern Verwendung, die Feinheit ausdrücken und infolgedessen die Fähigkeit zur Durchdringung. Sokrates nennt „ienai“ (gehen) und „hiesthai“ (eilen) als Beispiele. Delta und Tau, bei deren Aussprache die Zunge fest wird, drücken Festigkeit aus: „desmos“ (Bindung), „stasis“ (Stillstand). Das Lambda, mit seinem Zungengleiten, findet sich in Wörtern des Gleitens: „leia“ (das Glatte), „olisthanein“ (gleiten), „liparon“ (das Fettige). Das Ny ist ein nach innen klingender Laut, daher „endon“ (drinnen) oder „entos“ (innerhalb).
Hat Hermogenes doch Recht?
Kratylos zeigt sich durchaus überzeugt. Sokrates will aber noch mal an den Anfang zurück, um die Hypothesen auf Herz und Nieren zu prüfen. Er fragt Kratylos, ob dieser glaube, ein Wort drücke das Wesen eines Dings aus. Kratylos bejaht das. Der Zweck eines Wortes ist doch wohl die Mitteilung, fährt Sokrates fort. Die Kunst, die richtigen Wörter zu finden, wird von den Wortschöpfern ausgeübt. Unter ihnen gibt es Bessere und Schlechtere. Letztere machen auch schlechtere Wörter. Kratylos widerspricht: Alle Wörter, zumindest die Benennungen, sind per se immer richtig. Wenn man jemanden mit falschem Namen anrede, erzeuge man „reines Wortgeklingel“; mit Namen habe das nichts zu tun. Dennoch stimmt er zu: Wörter sind etwas anderes als die Dinge, die sie bezeichnen, eben Nachahmungen von Dingen. So, wie auch Bilder eine Nachahmung von Dingen sind. Aber, will Sokrates wissen, gibt es bei Bildern nicht die Möglichkeit, sie dem falschen Gegenstand zuzuordnen, etwa das Bild eines Mannes einer Frau? Kratylos schreibt diese Eigenschaft nur den Bildern zu, nicht den Namen, lässt sich aber von Sokrates das Zugeständnis entlocken, man könne einem Mann durchaus fälschlich einen weiblichen Namen zuordnen. Also, meint Sokrates, gibt es eben doch die Möglichkeit der falschen Zuordnung von Wörtern und auch Sätzen. Das sieht Kratylos ein.
„Wenn einer immer nach den Ausdrücken fragt, aus denen ein Wort gebildet ist, und dann wieder nach jenen, aus denen diese Ausdrücke gebildet sind, und das ad infinitum so fortsetzt, muss dann nicht zu guter Letzt der andere die Antwort schuldig bleiben?“ (Sokrates, S. 143)
Außerdem kann es sowohl gelungene als auch misslungene Wörter geben, so wie es auch naturgetreue Bilder und nicht naturgetreue Bilder geben kann. Daraus folgt, dass es auch gute und schlechte Wortschöpfer gibt. So weit geht Kratylos mit Sokrates einig. Er besteht aber darauf, dass aus einem Wort, wenn man Buchstaben hinzufügt, umstellt oder weglässt, ein ganz neuer Begriff wird und nicht etwa eine Variante des ursprünglichen Wortes. Sokrates hingegen meint, dass derartige Veränderungen im Kleinen das Wort doch wesentlich unverändert lassen. Es geht ja bei der Wortschöpfung um die Vermittlung des Charakteristischen im zu benennenden Gegenstand. Richtige Wörter bestehen wenigstens „überwiegend“ aus Lauten, die dem zu benennenden Ding ähnlich sind. Andernfalls, wenn ein unpassender Laut hineingerät, sind sie misslungen. Kratylos gibt zähneknirschend klein bei.
„Ein Wort ist also offenbar Nachahmung mit der Stimme, wobei der mit der Stimme Nachahmende dem betreffenden Gegenstand einen Namen gibt.“ (Sokrates, S. 149)
Sokrates fragt ihn, ob er meine, Wörter seien „ein Mittel der Offenbarung für ein Ding“. Kratylos bejaht das. Es zeigt sich, dass diese Annahme ein starkes Argument gegen Hermogenes’ These der auf Übereinkunft beruhenden Wortrichtigkeit ist: Nur die Theorie der auf Ähnlichkeit beruhenden Wortrichtigkeit gewährleistet eine Offenbarung der Dinge in den Wörtern. Auch die Elemente der Wörter, die Buchstaben und Laute, müssen dem zu benennenden Ding ähnlich sein. Nachdem Sokrates Kratylos dieses Zugeständnis entlockt hat, zeigt er am Wort „sklerotes“ (Härte), dass die Ähnlichkeitstheorie problematisch ist: Der Endbuchstabe, das schwungvolle Sigma, ist durchaus passend, nicht aber das weiche Lambda. Und doch versteht man das Wort, nämlich durch Gewohnheit, sprich durch Übereinkunft. Es zeigt sich also, dass sowohl Ähnlichkeit als auch Übereinkunft Kriterien für die Richtigkeit eines Wortes sein können.
In den Namen zeigt sich nicht das Wesen der Dinge
Kratylos ist der Meinung, dass aus der Kenntnis eines Namens die Kenntnis des benannten Gegenstands folgt. Sokrates gibt zu bedenken: Wenn aber der Schöpfer eines Wortes von falschen Vorstellungen über das zu benennende Ding ausgegangen ist, kann man leicht in die Irre gehen, wenn man vom Wort auf das Ding schließt. Doch Kratylos entgegnet: Der Wortschöpfer kann sich, wenn er denn ein guter Wortschöpfer war, nicht geirrt haben, sonst wäre ihm „nicht alles so harmonisch gelungen“. Sokrates weist diesen Einwand zurück: Falsche Ausgangsbedingungen verfälschen ein Ergebnis, auch wenn dieses ansonsten in sich widerspruchsfrei ist. Außerdem, glaubt Sokrates, ist die Harmonie unter den Wörtern gar nicht so vollständig. Um das aufzuzeigen, untersucht er zum zweiten Mal das Wort „episteme“ (Wissen), wieder vor dem Hintergrund, dass alles in Bewegung ist. Diesmal leitet er es aber von „histesin“ (es bringt zum Stehen) ab: Wissen bringt die „Seele bei den Dingen zum Stehen“. Er findet auch noch andere Wörter, in denen sich schlechte (weil statische) Bedeutungen mit guten (weil bewegten) überschneiden.
„Wie nun? Wenn jemand ebendieses Wesen von jedem Ding mit Buchstaben und Silben nachahmen könnte, würde er dann nicht kundtun, was ein jedes Ding wirklich ist?“ (Sokrates, S. 151)
Sokrates wirft noch ein anderes Problem auf: Wie konnte der Schöpfer der Elementarwörter seine Gegenstände kennen, wenn es noch nicht die Wörter gab, durch die er etwas über sie erfahren konnte? Er postuliert eine wortlose Erkenntnisform, eine Methode, mit der man die Dinge „durch sie selbst“ erkenne. Weder er noch Kratylos wissen aber, wie diese Erkenntnisform aussehen könnte. Sokrates schlägt vor, es gebe Dinge, die man an und für sich betrachten könne, etwa das Schöne. Doch tritt eine solche Idee des Schönen in Konflikt mit der Lehre von der allgemeinen Bewegung der Dinge, insofern eine Idee des Schönen unter den Bedingungen allgemeiner Bewegung nicht erkannt werden kann; Erkenntnis von einem Gegenstand kann es nur bei einem fixen Zustand des Gegenstands geben. Es ist sogar fraglich, ob das sich stets Bewegende „überhaupt ein Sein haben“ kann. Um also das Modell einer der Erkenntnis gegenüberstehenden Wirklichkeit zu retten, müsste man die Lehre des Heraklit („Alles ist im Fluss“) aufgeben. Weder Kratylos noch Sokrates wissen einen Ausweg aus dem Dilemma. Sie wollen aber weiter darüber nachdenken.
Zum Text
Aufbau und Stil
Kratylos ist wie die meisten Werke Platons eine philosophische Untersuchung in Form eines Dialogs. Im Unterschied jedoch zu anderen Dialogen, etwa Protagoras, Phaidon oder Symposion, hat Platon im Kratylos fast vollständig auf eine szenische Ausschmückung der Unterhaltung verzichtet. Auch ist die Figur des Sokrates hier weniger plastisch gestaltet als sonst; sie ist eher ein Mittel zum Zweck, ein formales Vehikel, das die Gedanken Platons wiedergibt. Das Werk ist formal nicht gegliedert, wohl aber inhaltlich: Im ersten Teil untersucht Sokrates im Gespräch mit Hermogenes dessen These, die Bedeutung aller Wörter beruhe ausschließlich auf Übereinkunft – und widerlegt diese mithilfe seines legendären Frage- und Antwortverfahrens. Im zweiten Teil steigert er sich in einen etymologischen Rausch und stellt Thesen zur Herkunft einiger Dutzend Wörter auf. Diese sind teils ernst gemeint, teils sind sie humoristisch. Im dritten Teil endlich schaltet sich Kratylos ein. Seine These lautet: Die Bedeutung der Wörter ist zwingend durch die Natur der Dinge festgelegt. Auch dies widerlegt Sokrates und scheint damit das Ergebnis aus dem Gespräch mit Hermogenes wieder über den Haufen zu werfen. Schließlich streift der Dialog das Herzstück von Platons Philosophie, die Lehre von den unwandelbaren Ideen. Die Debatte um den Zusammenhang von Name und Ding, endet – wie so viele platonische Dialoge – unentschieden.
Interpretationsansätze
- Oberflächlich betrachtet geht es im Kratylos um den Konflikt zwischen zwei linguistischen Positionen: dem Naturalismus und dem Konventionalismus. Der tiefere philosophische Gehalt ist allerdings die Untersuchung der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem.
- Platon greift die Frage nach der „Richtigkeit“ von Wörtern auf – damals ein Modethema. Rhetoriklehrer, die sogenannten Sophisten, gaben für Geld Unterricht im richtigen Gebrauch von Wörtern. Sie behaupteten, über Kriterien zu verfügen, anhand derer eine solche Richtigkeit beurteilt werden könne.
- Aus dem Kratylos geht nicht eindeutig hervor, auf welcher Seite der Debatte Platon selbst stand: ob aufseiten der Naturalisten und der Konventionalisten. Womöglich zeigt sich aber in der humoristischen Art, mit der Sokrates im Mittelteil des Dialogs seine etymologischen Theorien ausspinnt, dass er den Naturalismus lächerlich machen wollte.
- Unzweifelhaft ist Platons Nein zur Lehre des Heraklit. Die Lehre besagt, dass alle Dinge im Fluss seien, und in ihrer radikalen Ausprägung bedeutet sie die Unmöglichkeit von Erkenntnis. Platon setzt dieser Position seine Lehre von den unwandelbaren Ideen entgegen.
- Sokrates’ Theorie, Wörter bildeten das Wesen ihres Gegenstands auf irgendeine Weise klanglich nach, ist aus heutiger Sicht durchaus nicht völlig unsinnig: Eine solche Entsprechung kommt sogar recht häufig vor und wird phonetischer Symbolismus genannt.
Historischer Hintergrund
Athen im fünften und vierten Jahrhundert v. Chr.
Nach der erfolgreichen Selbstbehauptung der griechischen Stadtstaaten in den Perserkriegen (fünftes Jahrhundert v. Chr.) und der damit einhergehenden Gründung des Attischen Seebunds entwickelte sich in Athen die erste demokratische Staatsordnung. Die entscheidende Macht im Staat lag jedoch bei dem Strategen Perikles (etwa 490 bis 429 v. Chr.), der die Harmonie im Inneren vor allem durch Ausschaltung seiner Gegner sicherstellte. Auf den Friedensschluss mit dem Perserreich im Jahr 449 v. Chr. folgte für Athen ein bisher nicht gekannter wirtschaftlicher, kultureller und politischer Aufschwung. In dieser Zeit erblühten insbesondere die Dichtkunst, die Geschichtsschreibung, die bildende Kunst, die Medizin und die Philosophie.
Im Zuge des Peloponnesischen Krieges im Jahr 431 v. Chr. büßte Athen seine Vormachtstellung allerdings ein. Nach der Niederlage gegen Sparta übernahmen 30 Tyrannen vorübergehend die Macht, bis die Demokratie 403 v. Chr. wiederhergestellt wurde. Im Inneren setzte sich die kulturelle Blüte, vor allem im Bereich der Philosophie, fort. Nach Sokrates’ Tod im Jahr 399 v. Chr. begann sein Schüler Platon mit der Darstellung des sokratischen Denkens in Dialogen und gründete, wie andere Verehrer Sokrates’ auch, eine eigene philosophische Schule. Neben dieser Entwicklung der Philosophie erlebten vor allem die Rhetorik und die Prosa einen Höhenflug. Athen wurde im kulturellen Bereich zum Vorbild für ganz Griechenland und blieb bis zum Aufstieg Roms das bedeutendste geistige Zentrum Europas.
Entstehung
Wann genau Platon den Kratylos geschrieben hat, ist unbekannt. Das gilt auch für seine übrigen Werke. Deren Datierung ist unter Experten ein kontroverses Thema. Zwar gibt es stilistische und inhaltliche Kriterien, die zumindest eine mögliche Reihenfolge nahelegen; und gewisse historische Ereignisse, auf die Platon in den Dialogen verweist, lassen eine grobe Einordnung zu. Dasselbe gilt für etliche Querverweise zwischen den Texten und für den Verlauf der schriftstellerischen und philosophischen Entwicklung Platons, wie sie anhand der zunehmenden Komplexität der Dialoge sichtbar wird. Dennoch fehlen verlässliche Informationen.
Die heute gängige Lehrmeinung teilt Platons Werke in drei Phasen: eine frühe, eine mittlere und eine späte. Der Kratylos wurde lange Zeit der frühen Periode zugeordnet, inzwischen nimmt man aber überwiegend an, dass Platon den Text im Verlauf seiner mittleren Phase verfasst hat, nachdem er von seiner ersten Sizilienreise zurückgekehrt war und um 387 v. Chr. in einem Olivenhain nahe Athen seine Philosophenschule, die Akademie, gegründet hatte. Gleichzeitig deuten moderne Erkenntnisse darauf hin, dass der Text in seiner heutigen Form das Ergebnis eines späteren Editionsprozesses sein könnte, womit die Frage nach seinem genauen Entstehungsdatum sinnlos zu werden scheint. Auch die Rückführung der handelnden Personen auf mögliche historische Vorbilder ist nicht besonders vielversprechend: Zwar findet bei Aristoteles ein gewisser Kratylos Erwähnung, ein Anhänger des Philosophen Heraklit; und womöglich war Platon sogar vorübergehend dessen Schüler; ob aber Platon mehr im Sinn hatte als eine vage Anlehnung seines literarischen Kratylos an die historische Person gleichen Namens, ist ungeklärt.
Wirkungsgeschichte
Die Wirkung von Platons Kratylos ist kaum zu überschätzen, allerdings im Einzelnen oft schwer nachweisbar. Der Dialog wird oft als eine Art Gründungsdokument der Semiotik oder allgemein der Sprachwissenschaften bezeichnet. Das Bild ist jedoch etwas irreführend: Die Linguistik ist sicher nicht einheitlich und kontinuierlich wie ein Baum aus diesem Urkeim emporgewachsen. Die Position des Textes am Ursprung alles systematischen Nachdenkens über Sprache ist jedoch unbestritten. Unmittelbaren Einfluss übte der Kratylos auf den antiken Logiker Chrysippos von Soloi aus – und prägte die sogenannte Nomos-Physis-Debatte: Offenbart sich in sprachlichen Ausdrücken die Natur (physis) der Dinge oder bloß die Art und Weise menschlichen Denkens über die Dinge (nomos)? Stoiker wie Chrysippos vertraten die Physis-Position. In vielfältigen Varianten ist die Frage nach der Möglichkeit objektiver Erkenntnis bis heute eines der großen Themen der Philosophie.
Auch von der Disziplin der Etymologie kann man sagen, sie gehe auf den Kratylos zurück: Vor Platon hatte niemand je systematisch nach der Herkunft der Wörter geforscht. Mit diesem Ansatz inspirierte der Kratylos wohl Cicero zu seinen etymologischen Untersuchungen in Vom Wesen der Götter. Womöglich waren auch frühmoderne Versuche, eine Universalsprache zu etablieren, deren Wörter sich unmittelbar und zwingend aus der Natur der Dinge ergeben sollten, vom Standpunkt des Kratylos in Platons Dialog angeregt. Letztlich setzte sich jedoch die Position des Hermogenes durch: Mit seiner Schrift Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft prägte Ferdinand de Saussure 1916 die Theorie von der Arbitrarität sprachlicher Zeichen: Wie ein Ding heißt, wird durch Übereinkunft entschieden.
Über den Autor
Platon gilt als einer der größten philosophischen Denker aller Zeiten. Zusammen mit seinem Lehrer Sokrates und seinem Schüler Aristoteles bildet er das Dreigestirn am Morgenhimmel der westlichen Philosophie. Platon wird 427 v. Chr. in Athen geboren, als Sohn des Ariston, eines Nachfahren des letzten Königs von Athen. Da Platon aus aristokratischen Kreisen stammt, scheint eine politische Laufbahn vorgezeichnet. Doch die Politik verliert für ihn schnell an Reiz, als er sieht, wie die oligarchische Herrschaft der Dreißig im Jahr 404 v. Chr. Athen unterjocht. Platon betrachtet die Politik von nun an mit einem gewissen Abscheu, sie lässt ihn aber nie ganz los. Er wird ein Schüler des Sokrates, dessen ungerechte Hinrichtung im Jahr 399 v. Chr. ihn stark prägen wird. Fortan tritt Sokrates als Hauptdarsteller seiner philosophischen Schriften auf: 13 Briefe und 41 philosophische Dialoge sind überliefert. Nach der Verurteilung des Sokrates flüchtet Platon zu Euklid nach Megara (30 Kilometer westlich von Athen). Er reist weiter in die griechischen Kolonien von Kyrene (im heutigen Libyen), nach Ägypten und Italien. 387 v. Chr. kehrt er nach Athen zurück und gründet hier eine Schule: die Akademie. Deren Studienplan umfasst die Wissensgebiete Astronomie, Biologie, Mathematik, politische Theorie und Philosophie. Ihr berühmtester Schüler wird Aristoteles. 367 v. Chr. ergibt sich für Platon die einmalige Möglichkeit, sein in seinem Hauptwerk Der Staat entworfenes Politikideal in die Praxis umzusetzen: Er wird als politischer Berater an den Hof von Dionysios II., dem Herrscher von Syrakus, gerufen. Seine Hoffnungen, diesen in der Kunst des Regierens zu unterweisen, zerschlagen sich jedoch. Platon stirbt um 347 v. Chr. in Athen.
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