Nico Rose
Management-Coaching und positive Psychologie
Stärken stärken, sinnvoll wachsen
Haufe, 2021
Was ist drin?
Ein stärkenorientiertes Menschenbild nützt dem Einzelnen wie auch dem Unternehmen.
Rezension
Die sogenannte positive Psychologie ist ein recht junger akademischer Zweig der Psychologie. Statt in erster Linie Probleme zu lösen, zielt sie darauf, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit zu steigern. Als wissenschaftliche Basis für das Coaching von Fach- und Führungskräften erfreut sie sich wachsender Popularität. Neben einer kompakten Einführung stehen Coachingthemen im Mittelpunkt dieses auch für den Nichtpsychologen gut verständlichen Buchs. Es richtet sich an Coaches, HR-Verantwortliche, aber auch Change-Manager und interessierte Führungskräfte.
Take-aways
- Die positive Psychologie fokussiert sich darauf, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden zu steigern.
- In der positiven Psychologie sind die individuellen Stärken die wichtigste Ressource eines Menschen.
- Jeder Mensch besitzt drei bis sechs Signaturstärken, die ihn in besonderer Weise prägen.
- Sich selbst im Lichte der eigenen Stärken zu sehen, hilft über schwierige Phasen hinweg.
- Positive Emotionen machen uns aktiver, wacher, aufmerksamer, kreativer und nützen auch unserem Team.
- Emotionen sind ansteckend – oft auch über mehrere Ecken.
- Geben Sie Mitarbeitenden Freiraum, an der Gestaltung ihrer Rolle mitzuwirken, sodass ihre Stärken besser zum Tragen kommen.
Zusammenfassung
Die positive Psychologie fokussiert sich darauf, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden zu steigern.
Die moderne Psychologie gibt es seit etwa 140 Jahren. Die positive Psychologie ist hingegen relativ jung. Sie bildete sich als eigenständige akademische Disziplin gegen Ende des 20. Jahrhunderts heraus und erfreut sich seither wachsender Beliebtheit. Sie setzt der klassischen Psychologie eine andere Ausrichtung entgegen. Von Spezialgebieten wie Eignungsdiagnostik oder Lernforschung abgesehen, agiert die klassische Psychologie nämlich überwiegend in einem pathogenetischen Denkrahmen. Ihr geht es darum, psychische Probleme und deren Entstehung zu verstehen und im besten Fall zu beseitigen. Sie beginnt also im negativen Bereich und zielt auf die Erreichung des Nullpunkts, sprich die Wiederherstellung des Normalzustands.
„Wenn Menschen lernen können, hilflos und pessimistisch zu denken, dann sollte es auch möglich sein, Optimismus zu lernen.“
Im Unterschied dazu verfolgt die positive Psychologie einen salutogenetischen Ansatz. Sie untersucht, wie sich Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit steigern lassen, um dem Ziel eines glücklichen und erfüllten Lebens näherzukommen. Damit beginnt sie beim Nullpunkt und zielt ins Positive. Schon früh wurde deutlich, dass ein solcher wissenschaftlicher Ansatz besonders im Coaching von Nutzen ist.
Eine Schlüsselfigur der positiven Psychologie ist der US-Psychologe Martin Seligman. Er wurde 1998 Präsident der American Psychological Association. In seiner Antrittsrede warb er für eine Erweiterung seines Fachs im Sinne des salutogenetischen Gedanken. Sein 2011 veröffentlichtes Buch Flourish bilanzierte das erste Jahrzehnt der neuen Forschungsrichtung. In diesem Buch stellt Seligman die PERMA-Formel als Ordnungsstruktur der positiven Psychologie vor. Das Akronym bezeichnet die fünf wichtigsten Dimensionen einer gelungenen Lebensführung:
- Positive Emotions – das Erleben positiver Gefühle wie Stolz und Dankbarkeit.
- Engagement – das Verfolgen von Interessen und das Entwickeln von Leidenschaften.
- Relationships – die Erfahrung von Intimität, Freundschaft und Fürsorge in gelungenen Beziehungen.
- Meaning – das Sinnerleben über unterschiedliche Lebensbereiche hinweg.
- Accomplishment – das Erreichen von Zielen auf verschiedenen Gebieten.
Um der Bedeutung des körperlichen Wohlbefindens Rechnung zu tragen, wurde die Abkürzung in jüngster Zeit um ein V ergänzt. PERMA-V schließt nun Vitalität als maßgeblichen Faktor mit ein.
In der positiven Psychologie sind die individuellen Stärken die wichtigste Ressource eines Menschen.
Im professionellen Coaching geht es neben den Zielen immer auch um Ressourcen, sprich innere oder äußere Mittel, die dem Klienten helfen, ein Ziel zu erreichen. In der positiven Psychologie sind die Stärken eines Menschen dessen wichtigste innere Ressource. Äußere Ressourcen kann etwa Unterstützung durch Freunde sein. Um die Stärken eines Menschen zu identifizieren, nutzt die positive Psychologie das sogenannte VIA-Modell, wobei VIA für „values in action“ steht – zu Deutsch: Werte in Aktion. Das Modell umfasst 24 Charakterstärken, die sich auf sechs übergreifende Tugenden verteilen. Das sind Weisheit und Wissen, Mut, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Transzendenz.
„Die zentrale Annahme hinter der Beschäftigung mit Stärken im Coaching ist, dass Menschen über ein einzigartiges Bündel von Ressourcen verfügen und dass individuelle Stärkenmuster einen wesentlichen Grundstock unserer Ressourcen bilden.“
Jeder Mensch verfügt über ein individuelles Stärkenmuster. Es prägt seine Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen. Die individuellen Stärken hängen stark mit der intrinsischen Motivation zusammen und beeinflussen unsere Sicht auf die Welt. Es frustriert uns, wenn wir unsere Stärken nicht zur Geltung bringen können. Ein erfahrener Coach erkennt oft schon im Gespräch bestimmte Stärken. Präziser arbeitet der VIA-IS-Test, der sich online absolvieren lässt – etwa unter viacharacter.org oder charakterstaerken.org.
Jeder Mensch besitzt drei bis sechs Signaturstärken, die ihn in besonderer Weise prägen.
Coaching ist erfolgreich, wenn es Denken, Fühlen und Verhalten in eine gewünschte Richtung verändert. Gezielt persönliche Stärken anzusteuern, ist dabei der entscheidende Hebel. Wenn Sie einen Test wie den VIA-IS-Test absolviert haben, wissen Sie, wo Sie dabei ansetzen können.
„Die Signaturstärken tragen ihren Namen, weil sie uns in unserer Einzigartigkeit auszeichnen, ähnlich wie unsere Unterschrift.“
Ihre Stärken lassen sich in drei Bereiche einteilen: ein Bündel hoch ausgeprägter Stärken, einen breiteren Bereich durchschnittlich entwickelter Stärken und einen mit schwach ausgeprägten Stärken. Dabei sagt das individuelle Stärkenprofil nicht zwingend etwas über die Fähigkeiten eines Menschen aus. Jemand kann durchaus in Bereichen Höchstleistung zeigen, die in seinem Stärkenprofil weiter unten angesiedelt sind.
Für das Coaching ist der oberste Bereich interessant. Hier finden sich Ihre drei bis sechs Signaturstärken. Wenn Sie sie zum Einsatz bringen, fühlen Sie sich dabei besonders authentisch und zuversichtlich, etwas zu erreichen. Die Signaturstärken prägen das Selbstbild.
Nur wer die eigenen Stärken kennt, kann sie bewusst einsetzen.
Sich selbst im Lichte der eigenen Stärken zu sehen, hilft über schwierige Phasen hinweg.
Ein Coach kann Ihnen helfen, Ihre Stärken als Ressource nutzen zu lernen. Dabei kommen Übungen wie „Das beste Selbst im Spiegel“ zum Einsatz. Hier erstellen Sie ein Selbstbild, das ausschließlich auf positivem Feedback basiert. Dafür sprechen Sie 15 Personen aus Ihrem unmittelbaren Umfeld und verschiedenen Lebensbereichen an. Je unterschiedlicher die Perspektive dieser Menschen auf Sie ist, desto aussagekräftiger das Ergebnis. Bitten Sie die Personen, jeweils drei Situationen kurz schriftlich zu beschreiben, in denen Sie sie als besonders erfolgreich und vorbildlich wahrgenommen haben. Kurze Geschichten und konkrete Beobachtungen sind besser als allgemeine Eindrücke.
„,Das beste Selbst im Spiegel‘ stellt einen Weg dar, um eine Meta-Ressource aufzubauen. Es geht um das Heben einer Kraftquelle, die zu verschiedenen Gelegenheiten und in unterschiedlichen Formen immer wieder angezapft werden kann.“
Das gesammelte Feedback halten Sie schriftlich fest, ziehen sich damit an einen ruhigen Ort zurück und lassen es auf sich wirken. Im nächsten Schritt nehmen Sie einen Stift und einen Textmarker zur Hand und versuchen Muster zu erkennen – etwa Gemeinsamkeiten oder Überschneidungen. Destillieren Sie die wichtigsten Aussagen heraus. Im letzten Schritt formulieren Sie auf dieser Grundlage ein in Ich-Form gehaltenes Selbstporträt. Dieser Text löst zwar kein unmittelbares Problem. Dafür kann er Ihnen als Meta-Ressource dienen. Sie können es durchlesen und dadurch Kraft tanken, wenn Sie es einmal nötig haben.
Positive Emotionen machen uns aktiver, wacher, aufmerksamer, kreativer und nützen auch unserem Team.
Die Psychologin Barbara Fredrickson beschäftigt sich mit dem Nutzen positiver Emotionen. In ihrem Buch Positivity beschreibt sie zehn grundlegende positive Emotionen: Freude, Dankbarkeit, Heiterkeit, Stolz, Interesse, Hoffnung, Vergnügen, Inspiration, Ehrfurcht und Liebe. Fredrickson geht davon aus, dass positive Emotionen unser Denk- und Verhaltensrepertoire erweitern. Personen in positiver Stimmungslage sind aktiver, wollen etwas tun. Auch sind sie aufmerksamer und ihre Wahrnehmung ist erhöht; sie finden mehr und auch originellere Problemlösungen und denken abstrakter. Schließlich achten sie mehr auf Verbindendes als auf Trennendes.
Positive Emotionen sind also eine Ressource. Besonders interessant ist das für Organisationen, in denen es nicht nur darum geht, Aufgaben auszuführen, sondern in denen Kreativität, Innovation, Zukunftsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt wichtig sind.
Emotionen sind ansteckend – oft auch über mehrere Ecken.
Als Führungskraft sollten Sie das Phänomen der emotionalen Ansteckung kennen. Studien zeigen, dass wir einander mit unseren jeweiligen Emotionen infizieren. Das geschieht unkontrolliert und unwillkürlich. Wer aber steckt wen an, wenn die Emotionen ungleich verteilt sind? Die Faustregel lautet: Die stärkere Emotion gewinnt.
Übrigens können Emotionen auch ohne persönlichen Kontakt übertragen werden. Experimente zeigen, dass sich Emotionen in unserem sozialen Netzwerk auch um eine oder mehrere Zwischenstationen ausbreiten.
„Positive Emotionen helfen Menschen, sich wünschenswerte Zukünfte zu vergegenwärtigen und diese optimistisch anzusteuern.“
Ein wichtiger Aspekt ist die Hierarchie. Menschen orientieren sich auch emotional nach oben. Daraus lässt sich für Führungskräfte eine Verantwortung gegenüber Untergebenen ableiten: Sie müssen lernen, ihre Emotionen zu regulieren. Dabei kann Coaching helfen, es hält eine Reihe von Techniken und Übungen bereit – etwa solche wie „Counting your blessings“ oder „Three good things“, bei denen Coachees versuchen, sich auf Dinge in ihrem Leben zu fokussieren, die ihnen Grund zur Dankbarkeit geben.
Geben Sie Mitarbeitenden Freiraum, an der Gestaltung ihrer Rolle mitzuwirken, sodass ihre Stärken besser zum Tragen kommen.
Im frühen 20. Jahrhundert formulierte Frederick Taylor seine Grundsätze des „Scientific Management“. Nach dieser Lehre kam es darauf an, jedem Arbeiter jeden Arbeitsschritt penibel vorzugeben. Das sollte zu maximaler Effizienz führen und die Prozesse reproduzierbar und skalierbar machen. Bis heute verfahren viele Unternehmen so: Unzählige Vorschriften, Arbeitsanweisungen, Normen und Compliance-Vorschriften und die steuernde Hand des Vorgesetzten sollen dafür sorgen, dass alles in geregelten Bahnen läuft.
Mittlerweile ist aber klar, dass sich Menschen auf diese Weise nicht managen lassen. Ein Unternehmen, in dem jeder streng nach Vorschrift seinen Dienst verrichtet, wäre in absehbarer Zeit am Ende. Starre Regeln und Strukturen sind oft nicht hilfreich, so gut wie nie sinnstiftend. Sie frustrieren die Menschen und wecken ihren Widerstandsgeist. Der Soziologe Niklas Luhmann fand für die daraus resultierenden Regelverletzungen den Begriff der „brauchbaren Illegalität“. In der Managementliteratur ist auch von „konstruktiver Devianz“ die Rede. Inzwischen hat sich für die aktive Interpretation der eigenen Arbeitsrolle der Begriff des Job Crafting etabliert.
„Job Crafting ist förderlich für das Arbeitsengagement, die Arbeitszufriedenheit und wirkt sich letztlich positiv auf verschiedene Aspekte der Arbeitsleistung aus.“
Unternehmen sollten Job Crafting nicht unterdrücken, sondern gezielt fördern. Natürlich gibt es dafür auch Grenzen. Besteht Gefahr für Leib und Leben oder für das Fortbestehen des Unternehmens, müssen die Mitarbeitenden Regeln selbstverständlich befolgen und dürfen sie auf keinen Fall infrage stellen. Ansonsten aber profitieren Unternehmen von Mitarbeitenden, die Freiräume nutzen, die eigene Rolle mitzugestalten. Die Mitarbeitenden sind dann motivierter, zufriedener und leisten mehr. Wollen Sie selbst Job Crafting betreiben, können Sie sich an folgenden grundlegenden Möglichkeiten orientieren:
- Wer – hier verändern Sie Ihre Rolle so, dass Sie dadurch mit bestimmten Menschen oder Gruppen mehr oder weniger zu tun haben als vorher.
- Was – hier verändern Sie, welche Aufgaben Ihr Portfolio umfasst bzw. welchen Stellenwert sie darin einnehmen.
- Wann – hier entscheiden Sie selbstständig, zu welchen Zeiten Sie bestimmte Aufgaben erledigen.
- Warum – hier stellen Sie Ihre Tätigkeit in neue, womöglich größere Sinnzusammenhänge.
- Wo – hier entscheiden Sie selbst, an welchem Ort Sie bestimmte Aufgaben erledigen.
- Wohl – hier schaffen Sie die Rahmenbedingungen dafür, dass Sie sich bei der Arbeit wohlfühlen.
Dieses Modell liefert einen Denkrahmen, legt aber keineswegs fest, wie eine Veränderung aussehen sollte. Viele Veränderungen lassen sich unter dem Radar umsetzen. Dennoch sollten Sie Ihre Job-Crafting-Pläne in jedem Fall mit Ihrer Führungskraft besprechen. Zuvor gilt es aber, folgende Fragen zu klären:
- Inwiefern beeinflussen die vorgeschlagenen Veränderungen die eigene Organisationseinheit?
- Welche Auswirkungen haben die angestrebten Veränderungen auf andere Personen?
- Wie wirken sich die Veränderungen auf Ihr eigenes Leben aus – beruflich oder privat?
Für Führungskräfte kann Job Crafting auch ein Mittel sein, ihr Team zu ermächtigen. Die Möglichkeit zum Job Crafting trägt zu Selbstbestimmung, Stärkenorientierung und Sinnerleben bei.
Über den Autor
Nico Rose ist einer der führenden Experten für positive Psychologie im deutschsprachigen Raum. Er ist als Coach, Autor und Dozent tätig.
Dieses Dokument ist für den persönlichen Gebrauch bestimmt.
Kommentar abgeben