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Zur Genealogie der Moral

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Zur Genealogie der Moral

Eine Streitschrift

Insel Verlag,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Achtung, schweres GeschĂŒtz: Nietzsches Generalangriff auf die „Sklavenmoral“ des christlichen Abendlandes.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Der Sklavenaufstand in der Moral

Zur Genealogie der Moral ist eine Art KomplementĂ€rband zu dem von vielen als ungeheuerlich empfundenen Nietzsche-Werk Jenseits von Gut und Böse. Wieder wetzt der Pfarrerssohn die sprachliche Klinge, um seinem Lieblingsfeind zu Leibe zu rĂŒcken: dem Christentum. Genealogie bedeutet Ahnenforschung. So sucht Nietzsche nach dem Ursprung der Moral sowie dem ihres elementaren Begriffspaares „Gut und Böse“ und stellt die Wertaussagen der abendlĂ€ndischen Moralphilosophie auf den Kopf. FĂŒr ihn ist Moral schlicht ein Mittel der MachtausĂŒbung. 2000 Jahre lang lag demnach die moralische Deutungshoheit bei den Vertretern der christlichen und der jĂŒdischen Religion. Sie verkehrten die antike Vorstellung vom edlen und guten Herrenmenschen und vom schlechten Pöbel ins Gegenteil: Die Elenden, Armen und Geknechteten wurden zu den Guten, und die herrschende Klasse stellte fortan die Bösen. Von dieser umgestĂŒlpten Hierarchie hĂ€lt der streitbare Philosoph natĂŒrlich nichts; was ihm stattdessen vorschwebt, sagt er aber – zumindest hier – nicht. Die Genealogie ist grundlegend fĂŒr das VerstĂ€ndnis von Nietzsches SpĂ€twerk: Sie versammelt die wichtigsten Ideen seines GedankengebĂ€udes und bringt sie auf den Punkt.

Take-aways

  • Zur Genealogie der Moral ist eines von Nietzsches einflussreichsten Werken.
  • Inhalt: Moral ist nichts anderes als ein Ausdruck des Willens zur Macht. Die Moralvorstellungen von Gut und Böse entspringen einer „Sklavenmoral“, die die Ausbreitung einer „Herrenmoral“ vereitelt hat. Christliche Wertvorstellungen, darunter das schlechte Gewissen, die Schuld und das asketische Ideal, beruhen auf einem Ressentiment der Sklaven gegen ihre Herren und warten auf ihre Überwindung und Ablösung.
  • Nietzsches Versuch, die Moral von ihrer Geschichte (Genealogie) her zu beschreiben, zielt auf ihre ZertrĂŒmmerung.
  • Nietzsche verstand das Buch als ErgĂ€nzung zu Jenseits von Gut und Böse. Auch in diesem Werk zieht er ĂŒber das Christentum und die Demokratie her.
  • Anders als in anderen, oft aphoristischen Schriften bemĂŒht sich Nietzsche um eine systematische, stringente Argumentation.
  • Wie die von ihm geforderte „Umwertung der Werte“ erfolgen soll, hat Nietzsche offengelassen.
  • Das erste Manuskript entstand innerhalb weniger Wochen; Nietzsche musste jeden Freiraum nutzen, den ihm seine zahlreichen Krankheiten erlaubten.
  • Von Zeitgenossen missachtet, beeinflusste die Abhandlung postmoderne Denker wie Foucault und Bourdieu, aber auch die Nazis.
  • Sigmund Freud griff in Das Unbehagen in der Kultur das Thema der Entstehung des Gewissens aus der UnterdrĂŒckung fundamentaler Triebe auf.
  • Zitat: „Lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen.“

Zusammenfassung

Der Mensch kennt sich nicht

Woher kommt der Mensch? Wer sind wir? Wir haben nie ausreichend nach uns gesucht und uns daher auch noch nicht gefunden. Was wir erleben, nehmen wir nicht richtig wahr. So bleibt uns ein großer Schatz der Erkenntnis verborgen. Wer hingegen reflektiert und ZusammenhĂ€nge begreift, dem erschließt sich das eigene Leben und Handeln sowie das Dasein in seiner Gesamtheit. Dabei mĂŒssen wir Gedanken und Werte, Zweifel und Entscheidungen gleichermaßen einbeziehen und ihre Wechselwirkung untereinander verstehen lernen.

„Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: Das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht – wie sollte es geschehen, dass wir eines Tages uns fĂ€nden?“ (S. 9)

Ausgangspunkt ist die Moral: Woraus ist sie entstanden? Wie hat sie sich entwickelt und verĂ€ndert? Worauf grĂŒnden Begriffe wie „gut“, „böse“, „schlecht“ oder „Schuld“? Welchen Wert haben moralische Urteile fĂŒr die Menschen? Wie haben sie uns beeinflusst? Der Geschichte bzw. der Genealogie der Moral soll in drei Abhandlungen nachgegangen werden. Anders aber als etwa bei Schopenhauer, dessen Analyse der Moral in den Nihilismus fĂŒhrte, steht hier das Gegenteil im Vordergrund: Die Kritik der moralischen Werte und die Hinterfragung ihrer Herkunft soll zu ganz neuen Erkenntnissen fĂŒhren. Es ist eine Reise in ein fernes Land, das es erst noch zu entdecken gilt. Um es wirklich zu verstehen, ist genaues Lesen notwendig. Der moderne Mensch muss sich darum der Kuh annĂ€hern und lernen, wiederzukĂ€uen.

Sklavenmoral und Herrenmoral

Verschiedene Denker haben sich mit der Herkunft der Vorstellung von Gut und Böse befasst, aber sie haben dabei den Bezug zur Historie strĂ€flich vernachlĂ€ssigt. So haben sich die Überlegungen bis dato lediglich um psychologische Aspekte oder persönliche Erfahrungen gedreht, z. B.: Ist gut, was zugleich nĂŒtzlich und zweckmĂ€ĂŸig ist? Außer Acht gelassen wurde aber die etymologische Herkunft der Wörter, in der deutschen wie auch in verschiedenen anderen Sprachen. Einst stand das Wort „gut“ in Verbindung mit „edel“ bzw. „adlig“, was bedeutet, dass es sich um einen Begriff stĂ€ndischen Ursprungs handelt. Zwar gab es Bedeutungsnuancen, aber das Wort hatte stets mit der politischen Stellung und dem VerhĂ€ltnis der Menschen untereinander zu tun.

„Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: Wir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen (...)“ (S. 14)

Die Ignoranz dieser eigentlichen Herkunft des Wortes ist typisch fĂŒr die Moderne, die die Suche nach Wurzeln eher hemmt. Sie musste deshalb zwingend zu völlig falschen RĂŒckschlĂŒssen bei der Interpretation von „gut“ und „böse“ bzw. „schlecht“ gelangen. Denn es ist eben genau der historische Hintergrund, der ĂŒberhaupt erst zu diesen Urteilen und den damit verbundenen Werten fĂŒhrt. Diese Vorstellungen haben ihren Ursprung in der „Herren-“ und der „Sklavenmoral“, die die Zivilisation maßgeblich beeinflusst haben und bis heute von Bedeutung sind. Diese beiden moralischen Denkweisen haben die Wörter und ihre Interpretation geprĂ€gt: Die Privilegierten empfanden als gut, was edel, vornehm und mĂ€chtig war – wie sie selbst –, wĂ€hrend sie niedrigere Menschen als schlecht ansahen; „schlecht“ bedeutete „gemein“ und „schlicht“.

Von „Gut und Schlecht“ zu „Gut und Böse“

Die „Sklaven“, die Armen und Unterprivilegierten, formulierten den gleichen Gegensatz, aber aus einer Grundhaltung der EmotionalitĂ€t und des Ressentiments heraus: Als „böse“ (anstelle von „schlecht“) bezeichneten sie, wer ihr Feind war, ihr Leben beeintrĂ€chtigte oder sie ihrer Freiheit beraubte. Im Unterschied dazu sahen sie sich selbst als „gut“. Beide Moralvorstellungen und Werteskalen basieren auf Standesunterschieden. Jedoch nahmen die „Herren“ ihr Gutsein aktiv fĂŒr sich selbst in Anspruch und freuten sich an ihrer StĂ€rke, wĂ€hrend die „Sklaven“ mit ihrem Begriff „böse“ nur auf ihre UnterdrĂŒckung reagierten und ihre Unterlegenheit kompensieren wollten.

„Das Pathos der Vornehmheit und Distanz (...) einer höheren herrschenden Art im VerhĂ€ltnis zu einer niederen Art, zu einem ‚Unten‘ – das ist der Ursprung des Gegensatzes ‚gut‘ und ‚schlecht‘.“ (S. 20)

Die „Herrenmoral“ fand ihren Niederschlag vor allem im Römischen Reich, zur Zeit der Renaissance und wĂ€hrend Napoleons Regentschaft. Die „Sklavenmoral“ – verbunden mit RachegefĂŒhlen, Hass und Aufstand – dominierte das Juden- und das Christentum. Welche Moralsicht hat letztendlich gesiegt? In der RĂŒckschau ĂŒberwiegt, nach einem langen, 2000-jĂ€hrigen Kampf, die pöbelhafte „Sklavenmoral“. Deren FrĂŒchte sind eine unermessliche Liebe fĂŒr die Armen, Schwachen und selbst die SĂŒnder. Die Sklavenmoral ĂŒberwand Hass und Rache und spendete Hoffnung auf Gerechtigkeit. Die Begriffe „gut“ und „böse“ erhielten ihre bis heute gĂŒltige Bedeutung.

Ein Tier, das versprechen darf

Worin unterscheidet sich der Mensch vom Tier? Nicht zuletzt darin, dass er ĂŒber ein außergewöhnliches GedĂ€chtnis verfĂŒgt. Dem verlangt er einiges ab: etwa die FĂ€higkeit, etwas zu versprechen oder Verantwortung zu ĂŒbernehmen. Allerdings bringt dasselbe GedĂ€chtnis auch das Vergessen mit sich. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein vordergrĂŒndiges Versagen, sondern um ein positives Hemmungsvermögen: Es geht darum, das Unwichtige vom Wichtigen zu unterscheiden, mit dem Ziel, genug Raum fĂŒr Neues zu schaffen. Nur wer mit etwas fertig wird, hat genug Kraft, seinen eigenen Willen zu finden und zu festigen. Dieser eigene Wille wiederum kreiert ein souverĂ€nes, berechenbares Individuum, das aufgrund seiner FĂ€higkeiten versprechen darf. So ein freier Mensch trĂ€gt in seinem Willen auch einen Wertemaßstab, mit dem er einerseits seine Umwelt spiegelt, sie verachtet oder ehrt, und andererseits seine persönliche StĂ€rke und VerlĂ€sslichkeit einordnet. Er entwickelt also ein Gewissen gegenĂŒber dem eigenen Handeln.

Die Schuld und der Wille zur Macht

Wie hat sich die Ordnung in der Gesellschaft entwickelt? Mittels Schmerz und Strafe wurde sie den Menschen eingebrannt. Mit jedem neuen Machthaber und jeder neuen Ideologie wurden neue Strafen erfunden. Die HĂ€rte der Strafgesetze zeigt, dass keine MĂŒhen und Grausamkeiten gescheut wurden, um aus dem plumpen Pöbel ein Volk von Denkern mit asketischen Idealen zu zĂŒchten. Die Wirkung blieb nicht aus: Die Bestraften begriffen ihre „Schuld“ und hatten ein schlechtes Gewissen.

„Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert (...)“ (S. 30)

Woher aber kommt der Begriff der Schuld? UrsprĂŒnglich hatte er eine rein materielle Bedeutung: Schuld lud auf sich, wer Schulden gegenĂŒber einem GlĂ€ubiger hatte, wer also ein VertragsverhĂ€ltnis gebrochen hatte, das auf einem Versprechen basierte. So kam es zu SchĂ€den fĂŒr den GlĂ€ubiger und in der Folge zur Bestrafung des Schuldners, bei der dem GlĂ€ubiger – statt eines adĂ€quaten Ausgleichs an Geld oder Land – zumindest das WohlgefĂŒhl zugestanden wurde, seine Macht auszukosten. Zu Zeiten dieses Herrenrechts schĂ€mte sich niemand seiner Grausamkeit, die – wie ĂŒberhaupt der Wille zur Macht – zu den ureigensten CharakterzĂŒgen der Menschen zĂ€hlt. In dieser Zeit entstanden die moralischen Begriffe „Schuld“, „Pflicht“, „Verpflichtung“ und „Gewissen“.

Die Zivilisation und das schlechte Gewissen

Erst mit zunehmendem Einfluss der Masse relativierte sich das Ausmaß von Strafe und Rache, hielten Milde und Gerechtigkeit Einzug. Ebenso gelangte man zu der Erkenntnis, dass Strafe bei allem körperlichen oder seelischen Schmerz auch klug macht, da aus ihr Lehren fĂŒr ein besseres, bewussteres Handeln zu ziehen sind. Das schlechte Gewissen, das GefĂŒhl fĂŒr Recht und Unrecht und das Wissen um PflichterfĂŒllung oder Wortbruch entwickelten sich unter dem Druck, in einer immer organisierteren Gesellschaft zu leben, sich nach ihren verĂ€nderten Regeln und MaßstĂ€ben richten zu mĂŒssen. Da war kein Platz mehr fĂŒr natĂŒrliche, ursprĂŒngliche Instinkte. Die Folge: Der Mensch bekam ein schlechtes Gewissen, kehrte seine Aggressionen nach innen und richtete sie gegen sich selbst.

Asketische Ideale der KĂŒnstler und Philosophen

Asketische Ideale wie etwa die Keuschheit speisen sich aus unterschiedlichen Ideologien, die den Menschen dazu anhalten, streng und enthaltsam nach nur einer einzigen Idee zu leben. Die Grundannahme: Jeder Mensch braucht ein Ziel. Solche Ideale waren jedoch nicht ausschließlich Sache der Politiker. Auch andere verherrlichten die Askese, etwa der Komponist Richard Wagner, der mit seiner Oper Parsifal die Keuschheit feierte, im Gegensatz zur von Martin Luther erkĂ€mpften Sinnlichkeit. Einflussreicher noch als die KĂŒnstler waren die Philosophen: Sie propagierten jene Ideale, die Voraussetzung fĂŒr ihre geistige TĂ€tigkeit waren, wobei sie vor allem eigene Interessen wie die Gedankenfreiheit verfolgten.

Die Rolle der Priester

Besonders viel Wert auf Entsagung und Geistigkeit haben immer schon die Priester gelegt; sie suchten ihre ErfĂŒllung im Glauben. Darin fanden sie nicht nur ihre asketischen Ideale, sondern auch all ihre Interessen, ihren Willen und ihre Macht. Sie leiteten ihr Daseinsrecht aus göttlichen Idealen ab, diese dienten ihnen als Mittel und Erlaubnis zur Macht.

„Ein Tier heranzĂŒchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat?“ (S. 48)

Askese bedeutet Verneinung des Lebens. Der Asket versucht auf diese Art – paradoxerweise –, seinem ansonsten unzureichenden Dasein einen Sinn abzugewinnen. Da dieser Sinn aber höchst zweifelhaft ist, hatten die Priester eine große Chance, zu Leitfiguren zu werden: Als Hirten vieler gescheiterter Existenzen vermittelten sie Zuversicht und verĂ€nderten die Sichtweise auf die Welt. Sie verkörperten die NĂ€chstenliebe, organisierten ihre Herde und weckten ein GemeinschaftsgefĂŒhl. Das war umso wichtiger, als es besonders die Gescheiterten und UnglĂŒcklichen waren, die das Vertrauen zum Leben und zu den Menschen verloren hatten und die das Vertrauen der anderen mit ihren ungezĂŒgelten Ressentiments vergifteten. Die Resultate der priesterlichen Arbeit lassen allerdings zu wĂŒnschen ĂŒbrig: Sie endete in Hysterien, Depressionen, Epidemien und Hexenverfolgungen, sie verdarb die seelische Gesundheit und den Geschmack der Menschen.

Kann die Wissenschaft die Askese ĂŒberwinden?

Wie steht es um die Wissenschaftler, die sich selbst als gottlos sehen und strikt auf ihre eigene Wirklichkeitsphilosophie bedacht sind? Vielleicht liegt in diesen UnglÀubigen, die als eine Art Gegenidealisten auftreten, die rettende Wahrheit?

„Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein GedĂ€chtnis zu machen (...)“ (S. 52)

Der Aufstieg der Wissenschaftler und Gelehrten geschieht in einer Zeit des Niedergangs, dessen sonstige Symptome Demokratie, Schiedsgerichte und Gleichberechtigung der Frauen sind. Das Misstrauen gegenĂŒber allen GlĂ€ubigen und ihren Idealen fĂŒhrt zwingend zu dem Schluss, dass der Glaube zwar selig macht, aber dennoch tĂ€uscht, weil er Beweisbarkeit ausschließt – und das gilt auch fĂŒr den Glauben und den Idealismus der Wissenschaftler. Diese geben sich als Herren ĂŒber die asketischen Ideale aus und sind doch nicht besser. Gerade sie mit ihrem intellektuellen Anspruch sind es heute, die ein Gewissen haben, weil sie als freie Geister nach Wahrheit streben. Sie sind die Einzigen, die derzeit wirklich ein eigenes Ziel vor Augen haben. Indem sie die bewĂ€hrten asketischen Ideale ablehnen, an ihnen rĂŒtteln und neue Ziele vorgeben, verkörpern sie wahrscheinlich sogar das bisher perfekteste Abbild eines asketischen Ideals. Auch das könnte man wissenschaftlich untersuchen, aber dazu mangelt es der Wissenschaft noch an Selbstbewusstsein und Erfahrung. Deshalb liefert auch diese Zunft noch keine befriedigende Lösung fĂŒr die Überwindung des asketischen Ideals.

Der Aufstieg des Nihilismus

Vor der Zeit der asketischen Ideale war die Frage nach dem Sinn des Daseins und dem des Leidens unbeantwortet. Das Leiden an sich war fĂŒr die Menschen nie ein Problem, die Frage danach, wofĂŒr man leidet, aber sehr wohl. Das asketische Ideal mit seiner Weltverneinung, seinem Abscheu vor der Sinnlichkeit und seinem Hass auf alles Menschliche gab schließlich eine Antwort und einen Sinn, es gab dem Willen des Menschen wieder eine Richtung. Darauf basierte die Macht des asketischen Ideals.

„Alle Instinkte, welche sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: Damit wĂ€chst erst das an den Menschen heran, was man spĂ€ter seine ‚Seele‘ nennt.“ (S. 76)

Letztlich war aber bisher kein Ideal wirklich geeignet, um den Menschen ausreichend Sinn zu geben. Wer sich heute fĂŒr „gut“ hĂ€lt, ist verblendet von zu viel Moral, die den Blick auf das Wesentliche verschließt. Dass dieser Tage der Nihilismus immer mehr Terrain erobert, ist aufgrund des Scheiterns des asketischen Ideals kein Wunder: Es fehlt schlechterdings an besseren Idealen. Der Mensch hat aber grundsĂ€tzlich einen Willen, den er in eine Richtung lenken muss: Eher will er das Nichts, als dass er gar nichts will.

Zum Text

Aufbau und Stil

Zur Genealogie der Moral besteht aus einer Vorrede und drei Abhandlungen: Die erste erlĂ€utert die Begriffspaare „Gut und Böse“ bzw. „Gut und Schlecht“, die zweite behandelt u. a. die Schuld und das schlechte Gewissen, die dritte geht der Frage nach, was asketische Ideale bedeuten. Im Gegensatz zu vielen seiner anderen Schriften bemĂŒht sich Nietzsche hier um einen systematischen, stringent argumentierenden Text und verzichtet grĂ¶ĂŸtenteils auf die fĂŒr ihn ĂŒblichen Aphorismen. Dass eine aggressive Streitschrift aber nicht objektiv sein kann, ist ihm durchaus bewusst. „Die drei Abhandlungen, aus denen diese Genealogie besteht, sind vielleicht in Hinsicht auf Ausdruck, Absicht und Kunst der Überraschung das Unheimlichste, was bisher geschrieben worden ist“, sagte er rĂŒckblickend in seiner Biografie Ecce homo. Mal nimmt sich Nietzsche stark zurĂŒck und zwingt sich zur ObjektivitĂ€t, mal verblĂŒfft er mit Vergleichen von lyrischer QualitĂ€t, dann wieder braust er regelrecht auf und rattert seine Argumente im Stakkato herunter.

InterpretationsansÀtze

  • Nietzsche liefert keine Moraltheorie, sondern eine Moralkritik: Er fragt nicht danach, wie die Menschen handeln sollen, sondern lediglich nach der Entwicklungsgeschichte der Moral. Untersucht werden die GrĂŒnde dafĂŒr, warum die Menschen glauben, so oder anders handeln zu mĂŒssen.
  • Nietzsches Methode besteht darin, gĂ€ngige Moralvorstellungen auf ihren wahren Kern hin zu untersuchen. Das Ziel dieser historisch-etymologischen Vorgehensweise: die hergebrachten Werte als zweifelhaft und verlogen zu entlarven und sie damit zu demontieren.
  • Nietzsche sieht die Moral als Herrschaftsinstrument. Die Unterscheidung von Gut und Böse, von Gut und Schlecht hat seiner Meinung nach keine ethische Grundlage, sondern beruht auf dem Willen, eine bestimmte Ideologie zu verankern. Hinter den moralischen Bestrebungen der Priesterkaste etwa sieht er deren „Wille zur Macht“.
  • Viele der in Jenseits von Gut und Böse bereits vorgebrachten Themen werden in der Genealogie vertieft. Nietzsches Angriffsziele bleiben dieselben: Er schießt vor allem gegen das Christentum, die Demokratie und das Mitleid.
  • Nietzsches Unterscheidung zwischen „Herren- und Sklavenmoral“ wurde als hochgradig reaktionĂ€res GesellschaftsverstĂ€ndnis interpretiert. TatsĂ€chlich prangert er in spĂ€teren Schriften so ziemlich jede Entwicklung der Moderne – Sozialismus und Anarchismus ebenso wie Nihilismus – als dekadente Entwicklungen an. Nur die „Umwertung aller Werte“ könne dagegen helfen. Wie er sich diese vorstellte, darĂŒber rĂ€tselt man allerdings heute noch.
  • Ein zentraler Begriff in der Genealogie ist das Ressentiment, also der versteckte Groll. Es ist fĂŒr Nietzsche die Keimzelle der „Sklavenmoral“: Weil die Sklaven gegen ihre Herren nicht aufbegehren könnten, lebten sie permanent mit heimlichen RachegefĂŒhlen – deren Einlösung sie z. B. im Christentum dem Jenseits oder der göttlichen Rache anvertrauen.
  • In der dritten Abhandlung ĂŒber das asketische Ideal zeigt sich Nietzsche auch als Wissenschaftsskeptiker. In ihrem positivistischen Eifer, der nichts als Tatsachen gelten lasse, sei die Wissenschaft nicht Überwinderin, sondern Vollenderin des asketischen Ideals.

Historischer Hintergrund

Die Moralphilosophie und ihre Werte

WĂ€hrend sich die Moraltheologie auf kirchliche GlaubenssĂ€tze stĂŒtzt, versucht die Moralphilosophie oder Ethik vernunftbasierte Gesetze aufzustellen, die ein „höchstes Gut“ bewahren sollen. Es lĂ€sst sich zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik unterscheiden. Erstere fragt nach dem Zweck einer Handlung: Ist der Zweck gut, dann heiligt er die Mittel. Letztere macht die Folgen einer Tat zum Maßstab moralischen Handelns. Die Geschichte der abendlĂ€ndischen Moralphilosophie beginnt bei Sokrates und seinem SchĂŒler Platon. Beide glaubten an ein moralisches Ideal, das der Mensch niemals erreichen könne, wohl aber anstreben solle. Diesem sittlichen Ideal entgegengesetzt war der Epikureismus (abgeleitet vom griechischen Philosophen Epikur), der den persönlichen Seelenfrieden und die Lust als erstrebenswerte Ideale ansah. In der Neuzeit verlagerte die Moralphilosophie ihren Fokus von einer individuellen Moral hin zu einer Sozialmoral; es galt, das Zusammenleben der Menschen zu stĂ€rken und den bĂŒrgerlichen Rechtsstaat zu sichern. Die Utilitaristen des 19. Jahrhunderts, unter ihnen David Hume, John Stuart Mill und Jeremy Bentham, stellten das „grĂ¶ĂŸtmögliche GlĂŒck“ (als Summe des GlĂŒcks aller Menschen) ins Zentrum. Einen Höhepunkt der modernen Sittenlehre bildete die Ethik des deutschen Philosophen Immanuel Kant. Seine Morallehre grĂŒndete auf der menschlichen Freiheit und dem kategorischen Imperativ: Richtige Handlungen folgen demnach einer Maxime, die universalisierbar ist.

Entstehung

Die Kritik an moralischen Lehren zieht sich durch das ganze Werk Nietzsches. Als er im Sommer 1887 daranging, die Genealogie zu verfassen, fĂŒhlte er sich – wie seine Briefe nahelegen – intellektuell und menschlich zunehmend isoliert. Auf seine bisherigen Schriften hatte er kaum Resonanz erhalten, die Zahl der Freunde schmolz dahin. Der plötzliche Tod des seelenverwandten UniversitĂ€tsrektors Heinrich von Stein im Juni 1887 traf Nietzsche besonders schwer. Seine zerrĂŒttete Gesundheit und der Druck, endlich ein zusammenhĂ€ngendes und bedeutendes Werk zu verfassen, trieben ihn zur Verzweiflung. Nietzsche las diverse Philosophen, beschĂ€ftigte sich mit der Geschichte der Zivilisation in England von Henry Thomas Buckle und mit Ernest Renans Das Leben Jesu. Eine besondere Bedeutung hatte das Buch Der Ursprung der moralischen Empfindungen seines ehemaligen Freundes und spĂ€teren Rivalen Paul RĂ©e: Nietzsche entwickelte die Kernideen der Genealogie in Opposition dazu.

Dem dĂ€nischen Philosophen Georg Brandes, der eine Vorlesung ĂŒber Nietzsche halten wollte, erklĂ€rte dieser, dass er das Werk am 30. Juli an seinen Verleger geschickt habe. In dieser Phase hatte sich seine Gesundheit vorĂŒbergehend stabilisiert; er konnte die gewonnene Zeit fĂŒrs Schreiben nutzen. Allerdings gab Nietzsche den Druckauftrag bereits, als er noch an ErgĂ€nzungen arbeitete. Er verwies darauf, dass er weitere Abhandlungen und eine Art Zusammenfassung seiner Moralkritik vorlegen wollte, diese wurden jedoch unter anderem Titel und erst im Kontext weiterer Werke realisiert. Am 12. November kĂŒndigte er die ersten, auf eigene Kosten gedruckten Exemplare der Genealogie an. Die Startauflag lag bei 600 StĂŒck.

Wirkungsgeschichte

Nietzsches Wirkung setzte auf breiter Ebene erst relativ spĂ€t ein. Er selbst bezeichnete sich in der Götzen-DĂ€mmerung als „posthumen Menschen“, der erst nach seinem Tod Bewunderung und Anerkennung ernten wĂŒrde. So war es auch: WĂ€hrend sein Werk zu Lebzeiten unter deutschsprachigen Intellektuellen kaum Beachtung fand, hatte es spĂ€ter großen Einfluss nicht nur auf die Philosophie, sondern auch auf Kunst, Psychologie und Literatur. Die Genealogie rief ein fragwĂŒrdiges Echo hervor. Vor allem die Begriffe „Herrenmoral“ und „Sklavenmoral“, getoppt mit der Beschreibung einer Herrenrasse „blonder Bestien“, fĂŒhrte zur ideologischen Vereinnahmung Nietzsches durch die Nationalsozialisten. Das war wohl kaum die Zielgruppe, die Nietzsche im Auge hatte, als er schrieb: „Dies Buch, mein PrĂŒfstein fĂŒr das, was zu mir gehört, hat das GlĂŒck, nur den höchstgesinnten und strengsten Geistern zugĂ€nglich zu sein: dem Reste fehlen die Ohren dafĂŒr.“ Abgesehen von der Instrumentalisierung seiner Antimoral durch den Faschismus waren viele Teile der Schrift auch im positiven Sinn eine Inspirationsquelle fĂŒr bedeutende Denker der Moderne. Sigmund Freud griff beispielsweise die Entstehung des Gewissens aus der UnterdrĂŒckung fundamentaler aggressiver Triebe auf und widmete dem Thema die Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930). Nietzsches Beschreibung des Ressentiments fĂŒhrte zu Max Schelers Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (1915). Die postmoderne französische Philosophie, insbesondere in den Personen Michel Foucault und Pierre Bourdieu, verdankt Nietzsches Genealogie ebenfalls wichtige Anregungen.

Über den Autor

Friedrich Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 im sĂ€chsischen Röcken geboren. Seine Kindheit ist vom strengen Protestantismus des Elternhauses sowie vom frĂŒhen Tod des Vaters geprĂ€gt. 1864 beginnt er in Bonn ein Studium der klassischen Philologie und wechselt spĂ€ter nach Leipzig. Mit 24 Jahren wird der begabte Student auf eine Professur in Basel berufen. Mit seinem unkonventionellen Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) brĂŒskiert er seine Fachkollegen und wendet sich der Philosophie zu. Seine UnzeitgemĂ€ĂŸen Betrachtungen (1873–1876) stehen unter dem Einfluss Arthur Schopenhauers. Mit dem Text Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzt Nietzsche seiner Freundschaft mit dem Komponisten ein Denkmal. Kurz darauf bricht er jedoch mit ihm, u. a. wegen Wagners Hinwendung zum Christentum. Mit Menschliches, Allzumenschliches (1878) wendet Nietzsche sich auch von Schopenhauer ab. 1879 gibt er wegen einer dramatischen Verschlechterung seines Gesundheitszustands das Lehramt in Basel auf. Er leidet unter schweren migrĂ€neartigen Kopf- und Augenschmerzen. Die folgenden zehn Jahre sind von gesundheitlichen Krisen geprĂ€gt, denen er mit Aufenthalten in der Schweiz, in Italien und in Frankreich zu entgehen versucht. In diesen Jahren erscheinen Nietzsches Hauptwerke: Morgenröte (1881), Die fröhliche Wissenschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883–1885), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Im Januar 1889 erleidet er in Turin einen geistigen Zusammenbruch: Aus Mitleid mit einem geschlagenen Droschkengaul umarmt er weinend das Tier und fĂ€llt spĂ€ter in eine vollstĂ€ndige geistige Umnachtung; möglicherweise ist Syphilis die Ursache. Er stirbt am 25. August 1900 in Weimar. Nach Nietzsches Tod erscheint auf Betreiben seiner Schwester das Buch Der Wille zur Macht, eine unabgeschlossene Sammlung von Aphorismen, die lange als Nietzsches Hauptwerk gelten. Heute stuft die Forschung diesen Text aufgrund vieler VerfĂ€lschungen durch die Schwester als sehr unzuverlĂ€ssig ein. Zeugnis der letzten Schaffensphase Nietzsches und des zunehmenden GrĂ¶ĂŸenwahns legt Ecce homo ab, Nietzsches eigenwillige Autobiografie, die 1908 erscheint.

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