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Seelandschaft mit Pocahontas
Buch

Seelandschaft mit Pocahontas

München, 1955
Diese Ausgabe: S. Fischer, 1996 Mehr

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Literatur­klassiker


Worum es geht

Verbotene Liebeslyrik in der norddeutschen Tiefebene

Für dieses Buch muss man Arno Schmidt dankbar sein: Wohl keinem Autor vor oder nach ihm ist es so überzeugend gelungen, die kollektive Selbstverleugnung, seelische Verwahrlosung und die unausgesprochenen Sehnsüchte in der jungen Bundesrepublik derart sinnlich erlebbar zu machen. Eine Zeit, in der sich die ersten Wohlstandsdeutschen zu Tode fressen und saufen („Weeßte, wenn man als Kind so hat hungern müssen, und jetz später wieder : da wird ma zum Tier im Fressen!“); in der ein Mann seine knochige Verlobte (Spitzname „UKW-Antenne“) nur „wegen m Hof“ flachlegt; und in der eine Urlaubsaffäre für Sekt und eine Armbanduhr zu haben ist. Dem Autor brachte der Text eine Strafanzeige wegen Pornografie und Gotteslästerung ein – was mehr über den damaligen Zeitgeist als über das Werk selbst aussagt. Tatsächlich besticht diese Liebesgeschichte durch ein ungewohnt hohes Maß an Zärtlichkeit. Und so darf der Leser die übliche Schmidtʼsche Bildungshuberei ignorieren und inmitten berückend schöner Natur in menschliche Abgründe blicken. 

Zusammenfassung

Wiedersehen in Diepholz

Der mittellose Schriftsteller Joachim sitzt in einem Nachtzug aus dem Saarland nach Niedersachsen. Seine Gedanken rasen umher: Das gleichmäßige Rattern lässt in ihm Erinnerungen emporsteigen, an früher, als die „Mädchen schwarze Kreise statt der Augen“ hatten. Eine Nonne steigt zu. Die zehn Millionen KZ-Toten kommen ihm in den Sinn und dass ohne den Willen Gottes gar nichts passiert. Doch genießt er auch die landschaftlichen Schönheiten des Kylltals.

In der Morgendämmerung erreicht er Diepholz. Er sieht ordentliches Fachwerk, fromme Sprüche an den Fassaden der Häuser, blitzsaubere Straßen und ein Büro der Sozialistischen Reichspartei. Im Warteschuppen am Bahnhof hat sich Joachim mit seinem Kumpel, dem Malermeister Erich Kendziak, verabredet. Beide sind sie Vertriebene aus den Ostgebieten und waren zusammen im Krieg. Erich ist Witwer, hat einen Sohn, aber keinerlei Absicht, wieder zu heiraten. Sein Geschäft mit 15 Gesellen läuft prächtig. Nur mit seiner politischen Meinung geht er lieber nicht hausieren. Denn er ist gegen Adenauers CDU und die Wiederbewaffnung. Und in der Ostzone, flüstert...

Über den Autor

Arno Schmidt wird am 18. Januar 1914 in Hamburg geboren. Kaum kann er lesen, macht er sich über jedes gedruckte Stück Papier her. Er ist, nach eigener Aussage, zum „Bibliophagen und zur Isolation prädestiniert“. Nachdem sein Vater, ein Polizeibeamter, stirbt, siedelt die Familie 1928 nach Lauban in Schlesien über. 1934 beginnt Schmidt mit einer kaufmännischen Lehre, die er drei Jahre später abschließt. Er arbeitet als Lagerbuchhalter in einer schlesischen Textilfabrik. 1937 heiratet er seine Kollegin Alice Murawski. Im Zweiten Weltkrieg kommt Schmidt zur Artillerie, er kämpft im Elsass sowie in Norwegen. Nach einem Einsatz in Niedersachsen gerät er in britische Kriegsgefangenschaft. Als der Krieg vorbei ist, arbeitet Schmidt an der Hilfspolizeischule Benefeld als Dolmetscher für Englisch. Noch bis 1955 müssen er und seine Frau in Notunterkünften leben, zunächst in Niedersachsen und dann, nach seiner Umsiedlung nach Rheinland-Pfalz, in Gau-Bickelheim. 1949 erscheint mit Leviathan die erste Erzählung des Autors. 1955 wird Seelandschaft mit Pocahontas veröffentlicht, ein Werk, das ihm eine Anzeige wegen „Gotteslästerung und Pornografie“ einbringt. Wieder muss Schmidt sich „umsiedeln“ lassen, diesmal vom katholischen Kastel an der Saar ins protestantische Darmstadt. Seinen Ruhepunkt findet er im niedersächsischen Bargfeld, wo er sich mit finanzieller Unterstützung des Malers Wilhelm Michels ein Holzhaus kauft. Hier führt er fortan als freier Schriftsteller ein relativ abgeschiedenes Leben. Seine literarische Arbeit kulminiert 1970 im Hauptwerk Zettel’s Traum. Damit wird er endgültig zu einem Außenseiter der deutschen Literatur: Seine avantgardistische Prosa passt in kein Schema und kann keiner literarischen Strömung zugeordnet werden. Drei Jahre später verleiht ihm die Stadt Frankfurt am Main den Goethepreis. Neben seinem eigenen Werk tritt er als Übersetzer von James Fenimore Cooper, William Faulkner und Edgar Allan Poe hervor. Sein Interesse an Karl May führt zu Sitara und der Weg dorthin, einer Studie über den Abenteuerschriftsteller (1963). Arno Schmidt stirbt am 3. Juni 1979 an den Folgen eines Hirnschlags in Celle. 


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