Platon
Phaidros
Reclam, 2012
Was ist drin?
Platons einflussreiches Spätwerk über Rhetorik, Eros und Pädagogik.
- Philosophie
- Griechische Antike
Worum es geht
Rhetorik, Eros und Pädagogik
Auf den ersten Blick ist Platons Phaidros ein zerrissenes Werk, das von ganz verschiedenen Dingen handelt: vom Schönen, vom Wesen des Eros, von dessen pädagogischem Einfluss auf die Seele sowie von den Kriterien guter Rhetorik. Bei genauerer Betrachtung aber hängen diese Themen eng zusammen. Das Schöne setzt den philosophischen Eros überhaupt erst in Kraft, der als Sehnsucht nach Weisheit und Wahrheit die Voraussetzung für eine gute, das heißt wahre Rede ist. Platon grenzt sich damit deutlich von den Sophisten ab, denen er vorwirft, sie orientierten sich am Schein und lehrten eine rein technische Redekunst, ohne sich um Inhalte zu scheren. Er selbst versteht unter Rhetorik eine Art Seelenführung: Eine gute Rede – ob öffentlich oder privat – legt den Keim einer Wahrheit in die Seele. Doch das Thema Rhetorik ist nur ein Aspekt dieses schmalen, aber reichhaltigen Werkes. Im Zentrum steht Platons berühmter Mythos von der Seele als einem geflügelten Zweigespann sowie ein Loblied auf die Knabenliebe, das bis in heutige Diskussionen über den pädagogischen Eros nachhallt.
Take-aways
- Platons Spätwerk Phaidros zählt zu den meistgelesenen Schriften des athenischen Philosophen.
- Inhalt: Phaidros liest dem Sokrates des Lysias’ begeisternde Rede gegen die Liebe vor. Sokrates ist skeptisch und kontert diese vermeintliche rhetorische Meisterleistung mit einer eigenen Rede aus dem Stegreif. Anhand eines Lobliedes auf die Liebe zeigt er, wie eine gute Rede sein muss: nicht rhetorisch perfekt, sondern von Wahrheit erfüllt.
- Das Werk wirkt auf den ersten Blick zerrissen und uneinheitlich. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass das zentrale Thema die Rhetorik ist.
- Platon grenzt sich mit dem Phaidros von den Sophisten ab, denen es auf die Überzeugungskraft einer Rede, nicht auf deren Inhalt ankam.
- Er legt Sokrates seine eigene Auffassung vom Eros als einer Triebkraft des Pädagogischen in den Mund.
- Damit verteidigt er auch die Knabenliebe – zu Platons Zeiten eine feste Größe in der Erziehung.
- Den Höhepunkt des Phaidros bildet der Mythos von der Seele als einem geflügelten Zweigespann.
- Platon vertritt im Phaidros seine Zwei-Welten-Lehre: Demnach gibt es eine materielle Welt und eine Welt der Ideen.
- Die Dichter der Frühromantik, etwa Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher, schätzten das Werk sehr.
- Zitat: „Ist nun nicht notwendig die Bedingung, wenn gut und schön gesprochen werden soll, dass der Geist des Redenden die Wahrheit dessen weiß, worüber er reden will?“
Zusammenfassung
Die Krankheit Liebe
Sokrates trifft auf der Straße zufällig den jungen Phaidros, der gerade von Lysias kommt. Die halbe Nacht hat Phaidros bei dem berühmten Schriftsteller und Redner verbracht und seiner Rede über die Vorzüge der Freundschaft gegenüber der Liebe gelauscht. Sokrates ist begierig zu hören, was der große Lysias zu dem Thema zu sagen hat. Doch Phaidros wehrt ab: Aus dem Gedächtnis könne er die Rede nicht wörtlich wiedergeben. Sokrates indes hat längst gemerkt, dass Phaidros den Redetext unter dem Mantel verborgen hält und dabei ist, ihn auswendig zu lernen. Er überredet den Freund, außerhalb der Stadtmauern im Schatten einer Platane Platz zu nehmen und ihm die Rede vorzulesen.
„Denn die Verliebten gereut es ihrer Wohltaten, sobald ihre Leidenschaft erloschen ist.“ (Phaidros, S. 20)
In Lysias’ Rede begründet ein älterer Mann gegenüber einem Jüngeren, warum es für ihre Beziehung besser sei, dass er nicht in ihn verliebt ist. Freundschaft, argumentiert er, ist beständig, während Leidenschaft irgendwann erlischt. Einem Freund tut man gern etwas Gutes, bei einem Geliebten dagegen sind immer auch Berechnung und Eitelkeit im Spiel – und wenn die Liebe verflogen ist, bereut man Ausgaben und Mühen. Freundschaften sind leichter zu schließen. Es kommen einfach mehr Menschen als potenzielle Freunde infrage, wogegen es schwierig ist, einen passenden Geliebten zu finden. Verliebte sind zudem extrem empfindlich und eifersüchtig, überall fürchten sie Konkurrenz. Dem Angebeteten zuliebe bricht der Verliebte mit seinen Freunden und Angehörigen – und steht am Ende allein da.
„Darin offenbart sich doch die Liebe: Sie macht, dass den Unglücklichen das, was den andern nicht schmerzt, als unleidlich erscheint, und die Glücklichen zwingt sie, auch auf das, was keiner Lust wert ist, ihr Lob zu verschwenden.“ (Phaidros, S. 23)
Wenn man es recht betrachtet, ist Verliebtheit eine Krankheit: ein vorübergehender Mangel an Vernunft und Beherrschung. Wenn ehemals Verliebte wieder bei klarem Verstand sind, begreifen sie selbst nicht mehr, was mit ihnen los war. Oft haben sie anfangs nur den Körper des anderen begehrt, ohne dessen Charakter zu kennen. Sobald aber die Leidenschaft erloschen ist, sehen sie keinen Anlass, weiter mit dem Objekt der Begierde befreundet zu sein, und suchen einen Vorwand für einen Bruch. Eine Freundschaft dagegen, die nicht von erotischer Begierde geleitet wird, ist nicht auf gegenwärtige Lusterfüllung aus, sondern hat stets die Zukunft im Blick. Sie ist nicht an Jugend und Attraktivität gebunden, sondern hält auch im Alter an. Gute Freunde streiten sich nicht um jede Kleinigkeit und sind eher bereit, Schwächen des anderen zu verzeihen und sein fehlerhaftes Verhalten auf sanfte Art zu korrigieren. Und: Dem Verliebten schenken wir unsere Gunst, weil er bedürftig ist und um unsere Gunst bettelt. Dem Freund aber tun wir Gutes, weil wir ihn als dessen würdig erachten.
Sokrates’ Scheinargumente gegen die Liebe
Phaidros ist begeistert von Lysias’ Rede, Sokrates aber hält sich zurück. Zum Inhalt könne er nicht viel sagen, dazu verstehe er zu wenig von dem Thema. Doch formal hat er einiges an der Rede auszusetzen: Wenn man genau hinschaue, sehe man, dass Lysias sich wiederholt. Er drücke ein und denselben Sachverhalt auf verschiedene Weise aus, als ginge es ihm vor allem darum, seine rednerischen Qualitäten unter Beweis zu stellen. Und was er über Freundschaft und Liebe sage, sei auch nicht unbedingt neu. Daraufhin fordert Phaidros Sokrates auf, es doch besser zu machen. Er soll mit anderen Argumenten begründen, warum die Freundschaft mit einem Nichtverliebten einer solchen mit einem Verliebten vorzuziehen sei.
„Dies also musst du bedenken, Kind, und die Freundschaft des Liebhabers durchschauen, dass sie nicht aus Wohlwollen entsteht, sondern gleich einer Speise um der Sättigung willen.“ (Sokrates, S. 36)
Sokrates beginnt seine Stegreifrede mit einer Begriffsbestimmung. In jedem von uns herrschen zwei widerstreitende Prinzipien: eine angeborene Begierde und ein erworbenes vernünftiges Streben nach dem Besten. Von Liebe sprechen wir, wenn die Begierde, also die Lust am schönen Körper eines anderen, gegenüber der Vernunft überwiegt. Wenn aber jemand von Begierde beherrscht wird, möchte er sich den anderen gefügig machen und sorgt dafür, dass dieser schwach und unselbstständig bleibt und stets zu ihm aufschauen wird. Der Liebende wird zu verhindern suchen, dass der Geliebte zu eigenem Geld gelangt, eine Ehe schließt, einen Haushalt gründet oder Kinder bekommt. Kurz: Er verhindert, dass der – meist ohnehin zarte, unmännliche – Geliebte seine Fähigkeiten entwickelt und zum Manne reift.
„Wenn also doch Eros in Wirklichkeit ein Gott oder eine Gottheit ist, so kann er nichts Übles sein.“ (Sokrates, S. 38)
Zugleich ist zu bedenken, dass so einem Liebesverhältnis zwischen einem Älteren und einem Jüngeren von Beginn an ein Ungleichgewicht innewohnt. Der Ältere kann von dem Jungen gar nicht genug kriegen, der Junge aber fühlt sich von dem welkenden Mann nach kurzer Zeit abgestoßen. Er sehnt sich nach seinesgleichen und hat die ständige Anwesenheit des anderen satt, seine Lüsternheit und seinen Kontrollwahn. Und ist die Leidenschaft des Älteren erst einmal erloschen, sind auf einmal all die Versprechen vergessen, die er dem Jüngeren im Liebesrausch gab, um ihn an sich zu binden. Nun erst begreift der Verlassene, dass Körper und Seele großen Schaden nehmen, wenn man sich mit einem Verliebten einlässt.
Sokrates’ Loblied auf die Verliebtheit
Phaidros fordert Sokrates auf, seine Rede fortzusetzen und nun die positiven Aspekte der Freundschaft zu behandeln, aber der lehnt ab. Er schämt sich dafür, auf Druck von Phaidros so schlecht über die Liebe gesprochen zu haben. Ist Eros nicht ein Gott, dem Verehrung gebührt? Doch Lysias’ Rede und seine eigenen Ausführungen waren nicht nur gotteslästerlich, sondern auch einfältig, gefühllos und grobschlächtig. Um sein dummes Geschwätz wiedergutzumachen, stimmt Sokrates nun ein Loblied auf die Verliebtheit an:
„Ja, wenn der Rausch schlechthin ein Übel wäre, dann wäre es wohl gesprochen. Nun aber werden die größten aller Güter uns durch den Rausch zuteil, wenn er als göttliches Geschenk verliehen wird.“ (Sokrates, S. 40)
Es ist falsch, zu behaupten, Freundschaft sei besser als Liebe, weil jene bei klarem Verstand entstehe, diese aber im Rausch. Grundsätzlich sind Wahn und Rausch nämlich etwas Schönes, Gutes, ein Geschenk der Götter und damit edler als die allzu menschliche Besonnenheit. Wahrsager verdanken ihre seherischen Kräfte dem Rausch, Sühnepriester heilen im Wahnzustand ganze Geschlechter von Flüchen. Zugleich ist Rausch die Voraussetzung für jedes künstlerische Schaffen. Die höchste Art des Wahns aber ist die, die durch den Anblick irdischer Schönheit ausgelöst wird und die wir Verliebtheit nennen.
Exkurs über die Unsterblichkeit der Seele
Sokrates fährt fort: Allen Körpern, die sich von selbst bewegen, wohnt ein unsterbliches Sich-selbst-Bewegendes inne: die Seele. Die unsterbliche Seele fliegt durch die Welt und sucht sich einen irdischen Körper. Beide vereinen sich zu etwas Lebendigem, Sterblichem. Vergleicht man die Seele mit einem geflügelten Zweigespann, so sind bei den Göttern beide Pferde edler Herkunft. Bei den Menschen hingegen ist das eine Pferd edel und schön, es liebt Besonnenheit und Scham und lässt sich leicht lenken. Das andere ist hässlich, boshaft und plump, es liebt Ausschweifung und Frechheit und gehorcht dem Lenker nicht.
„Allein das Sich-selbst-Bewegende, da es ja sich selbst nie verlässt, hört niemals auf, sich zu bewegen, und dies ist auch für alles andre, was bewegt wird, Quell und Urgrund der Bewegung.“ (Sokrates, S. 42)
Auf ihrem Weg durch himmlische Sphären kommen die göttlichen Gespanne leicht voran, denn sie befinden sich im Gleichschritt. Die Wagen der Menschen, die ihnen folgen, sind dagegen schwer zu lenken: Das schlechte Ross zieht nach unten, zur Erde hin, das edle strebt nach oben. Die Götter erreichen mit ihren Wagen mühelos den Punkt, von dem aus sie über den Himmel schauen und – jenseits von allem wirklich Seienden – das reine Sein erblicken. Die von Menschen gelenkten Wagen erreichen diesen Gipfel in der Regel nicht – zu uneinig sind die beiden Pferde. Manchen gelingt es immerhin, einen Blick auf das reine Sein zu werfen. Die meisten aber stürzen im Getümmel ab, ihre Flügel zerbrechen, und sie müssen sich fortan damit begnügen, nur noch die irdischen Erscheinungen zu sehen.
„Verhält es sich aber so, dass das Sich-selber-Bewegende nichts anderes sei als die Seele, so wäre notwendig die Seele ungeworden und unsterblich.“ (Sokrates, S. 42 f.)
Die zur Erde hinabgestürzten Seelen verbinden sich mit Körpern: Die am meisten Wahrheit geschaut haben, werden Diener der Weisheit oder der Schönheit, der Kunst oder des Eros. Im Zyklus von Tod und Wiedergeburt nehmen die Seelen immer wieder neue Gestalt an – je nachdem, wie sie sich im vorigen Leben bewährt haben. Jede menschliche Seele hat das Seiende geschaut – sonst wäre sie nicht in einen Menschen, sondern in ein Tier eingegangen. Doch vielen fällt es schwer, sich unter dem Eindruck der irdischen Erscheinungen an das reine Sein zu erinnern – sei es, weil sie es nur kurz gesehen haben, sei es, dass sie in schlechte Gesellschaft geraten sind und es vergessen haben.
Verliebtheit als Gottesanbetung
Normalerweise dauert es 10 000 Jahre, bis einer Seele neue Flügel gewachsen sind und sie an ihren Ursprungsort zurückkehren kann. Durch Weisheitsstreben oder Knabenliebe im Geiste der Weisheit verkürzt sich die Zeit indes auf 3000 Jahre. Die Seele erinnert sich beim Anblick eines schönen Gesichts oder eines vollkommenen Körpers an die reine Schönheit, die sie einst auf ihrem Himmelsflug gesehen hat. Im schönen Knaben erkennt sie ein Abbild des Göttlichen. Sie betet ihn an wie einen Gott, erschauert und gerät in einen Rausch, ohne zu begreifen, wie ihr geschieht. Ihr wachsen Flügel – ein unbehagliches Gefühl, ähnlich dem Zahnen. Wie im Fieber wechselt sie zwischen heiß und kalt, überall juckt und zwickt es, sie wird unruhig, kann nicht mehr schlafen und irrt von Sehnsucht getrieben rastlos umher. Über dem Angebeteten vergisst sie Familie und Freunde, kümmert sich weder um ihren Besitz noch um Anstand und Sitten. Die anderen Menschen halten den Verliebten für wahnsinnig, tatsächlich aber ist dieser Zustand, den man Eros nennt, die edelste Form der Gottesanbetung: Im Geliebten schaut der Verliebte das Göttliche – und wie in einem Spiegel auch sich selbst.
„Nach seiner Artung also erliest sich jeder die Liebe zu einem Schönen, und als ob es ein Gott wäre, stattet er ihn aus und belädt ihn mit Schmuck, um ihm mit begeisterter Feier zu huldigen.“ (Sokrates, S. 52)
Die irdischen Erscheinungen von Weisheit, Gerechtigkeit und Besonnenheit „haben keine Leuchtkraft“. Wenn die Menschen einem solchen Abbild begegnen, erkennen nur die wenigsten darin deren Urbilder. Die reine Schönheit aber strahlte auf dem Himmelsflug der Seele am hellsten und sprach unmittelbar die Sinne an. Daher fällt es uns leichter, wenn wir heute einem irdischen Träger der Schönheit begegnen, uns an sie zu erinnern und ein Abbild jenes leuchtenden Urbildes zu erkennen. Das gelingt allerdings nur jenen, die lange die reine Schönheit geschaut haben und sich noch daran erinnern können. Wer das Heilige hingegen vergessen hat oder durch den Sturz auf die Erde verdorben ist, wird beim Anblick eines schönen Menschen nicht Ehrfurcht, sondern nur geschlechtliche Lust empfinden.
Die philosophische Liebe
Wenn man sich die menschliche Seele als Zweigespann mit unterschiedlichen Pferden denkt, begreift man, was im Verliebten vorgeht: Das zuchtlose Pferd brennt vor Verlangen nach dem Angebeteten, es stürmt zu ihm hin und schert sich weder um Peitsche noch Stachel. Das gehorsame Pferd dagegen verspürt Scham und ist zurückhaltend. Der Lenker darf dem Drängen des schlechten Pferdes nicht nachgeben. Er muss es immer wieder zügeln und mit Gewalt zurückreißen, bis es folgt. Erst dann kann sich der Liebende dem Geliebten zaghaft und bescheiden nähern. Er führt sich dann nicht mehr auf wie ein Rasender, sondern ist von wahrer Leidenschaft ergriffen. Allmählich kommen sich die beiden näher. Die Liebe überträgt sich auf den jungen Geliebten, auch seiner Seele wachsen Flügel. Er sehnt sich ebenso schmerzhaft nach dem Älteren, wie er selbst ersehnt wird, möchte ihn sehen, berühren, küssen und würde sich ihm sofort hingeben, wenn dieser ihn darum bäte.
„Ist nun nicht notwendig die Bedingung, wenn gut und schön gesprochen werden soll, dass der Geist des Redenden die Wahrheit dessen weiß, worüber er reden will?“ (Sokrates, S. 62)
Nun aber müssen die beiden Lenker zusammen mit ihren schamhaften, vernünftigen Pferden das Kommando übernehmen, die störrischen Pferde unter Kontrolle bringen und die Liebe in besonnene, philosophische Bahnen lenken. Ansonsten werden die Liebenden in einem Moment der Trunkenheit oder Sorglosigkeit ihrem Begehren nachgeben. Und wenn sie dies einmal getan haben, werden sie es wieder tun – allerdings nicht häufig, denn ihre Seele ist gespalten und nicht völlig damit einverstanden. Diese Art der Beziehung ist nicht gänzlich unehrenhaft, aber die Flügel der beiden Liebenden werden im Keim stecken bleiben. Die Freundschaft eines Verliebten, so schließt Sokrates seine Rede, ist also ein göttliches Geschenk und viel wertvoller als die vernünftige, nüchterne, sparsam bemessene Freundschaft eines Nichtverliebten.
Die Kunst des Redens
Phaidros ist voller Bewunderung für Sokrates’ Rede, die diejenige des Lysias weit übertreffe. Woran aber entscheidet sich, ob eine geschriebene oder gesprochene Rede schön ist? Zunächst, meint Sokrates, muss der Redner den Begriff definieren, über den er spricht – was jedoch Lysias im Fall der Liebe unterlassen hat. Als Nächstes muss er die vielen Aspekte einer Sache beleuchten und sie anschließend wieder nach der dialektischen Methode zusammenführen. Viele unterrichten Redekunst, ohne wirklich Ahnung davon zu haben. Reden – ob öffentlich oder privat – ist aber eine Art Seelenführung. Wer ein guter Redner werden will, muss wissen, an wen er sich wendet und wie dieser am besten zu überzeugen ist. Die sogenannten Meister der Redekunst mögen behaupten, es ginge dabei nicht um Wahrheit, sondern allein um Glaubhaftigkeit, darum, die Menge zu überzeugen. Doch das ist Unsinn, meint Sokrates. Schön ist eine Rede, wenn sie auf der Erkenntnis des Wahren beruht und den Göttern gefällt.
Zum Text
Aufbau und Stil
Platons Phaidros ist als Dialog zwischen dem älteren Sokrates und dem jungen Phaidros geschrieben. Im ersten Teil trägt Phaidros eine Rede des Lysias über die Schädlichkeit der Verliebtheit vor, die Sokrates mit einer Stegreifrede scheinbar unterstützt. Den zweiten Teil, der das Zentrum des Phaidros darstellt, bildet Sokrates’ Widerruf dieser Rede und das anschließende Loblied auf den Eros mitsamt dem berühmten Seelenmythos. Im dritten Teil analysieren die beiden Protagonisten die Reden und definieren, was eine gute Rede ist – wobei Phaidros eher als Stichwortgeber fungiert, während Sokrates Platons Position wiedergibt. Dieser eher wissenschaftlich-philosophische Teil steht in deutlichem Kontrast zu dem überaus poetischen Mittelteil des Buches, wo Sokrates den Mythos vom Seelenwagen erzählt. In diesem von hohem Stilbewusstsein geprägten Abschnitt schwelgt Platon geradezu in Bildern und Metaphern. Aber auch im nüchternen Schlussteil flicht er kurze mythische Erzählungen ein – eine von den Zikaden, die früher Menschen waren, oder eine von der Erfindung der Schrift durch den ägyptischen Gott Theut.
Interpretationsansätze
- Platons Phaidros ist auf den ersten Blick ein zerrissenes Werk, das verschiedene Fragen behandelt und scheinbar nur durch den Dialog zwischen Sokrates und Phaidros zusammengehalten wird. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, dass das alles überspannende Thema die Rhetorik ist.
- Wie sein Lehrer Sokrates grenzt sich Platon scharf von den Sophisten ab, die ihren Schülern rhetorisches Geschick vermittelten. Er wirft der sophistischen Bewegung – der übrigens auch der historische Lysias angehörte – vor, sie lehrten die Schüler philosophisches Scheinwissen und betrieben lediglich rhetorische Spielereien, ohne den Inhalt der Reden zu beachten. Für Platon dagegen ist die Rhetorik an Wahrheit und an ethische Prinzipien gebunden.
- Im Phaidros, wie auch in anderen Dialogen, vertritt Platon eine Zwei-Welten-Lehre, die letztlich der Kern seiner Ideenlehre ist. Danach gibt es außer unserer materiellen, sinnlich wahrnehmbaren irdischen Welt eine Welt selbstständig existierender Ideen. Was wir etwa als gut wahrnehmen, ist nur ein Abbild der Idee des Guten, eine irdische Erscheinung, die am Gutsein „teilhat“. In den vielen verschiedenen Dingen oder Situationen, die wir als gut bezeichnen, kommt das Urbild, also die Idee des Gutseins, zur Darstellung.
- „Eros“ bedeutet im Griechischen das leidenschaftliche Streben und Verlangen nach etwas. Platon überträgt das Wort auf das Streben nach Weisheit und Unsterblichkeit: Die Seele sehnt sich zurück nach ihrem göttlichen Ursprung. Der Eros ist Voraussetzung der Erziehung und für die Vermittlung philosophischer Weisheit. Er entzündet sich am sinnlich Schönen, wird dann aber in geistige Bahnen gelenkt.
- Platon, der in seiner Anfangszeit einen radikalen Rationalismus vertrat, verteidigt den Eros als einen Wahnsinn göttlichen Ursprungs. Diese Neubewertung des Irrationalen wird in der Forschung kontrovers diskutiert: Während die einen meinen, es sei nicht ganz ernst gemeint, sehen andere darin eine grundlegende Wende in Platons Denken.
- Im Schlussteil geht es auch um das Thema der Schriftlichkeit. Schriftliches hat für Platon keinen Eigenwert. Es dient lediglich der Erinnerung an schon vorhandenes Wissen, nicht aber der Vermittlung neuen Wissens. Um wahre Erkenntnis an einen Schüler weiterzugeben, bedarf es des dialektischen Gesprächs zwischen Lehrer und Schüler.
Historischer Hintergrund
Pädagogik und Eros in der athenischen Demokratie
In dem halben Jahrhundert zwischen dem Sieg über die Perser 479 v. Chr. und dem Beginn des Peloponnesischen Krieges 431 v. Chr. erlebte Athen eine kulturelle und politische Blütezeit. Der Stadtstaat stieg zur Hegemonialmacht auf und bildete musterhaft die demokratische Staatsform der Polis aus. In dieser Zeit formierte sich auch das Konzept des Bürgers, dessen Selbstbewusstsein als Individuum maßgeblich auf der Mitwirkung im demokratisch regierten Gemeinwesen gründete. Umgekehrt war die attische Demokratie auf ihre Bürger – eine kleine, privilegierte Schicht frei geborener, volljähriger Männer – angewiesen. Die Notwendigkeit, im Interesse der Polis die heranwachsenden Jungen zu vollwertigen Bürgern zu erziehen, nahm ab der Mitte des fünften Jahrhunderts deutlich zu.
Hatte es schon im vorausgehenden Jahrhundert schulische Bildung gegeben, die Gymnastik, Musik und Dichtung beinhaltete, so änderte sich das pädagogische Konzept um die Mitte des fünften Jahrhundert. In den Volksversammlungen und an den Gerichtshöfen Athens entschieden zunehmend Lebenserfahrung und Beredsamkeit und nicht mehr Besitz und Herkunft über den Erfolg des Einzelnen. Unter den Bürgern wuchs somit das Bedürfnis nach einer Ausbildung der politischen Tüchtigkeit und der Redefertigkeit. Die Sophisten, die um 450 v. Chr. als Wanderlehrer nach Athen kamen, entsprachen dem Zeitgeist. Die Hauptvertreter dieser Bewegung wie Protagoras, Gorgias oder Hippias vermittelten ihren zahlenden Schülern Redekunst und praktisches Wissen und versprachen, sie zu rhetorisch versierten Vollbürgern auszubilden. Die Reaktionen auf diesen neuen pädagogischen Ansatz waren zwiespältig. Einerseits erkannten die attischen Bürger den Nutzen der Redekunst in der politischen Debatte an, andererseits hegten sie Skepsis gegenüber dem moralischen Relativismus der Sophisten, die jeden noch so abwegigen Standpunkt mit rhetorischen Mitteln durchzusetzen bereit waren.
Als Mittel der Pädagogik war im klassischen Athen eine erotisch gefärbte Beziehung zwischen Lehrer und Schüler nicht nur verbreitet, sondern auch sozial anerkannt – allerdings streng reglementiert. Die sogenannte Päderastie, übrigens ein Privileg der Oberschicht, bestand in der Mentorschaft eines Mannes gegenüber einem Jugendlichen im Alter von zwölf bis achtzehn Jahren. Ziel war es, die sittliche und geistige Vervollkommnung des Heranwachsenden voranzutreiben und ihn auf seine Rolle als künftiger Vollbürger der Polis vorzubereiten. Die geistig-seelische Zuneigung zwischen dem Älteren und dem Jüngeren wurde als grundlegend für eine erfolgreiche Ausbildung angesehen, eine sexuelle Beziehung dagegen galt als problematisch. Zwar durften sich die Knaben ihrem Gönner aus Dankbarkeit auch schon einmal körperlich hingeben, durften aber als frei geborene künftige Polisbürger niemals dazu aufgefordert oder gar gedrängt werden. Dennoch spielte körperliche Attraktivität, in der sich nach dem Verständnis jener Zeit auch innere Vollkommenheit ausdrückte, eine große Rolle: Je schöner der Knabe, desto mehr Männer warben darum, ein Liebesverhältnis mit ihm einzugehen – freilich unter strenger gesellschaftlicher Kontrolle und der Maßgabe von Tugendhaftigkeit und Mäßigung.
Entstehung
Bis ins 19. Jahrhundert galt Phaidros als ein Frühwerk Platons. Heute ist man sich einig, dass Platon den Dialog nach seiner Politeia verfasst haben muss, also um 370 v. Chr. oder sogar erst in den 360er-Jahren. Nachdem die Politeia ihn nicht wie erhofft zu politischer Herrschaft geführt hatte, wandte der fast 60-jährige Platon sich enttäuscht von der Politik ab und wieder verstärkt der Erziehung zu. Phaidros könnte eine Art zweite Weiheschrift Platons auf die von ihm selbst gegründete Akademie, die athenische Philosophenschule, gewesen sein.
Wirkungsgeschichte
Bereits in der Antike und später im Zuge des Neuplatonismus in der Renaissance zählte Phaidros zu den meistrezipierten Werken Platons. Das Bild von der geflügelten Seele, die in den Körper eingekerkert ist und im Augenblick des Todes entfliegt, fand in zahlreichen bildlichen und literarischen Darstellungen ihren Niederschlag. In Deutschland genoss das Werk um 1800 bei den Dichtern der Frühromantik, etwa Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher, allergrößte Wertschätzung. Dagegen bezeichnete Friedrich Nietzsche den Phaidros als „übervoll, gedunsen, phantastisch in der Manier“. Thomas Mann zog in seiner 1912 erschienenen Novelle Der Tod in Venedig Passagen aus dem Phaidros heran, um die Leidenschaft seines Helden von Aschenbach für den Knaben Tadzio, eine vollkommene Inkarnation des Schönen, zu beschreiben. Im 20. Jahrhundert setzten sich zahlreiche Philosophen mit den im Phaidros entwickelten Gedanken über Mündlichkeit und Schriftlichkeit auseinander, darunter Karl Jaspers, Hans-Georg Gadamer und Jacques Derrida. Platons Vorstellung von einer erotischen Erkenntnislehre hielt unter dem Namen „pädagogischer Eros“ Einzug in die Pädagogik – als Inbegriff einer Erziehung, die der Bildung des Menschen dienen soll und auf der Liebe zwischen Lehrer und Schüler gründet.
Über den Autor
Platon gilt als einer der größten philosophischen Denker aller Zeiten. Zusammen mit seinem Lehrer Sokrates und seinem Schüler Aristoteles bildet er das Dreigestirn am Morgenhimmel der westlichen Philosophie. Platon wird 427 v. Chr. in Athen geboren, als Sohn des Ariston, eines Nachfahren des letzten Königs von Athen. Da Platon aus aristokratischen Kreisen stammt, scheint eine politische Laufbahn vorgezeichnet. Doch die Politik verliert für ihn schnell an Reiz, als er sieht, wie die oligarchische Herrschaft der Dreißig im Jahr 404 v. Chr. Athen unterjocht. Platon betrachtet die Politik von nun an mit einem gewissen Abscheu, sie lässt ihn aber nie ganz los. Er wird ein Schüler des Sokrates, dessen ungerechte Hinrichtung im Jahr 399 v. Chr. ihn stark prägen wird. Fortan tritt Sokrates als Hauptdarsteller seiner philosophischen Schriften auf: 13 Briefe und 41 philosophische Dialoge sind überliefert. Nach der Verurteilung des Sokrates flüchtet Platon zu Euklid nach Megara (30 Kilometer westlich von Athen). Er reist weiter in die griechischen Kolonien von Kyrene (im heutigen Libyen), nach Ägypten und Italien. 387 v. Chr. kehrt er nach Athen zurück und gründet hier eine Schule: die Akademie. Deren Studienplan umfasst die Wissensgebiete Astronomie, Biologie, Mathematik, politische Theorie und Philosophie. Ihr berühmtester Schüler wird Aristoteles. 367 v. Chr. ergibt sich für Platon die einmalige Möglichkeit, sein in seinem Hauptwerk Der Staat entworfenes Politikideal in die Praxis umzusetzen: Er wird als politischer Berater an den Hof von Dionysios II., dem Herrscher von Syrakus, gerufen. Seine Hoffnungen, diesen in der Kunst des Regierens zu unterweisen, zerschlagen sich jedoch. Platon stirbt um 347 v. Chr. in Athen.
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