Join getAbstract to access the summary!

Der Verdacht

Join getAbstract to access the summary!

Der Verdacht

Diogenes Verlag,

15 min read
10 take-aways
Text available

What's inside?

Wenn sich der Klinikleiter als ehemaliger KZ-Arzt entpuppt, möchte man das Spital lieber sofort verlassen. Dumm nur, dass genau dieser Chefarzt etwas dagegen hat ...


Literatur­klassiker

  • Kriminalroman
  • Nachkriegszeit

Worum es geht

Gerechtigkeit und Freiheit

Der Verdacht ist ein äußerst spannender, atmosphärisch dichter Kriminalroman, und doch bricht er wesentliche Regeln des Genres. Das gilt auch für Dürrenmatts andere Krimis Der Richter und sein Henker (ebenfalls mit dem Berner Kommissär Bärlach), Das Versprechen und Justiz: Verbrechen werden kaum aufgeklärt, die Welt bleibt undurchdringbar, der Triumph der Gerechtigkeit höchstens ein zufälliger. Dürrenmatt geht es nicht in erster Linie um die Suche nach einem Täter – der ist hier schnell gefunden –, sondern um die philosophischen Fragen nach Schuld, Sühne, Legitimität und Legalität. Im Verdacht geht es speziell um das Verhältnis von Gerechtigkeit und Freiheit. Dürrenmatt konfrontiert den Kommissär mit einem früheren KZ-Arzt namens Emmenberger, einem monströsen und grausamen Verbrecher, der in seiner unmenschlichen Art einen extrem radikalen Freiheitsbegriff vertritt: Emmenberger verklärt seinen persönlichen Sadismus zu einem Ausdruck höchster Freiheit und letztlich zu einer reinen Glaubenssache. Warum, fragt er Bärlach, sollte sein Nihilismus dem Prinzip der Gerechtigkeit unterlegen sein, zumal in einer materiellen Welt, die sich nicht mehr auf göttliche Gesetze beruft? Bärlach bleibt ihm eine eindeutige Antwort schuldig.

Take-aways

  • In Dürrenmatts philosophischem Kriminalroman wird eine schreckliche Ahnung formuliert: In einer absurden Welt könnte auch die Idee der Gerechtigkeit absurd sein.
  • Inhalt: Der todkranke Kommissär Bärlach schöpft den Verdacht, der Klinikleiter Emmenberger könnte der ehemalige Naziarzt Nehle sein, der KZ-Häftlinge ohne Narkose operierte. Er lässt sich in Emmenbergers Klinik verlegen, um diesen zu überführen. Doch der Arzt durchschaut ihn, die Klinik wird zum Gefängnis. In letzter Minute wird Bärlach von einem ehemaligen Folteropfer Emmenbergers befreit.
  • In Bärlachs Verzweiflung spiegeln sich die schrecklichen geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Ideale wie Gerechtigkeit und Freiheit wurden nachhaltig erschüttert.
  • Emmenberger ist eine Teufelsfigur, eine Verkörperung des Bösen, die im schrecklichsten Sinne tut, was sie will.
  • Der philosophische Ansatz des Nihilismus wird im Roman ausdrücklich thematisiert.
  • Der Verdacht entstand 1951 als Auftragsarbeit direkt im Anschluss an Der Richter und sein Henker.
  • Die beiden Bärlach-Romane, auch aus finanziellen Überlegungen geschrieben, markierten den Anfang von Dürrenmatts erfolgreicher Schriftstellerlaufbahn.
  • Kritiker monierten, Der Verdacht sei symbolisch überfrachtet.
  • Die Absurdität der Welt, dargestellt in grotesken Situationen, blieb ein zentrales Thema für Dürrenmatt.
  • Zitat: „Die Freiheit ist der Mut zum Verbrechen, weil sie selbst ein Verbrechen ist.“

Zusammenfassung

Ein ungeheurer Verdacht

Der krebskranke Kriminalkommissär Hans Bärlach liegt gegen Jahresende 1948 in der Klinik Salem in Bern. Wegen einer Herzattacke hat man ihn erst jetzt, über die Feiertage, operieren können. Der Eingriff war erfolgreich, ändert jedoch nichts an der Diagnose: Bärlach hat kaum noch lange zu leben; er selbst rechnet mit einem Jahr. Immerhin hat er sich von der Operation erholt, als er am 27. Dezember aufwacht. Er blättert in einer Ausgabe von Life aus dem Jahr 1945.

„Es waren Tiere, Samuel. (...) Der Lagerarzt Nehle führt an einem Häftling eine Bauchoperation ohne Narkose durch und ist dabei fotografiert worden.“ (Bärlach, S. 5)

Dabei entdeckt er ein Foto aus dem Konzentrationslager Stutthof bei Danzig, auf dem der ehemalige Lagerarzt Nehle bei einer grausamen Bauchoperation ohne Narkose an einem der Häftlinge zu sehen ist. Bei der abendlichen Visite zeigt er das Foto seinem Chirurgen, Dr. Samuel Hungertobel. Die beiden Männer sind eng befreundet. Bärlach bemerkt, wie Hungertobel beim Anblick des Fotos erbleicht. Als erfahrener Kriminalist zieht er seine Schlüsse: Könnte es sein, so Bärlachs Verdacht, dass Hungertobel den Naziarzt Nehle kennt?

„(...) als Emmenberger diesen Schnitt ausführte, mein Gott, Hans, hatte er die Augen weit aufgerissen, sein Gesicht verzerrte sich; es war plötzlich, als breche aus diesen Augen etwas Teuflisches, eine Art übermäßige Freude, zu quälen (...), wenn auch nur für eine Sekunde; denn schon war alles vorbei.“ (Hungertobel, S. 23)

Hungertobel behauptet zunächst, das Foto habe ihn nur an jemanden erinnert. Dann aber gesteht er, dass er den Abgebildeten, der einen Operationsmundschutz trägt, kennt. Widerstrebend gibt er schließlich den Namen jenes Kollegen preis, den er erkannt zu haben glaubt: Dr. Fritz Emmenberger, Besitzer der Luxusklinik Sonnenstein in Zürich.

Die Vorgeschichte

Hungertobel enthüllt nun, er habe Emmenberger an einer Narbe an der Augenbraue erkannt, die man trotz der Operationsmaske sehen könne. Er selbst habe Emmenberger einmal wegen einer Stirnhöhlenvereiterung operiert. In Medizinerkreisen, erzählt Hungertobel, werde Emmenberger „Erbonkel“ genannt: Viele seiner reichen Patienten würden der Klinik ihr Vermögen vermachen. Bärlach schöpft daraus einen weiteren Verdacht: Er vermutet, dass Emmenberger diese Vermächtnisse von seinen Patienten mit Methoden erpresst, die er im KZ Stutthof gelernt hat.

„Alle Menschen sind gleich. Nehle war ein Mensch. Also war Nehle wie alle Menschen.“ (Gulliver, S. 30)

Hungertobel versucht dies zu widerlegen: Emmenberger habe sich während des Krieges in Chile aufgehalten. Als Beweis dafür nennt er einige Fachartikel des Arztes, die in jenen Jahren in angesehenen internationalen Fachzeitschriften erschienen und in Chile verfasst worden seien. Nach der Lektüre dieser Artikel scheint Bärlach das Alibi allerdings fraglich. Gemäß Hungertobel pflegte Emmenberger früher einen sehr eleganten Schreibstil. Die Artikel aus Chile hingegen sind unbeholfen formuliert.

„Die Stadt Zürich war ihm sonst nicht recht sympathisch, vierhunderttausend Schweizer auf einem Fleck fand er etwas übertrieben.“ (über Bärlach, S. 61)

Jetzt steuert Hungertobel selbst ein weiteres Verdachtsmoment bei: Er habe bei einer Bergwanderung als Student miterlebt, wie der junge Kommilitone Emmenberger bei einem der Wanderer eine Koniotomie durchführte, eine Art notfallmäßigen Luftröhrenschnitt. Er könne die Szene bis heute nicht vergessen: Sie seien damals in einer finsteren, in gespenstisches Abendrot getauchten Alphütte untergekommen. Dort sei einer der Studenten unglücklich von einer Leiter gestürzt. Als er zu ersticken drohte, habe ihm Emmenberger den Hals aufgeschnitten und dabei geradezu teuflisch gegrinst, mit weit aufgerissenen Augen. Der Student habe seinem Lebensretter später nie mehr in die Augen sehen können und sich auch nicht für den Eingriff bedankt.

Ein geisterhafter Hühne

Bärlach nimmt Kontakt zu einem Freund, dem Juden Gulliver, auf, der daraufhin mitten in der Nacht an der Spitalfassade hochklettert und am Krankenbett erscheint. Gulliver ist eine geisterhafte Gestalt nach der Art des Ahasver. Sein riesenhafter Körper ist übersät mit Narben, er hat in vielen Konzentrationslagern gelitten. Bärlach fragt ihn nach Nehle, und tatsächlich kennt Gulliver den Arzt – er wurde damals selbst von ihm operiert. Nehle habe immer die Zustimmung der Juden zu diesen Operationen erwirkt, indem er ihnen die Hoffnung gab, sie könnten danach freigelassen werden. Sie hätten vorher bereits bei den grausamen Operationen an anderen Insassen dabei sein müssen, um zu wissen, was sie erwarte. Es stellt sich heraus, dass Gulliver sogar das Foto von der Operation Nehles gemacht hat, das Life abdruckte. Die Veröffentlichung habe den beabsichtigten Zweck erfüllt: Nehle habe sich noch 1945 in Hamburg das Leben genommen.

Die zwei Nehles

Bärlach lässt sich die Obduktionsunterlagen des toten Nehle schicken und erörtert sie mit Hungertobel. Die äußere Ähnlichkeit zwischen Nehle und Emmenberger geht so weit, dass sie neben der Narbe an der Augenbraue auch noch beide eine am Unterarm haben. Hungertobel glaubt immer noch an eine Verwechslung, Bärlach nicht. Der Kommissär sieht zwei andere Möglichkeiten: Entweder hat Nehle Emmenberger getötet und ist jetzt Inhaber der Sonnenstein-Klinik. Oder Emmenberger hat Nehle umgebracht und mit dessen Identität im KZ operiert; nach dem Krieg ist er als Emmenberger wieder in die Schweiz zurückgekehrt und hat sich als Arzt für Reiche einen Namen gemacht.

„Nehle ist der nicht. Ein Berliner hätte es nie zum Miuchmäuchterli gebracht.“ (Bärlach, S. 67)

Um den wahren Sachverhalt zu erfahren, beschließt Bärlach, sich unter falschem Namen in Emmenbergers Klinik Sonnenstein verlegen zu lassen. Vorher veranlasst er einen Bekannten, den verkrachten Journalisten Fortschig, zur Publikation eines Artikels in dessen Kleinzeitung: Die wahre Identität des ehemaligen KZ-Arztes Nehle sei nunmehr bekannt und werde demnächst veröffentlicht.

In der Klinik Sonnenstein

Am Silvestertag wird Bärlach von Hungertobel persönlich in die Klinik Sonnenstein gefahren. Bei der Einlieferung erkennt Bärlach hinter einem Fenster im Erdgeschoss für einen kurzen Moment das fratzenhafte Gesicht eines Zwerges.

„Sie spüren Krankheiten auf und ich Kriegsverbrecher.“ (Bärlach zu Emmenberger, S. 68)

Hungertobel führt noch ein kurzes Gespräch mit Emmenberger und versichert Bärlach beim Hinausgehen, dass Emmenberger auf jeden Fall derjenige sei, den er von früher kenne – und nicht etwa Nehle. Bärlach findet dies gleich darauf bestätigt, als ihn Emmenberger persönlich untersucht. Der Arzt verwendet Wörter in Berner Mundart, die der Berliner Nehle unmöglich kennen könnte. Damit ist für Bärlach endgültig klar, dass Emmenberger während des Krieges Nehles Identität angenommen hat. Bärlach versucht in dem Untersuchungsgespräch Emmenberger zu provozieren, indem er durchblicken lässt, dass er nach einem Kriegsverbrecher sucht. Der Arzt bleibt gelassen.

„Das soll doch nicht etwa heißen, dass es in der Schweiz Kriegsverbrecher gebe!“ (Emmenberger zu Bärlach, S. 69)

Nach der Untersuchung wird Bärlach in ein Zimmer mit verspiegelter Decke und vergittertem Fenster verlegt. An der Wand hängt eine Reproduktion von Rembrandts Gemälde Anatomie. Krankenschwester Kläri Glauber deutet an, dass Patienten aus dieser Station die Klinik nicht mehr lebend verlassen. Sie empfiehlt Bärlach einen von ihr selbst verfassten Traktat über den Tod als Ziel und Zweck unseres Lebenswandels. Darin gibt sie ihrer Überzeugung Ausdruck, das Leben und der Tod seien nur Durchgangsstationen zu einem höheren Dasein. Bärlachs Wunsch, das Rembrandt-Bild durch Dürers Ritter, Tod und Teufel zu ersetzen, notiert sie bereitwillig. Es wird später von einem taubstummen Handwerker ausgetauscht.

Die Ärztin

Weil ihm eine hochwirksame Beruhigungsspritze verabreicht wurde, wacht Bärlach erst fünf Tage später wieder auf. Dabei ist die Ärztin Dr. Edith Marlok zugegen. Die attraktive Frau ist ihm schon bei der Einlieferung aufgefallen. Nun spritzt sie sich gerade Morphium. Sie setzt Bärlach ohne Umschweife davon in Kenntnis, dass man hier durchaus wisse, wer er sei und was er wolle. Sie gibt sich als ehemals überzeugte Kommunistin zu erkennen. Sie sei vor den Nazis in die Sowjetunion geflohen; aber auch dort sei sie eingekerkert und im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes als deutsche Kommunistin an die SS übergeben worden. Von den Nazis ins KZ gesperrt, habe sie nur überlebt, weil sie Emmenbergers Geliebte geworden sei. Sie ist über alle Untaten Emmenbergers in der Vergangenheit und in der Gegenwart im Bild. In kalten, klaren Worten schildert sie Bärlach ihre desillusionierte Weltsicht und ihr Leben als Dienerin des „Höllenfürsten“.

„Was in Deutschland geschah, geschieht in jedem Land, wenn gewisse Bedingungen eintreten.“ (Bärlach zu Emmenberger, S. 69)

Nachdem Dr. Marlok das Zimmer verlassen hat, bringt die Krankenschwester Bärlach die Post, darunter eine Ausgabe von Fortschigs Zeitung mit dem von Bärlach veranlassten Artikel – und ein weiteres Blatt mit der Todesnachricht Fortschigs. Dieser ist Bärlachs dringendem Rat, sich nach dem Verfassen des Artikels in Paris in Sicherheit zu bringen, nicht gefolgt. Er ist in seiner Wohnung auf dem – verriegelten – Klo erschlagen worden. Die Polizei schließt ein Verbrechen aus, weil der einzige Zugang zu diesem Klo ein enger Lichtschacht ist. Bärlach erkennt sofort, dass nur der Zwerg diese Tat ausführen konnte.

Das Geständnis

In diesem Augenblick betritt Emmenberger das Zimmer, diesmal nicht im Arztkittel, sondern im Straßenanzug. Auf Knopfdruck lässt er eine Wand auseinandergleiten, hinter der sich ein Operationssaal befindet. Bärlach weiß, was ihn erwartet: Emmenberger will auch ihn ohne Narkose operieren und damit grausam zu Tode quälen. Tatsächlich kündigt Emmenberger eine Operation für sieben Uhr abends an. Bärlach bleiben nur noch wenige Stunden.

„Ich habe noch niemanden gesehen, der die Abteilung drei verlassen hätte. Und Sie sind auf der Abteilung drei, da lässt sich nichts dagegen machen.“ (Schwester Kläri zu Bärlach, S. 76)

Emmenberger scheint sich sicher zu fühlen und legt Bärlach seinen „Werdegang“ und seine Absichten rückhaltlos dar. Er gibt zu, Nehle die identitätsstiftenden Narben beigebracht und ihn nach Chile geschickt zu haben, um unter dessen Namen KZ-Arzt zu werden. Den bei Kriegsende aus Chile zurückgekehrten Nehle habe er durch Vortäuschung eines Selbstmordes getötet und seine alte Identität wieder angenommen. Dass der medizinisch begabte, aber nicht als Arzt ausgebildete Nehle den Ehrgeiz entwickelte, seinerseits unter Emmenbergers renommiertem Namen stilistisch zweifelhafte Fachartikel zu veröffentlichen, konnte Emmenberger nicht voraussehen. Ein fataler Schwachpunkt in der getürkten Geschichte, der einem scharfsinnigen Kriminalisten wie Bärlach auffallen musste. Allein deswegen erscheint es Emmenberger geboten, den Kommissär zu beseitigen. Auch Hungertobel, einen möglichen Belastungszeugen, will er umbringen.

„Mir sind die Menschen gleichgültig, auch Emmenberger, der doch mein Geliebter ist.“ (Marlok, S. 83)

Um seine Lust am Töten zu stillen, reichen Emmenberger solche Zweckmorde freilich nicht; dafür braucht er seine Klinik. Bärlach wirft ihm vor, ein Nihilist zu sein. Emmenberger weist das zurück. Er enthüllt einen rein materiellen Glauben an die Welt und das Leben, die nichts als ein Produkt des Zufalls seien. Im Gespräch mit Bärlach wirft er diese Vorstellung bildlich auf die Waagschale und fordert ihn auf, seinen Gerechtigkeitsglauben dagegenzusetzen und zu begründen. Dann wolle man sehen, was schwerer wiege: der Glaube eines Massenmörders oder der eines Christen. Bärlach geht darauf nicht ein und schweigt.

„Nun gut, sehen wir, was ich für einen Glauben habe, und legen wir ihn auf eine Waage, und sehen wir, wenn wir den Ihren auf die andere Schale legen, wer von uns beiden den größeren Glauben besitzt, der Nihilist – da Sie mich so bezeichnen – oder der Christ.“ (Emmenberger zu Bärlach, S. 108)

Emmenberger führt seine Überzeugungen noch weiter aus: Er behauptet, das wesentliche Charakteristikum der Materie sei ihr bedingungsloses Dasein und damit ihre Freiheit. Die äußerste Ausprägung der Freiheit aber sei der Mut zum Verbrechen. Im Moment des grausamsten Verbrechens realisiere sich diese Freiheit auf allerhöchste, intensivste und geradezu triumphale Weise. Das Erlebnis der äußersten Qual des Opfers wiege so viel wie die gesamte Materie des Universums.

Die Rettung

Dem kranken, alten Bärlach bleibt danach nichts mehr übrig, als hilflos auf den Tod zu warten. Nach einigen Stunden hört er allerdings, wie draußen jemand das Kinderlied Hänschen klein singt. Es ist der riesige Jude Gulliver, der geahnt hat, welchen Verdacht Bärlach schöpfte. Gemeinsam mit Hungertobel kann er Bärlach retten und persönlich Rache an Emmenberger nehmen: Er zwingt ihn, eine Zyankali-Kapsel zu zerbeißen – genauso, wie es Emmenberger damals mit Nehle tat. Dann verschwindet der Riese ebenso rasch, wie er aufgetaucht ist. Er nimmt Emmenbergers Zwerg mit sich, der sich als sein ehemaliger Leidensgenosse in Stutthof herausgestellt hat. Bärlach schließt erleichtert die Augen. Als sich die Tür zu seinem Zimmer leise öffnet, weiß er, dass das Hungertobel sein muss, der ihn nach Bern zurückbringen wird.

Zum Text

Aufbau und Stil

Dürrenmatts kurzer Kriminalroman hat nur zwei Handlungsorte: die beiden Krankenzimmer in Bern und Zürich. Beide Räume könnten auch Bühnenbilder sein. Der einzige Ortswechsel spaltet den Roman in zwei Teile, die zusätzlich in kleinere Kapitel gegliedert sind. Diese wirken wiederum wie Szenen, in denen jeweils eine weitere Person zu Bärlach hinzutritt. Es erstaunt nicht, dass Dürrenmatts Ruhm als Schriftsteller vor allem auf Theaterstücken und Hörspielen gründet, durch die er sich als philosophischer Denker profilierte. Auch in Der Verdacht stehen weniger die Motive oder Gefühle der Figuren im Zentrum, sondern philosophisch-theologische Fragen des Gerechtigkeitsproblems. Bei aller Gedankenschwere bleibt der Krimi jederzeit hochspannend. Dürrenmatt schreibt munter und unprätentiös und lebt seinen Hang zum Grotesken lustvoll aus.

Interpretationsansätze

  • Man kann Dürrenmatts Kriminalroman als ein Stück Vergangenheitsbewältigung sehen: Die Erzählung entstand Anfang der 1950er Jahre unter dem noch frischen Eindruck der Nazigräuel. Sowohl für den ohne Narkose operierenden Emmenberger wie auch für den Juden Gulliver, der eine solche Operation überlebt hat, gibt es reale Vorbilder: etwa den berüchtigten KZ-Arzt Mengele sowie unzählige namenlose jüdische Opfer.
  • Dürrenmatts teilweise skurril überzeichnetes Personal besteht aus Symbolfiguren, etwa dem „Ewigen Juden“ Gulliver. Prägnantestes Beispiel ist Emmenberger: Er erscheint als realer, sadistischer Mörder, gleichzeitig aber auch als moderne Verkörperung des Teufels, des Bösen schlechthin. Seine Narbe kann als Kainszeichen gedeutet werden.
  • Das Schicksal der Marlok spiegelt die historische Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Ihr Leiden sowohl unter dem Stalinismus wie unter dem Nationalsozialismus hat sie in einen desillusionierten, absoluten Zynismus geführt. In diesem Zustand sind ihr selbst die schlimmsten Verbrechen gleichgültig.
  • Bärlachs Schweigen auf die provozierenden Fragen Emmenbergers verdeutlicht die Erschütterung eines Humanitätsideals. Sein philosophischer Verdacht: Die Welt ist sinnlos, also kann es keine Gerechtigkeit geben. Die Absurdität der Welt, dargestellt in grotesken Situationen, blieb ein zentrales Thema für Dürrenmatt.
  • Gerechtigkeit und Verbrechen werden parallel gesetzt: Bärlachs Krankenzimmer ist eine vergitterte Zelle, wie man sie zur Verwahrung von Verbrechern braucht, Emmenberger übt eine Macht über Leben und Tod aus, die höchstens einer Rechtsordnung zusteht, Bärlachs „Verhör“ und Emmenbergers „Untersuchung“ stehen sich ebenbürtig gegenüber. Der Gerechtigkeitsglaube des Fahnders erscheint damit ebenso absurd wie der pervertierte Freiheitsglaube des Naziarzts.
  • Emmenbergers Credo besagt, dass die absolute Materie nur durch reinen Zufall strukturiert werde, woraus sich für den Starken, Mächtigen und Skrupellosen unbegrenzte Handlungsfreiheit ergebe. Dieser Nihilismus, wie er bereits bei Nietzsche anklingt (den Dürrenmatt eingehend studiert hat), greift auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse zurück, insbesondere die neuere Physik und die Evolutionstheorie. Tatsächlich bedienten sich auch die Nazis wissenschaftlicher Theorien, um ihre Entwertung jeglicher moralisch-ethischer Maßstäbe zur rechtfertigen.

Historischer Hintergrund

Legales Unrecht?

Die Diskriminierungsgesetze der Nationalsozialisten wie das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (1933) oder die berüchtigten Nürnberger Gesetze (1935), die heute als schreiendes Unrecht empfunden werden, waren seinerzeit gültiges Recht, genauso wie viele andere Rechts- und Gerichtsakte der Nazis. Gerade in der Zeit zwischen den Weltkriegen wurde die Frage der Legitimität des Rechts intensiv diskutiert. Die so genannten Rechtspositivisten erklärten, Rechtsnormen, die formaljuristisch korrekt zustande gekommen seien, müssten gelten. Hier legitimiert das Verfahren die Norm, so wie das korrekte Gerichtsverfahren das Urteil legitimiert. Rechtswissenschaftler Hans Kelsen formulierte diesen Standpunkt in seiner berühmt gewordenen „Reinen Rechtslehre“. Ethisch-moralische Wertungen gehören ihr zufolge zu einem anderen Normensystem und haben mit der Rechtsausübung nichts zu tun.

Das Problem der Legitimität des Rechts ist freilich älter: Seit der Aufklärung schien es unmöglich, sich in rechtlichen Fragen auf transzendentale Grundnormen, auf ewiges oder göttliches Recht zu berufen. In den Worten David Humes: Das Sollen kann nicht aus dem Sein abgeleitet werden. Nachdem dieser Ansatz entfallen war, erschien die positivistische Variante als denkbare Lösung, aber es blieb die Frage: Wer legitimiert die Recht setzende Gewalt bzw. wer erlegt ihr Missbrauchsschranken auf? Eine mögliche Antwort ist das Naturrecht. Es wird als überpositives Grundlagenrecht verstanden, das über dem Gesetz steht. Dieser Gedanke findet seinen bekanntesten Ausdruck im ersten Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, wonach alle Menschen gleich geschaffen sind und die gleichen unveräußerlichen Rechte haben. In der Weimarer Zeit beriefen sich sehr unterschiedliche Rechtsdenker auf das Naturrecht. Carl Schmitt spitzte die Problematik der Rechtsgeltung auf die Frage zu: Wer entscheidet im äußersten Fall über die Rechtsgeltung? Seine Antwort: der Souverän. Das wäre im demokratischen Rechtsstaat das Volk bzw. das Parlament. Dass Carl Schmitt mit dem „Souverän“ auch den „Führer“ gemeint haben könnte, wurde ihm vielfach unterstellt. Jedenfalls hat Schmitt herausgearbeitet, dass die Anwendung und Geltung des Rechts letztlich eine politische Entscheidung ist. Dagegen beharrte der Rechtsprofessor und zeitweilige Reichsjustizminister Gustav Radbruch (Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, 1946) auf der Geltung übergesetzlichen Rechts, indem er es an die Gerechtigkeitsidee koppelte. Diese Idealvorstellung versuchte er in wenige konkrete und allgemeingültige Begriffe zu fassen. Dazu zählen Gleichheit (Willkürverbot), Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit. Egal, welchem Ansatz man folgt: Die eigentliche Gerechtigkeitsfrage scheint nicht allein juristisch lösbar.

Entstehung

Anfang der 1950er Jahre befand sich Friedrich Dürrenmatt, mittlerweile Vater von drei Kindern, in finanziellen Schwierigkeiten. Er wollte als freier Schriftsteller leben, hatte aber ernsthafte Probleme, auf diese Weise seine Familie zu ernähren. Als er für deutsche Radioanstalten Hörspiele zu schreiben begann, besserte sich die Situation. 1950 erhielt er von der Wochenzeitschrift Der Schweizerische Beobachter das Angebot, einen Fortsetzungsroman zu veröffentlichen. Dürrenmatt nahm dankend an und schrieb zunächst den Krimi Der Richter und sein Henker, sein bis heute weltweit bekanntestes Buch. Vorbilder für den Kommissär Bärlach waren George Simenons Maigret und die Antihelden amerikanischer Autoren wie Raymond Chandler und Dashiell Hammett. Außerdem ähnelt Bärlach dem bärbeißigen, unentwegt Brissago rauchenden Wachtmeister Studer aus den Krimis des Schweizer Autors Friedrich Glauser.

Die Verbindung des vermeintlich trivialen Genres mit philosophischen Einsprengseln fand große Resonanz, also ließen Zeitschrift und Autor eine Fortsetzung folgen: Der Verdacht. Dieser zweite Kriminalroman schließt mit der gleichen Hauptfigur unmittelbar an Der Richter und sein Henker an. Dürrenmatt schrieb unter großem Zeitdruck: Einige Abschnitte stellte er erst kurz vor dem geplanten Publikationsdatum fertig. Der Verdacht erschien 1951/52 im Beobachter, 1953 in Buchform.

Wirkungsgeschichte

Die Reaktion auf Der Verdacht war nicht ganz so überschwänglich wie jene auf Der Richter und sein Henker, der Dürrenmatts Durchbruch als Schriftsteller markiert hatte und ihm im Lauf der Zeit ein Millionenvermögen einbrachte. Manche Kritiker monierten, der zweite Roman sei hastig geschrieben – was stimmt –, symbolisch überfrachtet, kurz: handwerklich nicht geglückt. Dem widerspricht der große Publikumserfolg, der das Buch trotz einiger offenkundiger Schwächen war. Zusammen mit seinem Vorgänger und dem Roman Das Versprechen bildet es eine Kriminalroman-Trilogie, die sich bis heute großer Beliebtheit erfreut – nicht zuletzt als Schullektüre.

Über den Autor

Friedrich Dürrenmatt wird am 5. Januar 1921 in Konolfingen im Schweizer Kanton Bern geboren. Sein Vater ist protestantischer Pfarrer. In Bern besucht Dürrenmatt das Freie Gymnasium und das Humboldtianum, 1941 legt er die Matura ab. Er ist bestenfalls ein mittelmäßiger Schüler und bezeichnet die Schulzeit später als die übelste Phase seines Lebens. In Bern und Zürich studiert er Philosophie, Literatur- und Naturwissenschaften. Seinen eigenen biografischen Schriften zufolge führt er das Leben eines verkrachten Studenten. 1946 zieht er nach Basel, ein Jahr später heiratet er die Schauspielerin Lotti Geissler, mit der er insgesamt drei Kinder hat. 1947 wird sein erstes Theaterstück Es steht geschrieben uraufgeführt. Aus Geldnot verfasst Dürrenmatt Anfang der 50er Jahre seinen wohl bis heute bekanntesten Kriminalroman Der Richter und sein Henker (1950/51), es folgen Der Verdacht (1951/52) und Das Versprechen (1958). Die Theaterstücke Die Ehe des Herrn Mississippi (1952) und Ein Engel kommt nach Babylon (1953) machen ihn einem breiten Publikum bekannt, die Dramen Der Besuch der alten Dame (1956) und Die Physiker (1962) begründen seinen Weltruhm. Ab 1952 lebt der Schriftsteller in einem eigenen Haus bei Neuchâtel. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratet Dürrenmatt 1984 die Schauspielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr. Wechselvoll ist sein Verhältnis zur zweiten großen Figur der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts, Max Frisch. Die anfängliche Freundschaft schlägt in gegenseitiges Ressentiment um, das auf persönlicher Antipathie und literarischen Differenzen beruht. Dürrenmatt erhält im Lauf seines Lebens zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Georg-Büchner-Preis. Sein literarisches Werk ist äußerst vielfältig: Neben Theaterstücken und Romanen umfasst es Hörspiele, Essays, Erzählungen, Vorträge sowie autobiografische, literatur- und theatertheoretische Schriften. Daneben arbeitet Dürrenmatt zeitweise als Regisseur und ständig als Maler und Zeichner. Er stirbt am 14. Dezember 1990 in Neuchâtel an einem Herzinfarkt.

Hat Ihnen die Zusammenfassung gefallen?

Buch oder Hörbuch kaufen

Diese Zusammenfassung eines Literaturklassikers wurde von getAbstract mit Ihnen geteilt.

Wir finden, bewerten und fassen relevantes Wissen zusammen und helfen Menschen so, beruflich und privat bessere Entscheidungen zu treffen.

Für Sie

Entdecken Sie Ihr nächstes Lieblingsbuch mit getAbstract.

Zu den Preisen

Für Ihr Unternehmen

Bleiben Sie auf dem Laufenden über aktuelle Trends.

Erfahren Sie mehr

Studenten

Wir möchten #nextgenleaders unterstützen.

Preise ansehen

Sind Sie bereits Kunde? Melden Sie sich hier an.

Kommentar abgeben

Mehr zum Thema

Verwandte Kanäle