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Juliette

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Juliette

oder die Vorteile des Lasters

Ullstein,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Nichts für verzagte Gemüter und auch kein erotischer Genuss: De Sade kombiniert Sex immer mit Gewalt.


Literatur­klassiker

  • Erotik
  • Aufklärung

Worum es geht

Umwertung aller Werte

Sicher, Sex ist in diesem Buch allgegenwärtig. Aber es als erotisches Werk zu verstehen, würde ihm nicht gerecht werden. Auch von einem Roman mit einer Entwicklung von Figuren in Konflikten kann man im eigentlichen Sinne nicht sprechen. Vielmehr ist es eine Aneinanderreihung immer monströser werdender Episoden. Angesichts der Monotonie, der ständigen Wiederholung und der Abscheulichkeit wird man der ebenso drastischen wie plastischen Beschreibungen von Geschlechtsverkehr schnell überdrüssig. So gesehen ist de Sades Werk Juliette kein literarisches Meisterwerk. Seine Bedeutung liegt allerdings in seiner sonst nicht mehr erreichten Radikalität. Es handelt sich um eine profunde Gesellschafts- und Herrschaftskritik: De Sade brandmarkt das Frankreich seiner Zeit als Gewaltherrschaft und skizziert geradezu prophetisch die inneren Mechanismen aller nachfolgenden totalitären Diktaturen bis in die Gegenwart. De Sade erreicht seine Radikalität, indem er den intimsten Bereich des Menschlichen total enttabuisiert und in Verbindung mit grausamen Verbrechen bringt. Der Pakt mit dem Bösen wird als die einzig vernünftige und dem Menschen „natürlichste“ Lebensweise vorgeführt.

Take-aways

  • Gemeinsam mit dem Parallelroman Justine gehört Juliette oder die Vorteile des Lasters zu den Hauptwerken der sogenannten erotischen Literatur.
  • Inhalt: Schon im jugendlichen Alter im Nonnenkloster verführt worden, entscheidet sich Juliette für den Weg des Lasters. Es gelingt ihr, sich durch Prostitution, sexuelle Ausschweifungen und abscheuliche Verbrechen die Vorteile zu verschaffen, die ihr eine selbstbestimmte und wohlhabende Existenz ermöglichen.
  • De Sade steigert die natürliche Wollust zu immer groteskeren Formen, von Gewalt bis hin zum Verbrechen.
  • Die Lasterhaftigkeit wird konsequent als materieller und moralischer Vorteil dargestellt – eine Umwertung aller traditionellen Werte.
  • Diese verkehrte Welt kann als Fundamentalkritik am Frankreich des 18. Jahrhunderts gesehen werden, aber auch als Analyse jeder Art von Gewaltherrschaft.
  • Psychologisch betrachtet zeigt sich bei de Sade, dass der Macht- und Gewaltrausch den Charakter einer Sucht hat, die ständig gesteigert werden muss.
  • In sprachlicher und erzählerischer Hinsicht wirkt das Buch eintönig; seine Bedeutung liegt in der Radikalität der Darstellung.
  • Das Werk muss vor dem Hintergrund der intellektuellen und sozialen Spannungen und der Dekadenz der Adelsklasse kurz vor der Französischen Revolution gesehen werden.
  • De Sade verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis und in der Irrenanstalt, wo er auch starb.
  • Zitat: „Das Laster macht viel mehr Glückliche als die Tugend, ich diene also viel mehr der allgemeinen Wohlfahrt, wenn ich das Laster schütze, als wenn ich die Tugend belohne.“

Zusammenfassung

Juliette wird entjungfert

Die 13-jährige Juliette kommt gemeinsam mit ihrer Schwester Justine zur Erziehung in das Frauenkloster Panthemont in Paris. Dessen Vorsteherin ist die 30-jährige Äbtissin Délben, eine reiche und in den Pariser Adelskreisen gut vernetzte Frau. Sie führt die hübsche Juliette in die Praktiken der lesbischen Liebeskunst ein. Délben geht es um das Erleben physischer Ekstasen der Wollust, auch unter Beteiligung mehrerer Personen, um das Abhalten ritueller Liebesmahle, um Entjungferungen mit künstlichen, umgeschnallten Gliedern und dergleichen mehr.

Die Hure und der Lebemann

Nach dem Tod von Juliettes Eltern verwehrt Délben Juliette die Rückkehr ins Kloster. Sie tritt darum in die Dienste der Edelkupplerin Duvergier und durch deren Vermittlung alsbald in den Haushalt des reichen Monsieur de Noirceuil ein. Er zwingt seine junge Gattin, Madame de Noirceuil, zum Zusehen und Mitmachen bei den Ausschweifungen mit Juliette, an denen noch zwei Lustknaben beteiligt sind. Zudem überträgt er Juliette sogar die häusliche Oberherrschaft und gönnt ihr allerlei Luxus bis zum Besitz eines eigenen Wagens. Wegen einer Verleumdung für anderthalb Tage ins Gefängnis geworfen, wird Juliette vom einflussreichen Noirceuil befreit, der sich seiner guten Beziehungen zu dem korrupten Minister Saint-Fond rühmt. Noirceuil erteilt Juliette nun eine Lektion in Dankbarkeit: Er entlarvt jede Wohltat als getarnten Egoismus. Da er also Juliette nur aus Eigennutz aus dem Gefängnis befreit habe, wolle er ihre Dankbarkeit nicht. Zugleich bringt er Juliette dazu, das ihr zur Last gelegte Verbrechen einer Unschuldigen in die Schuhe zu schieben, der dafür der Tod durch den Strang droht.

Der allmächtige Minister bringt den Prunk

Juliette diniert mit dem etwa 50-jährigen, enorm einflussreichen und wohlhabenden Justizminister Saint-Fond, der aus einem alten Adelsgeschlecht stammt. Aufgrund seiner Stellung kann Saint-Fond willkürlicher schalten und walten als selbst der König. So kann er verhaften lassen, wen er will. Zudem versteht er es vorzüglich, sich aus der Staatskasse zu bedienen. Während gemeinsamer Ausschweifungen zusammen mit Noirceuil, dessen Gattin und dem Pariser Gerichtspräsidenten nebst einer stattlichen Anzahl von männlichen und weiblichen Lustpersonen erteilt der geistreiche und hochmütige Saint-Fond Juliette eine Lektion über seine Auffassung von Wohlfahrt: Dieser sei am besten gedient, wenn mächtige Männer wie er wenigstens für sich selbst täten, was sie für nützlich hielten. Da es von vornherein unmöglich sei, die Allgemeinheit zu beglücken, sei es nur recht, wenn die Privilegierten sich selbst glücklich machten. Und da das Laster viel mehr Glück schenke als die Tugend, beschütze und belohne er lieber Ersteres.

„Die obersten Grundsätze meiner Philosophie (...) bestehen darin, der öffentlichen Meinung zu trotzen.“ (Madame Délben zu Juliette, S. 8)

Eines Tages verlangt Saint-Fond von Juliette, dass sie sich im Lauf der Orgie an der Tötung der „langweiligen Zierpuppe“ Madame de Noirceuil beteiligt. Nachdem Saint-Fond diese ausgiebig misshandelt hat, schüttet Juliette ihr ein Giftpulver in den Wein. Die Leiche wird anschließend im Garten vergraben. Saint-Fond schlägt dem mitbeteiligten Noirceuil eine Heirat mit einer seiner Töchter vor.

Sie gehen bis zum äußersten Exzess

Saint-Fond glaubt, in Juliette eine ebenbürtige Gleichgesinnte des Lasters vor sich zu haben. Zunächst macht er sie zu seiner Komplizin, indem er ihr gegen hohe Belohnung aufträgt, auf seine Anweisung politische oder persönliche Gegner mit Gift aus dem Weg zu räumen. Auch einen zweiten Pakt bietet er ihr an, wiederum gegen großzügige Entlohnung: In der palaisartigen Residenz, über die sie mittlerweile verfügt, soll sie für Saint-Fond und einen kleinen Kreis Vertrauter so erlesene wie auch abscheuliche Orgien veranstalten. Als Juliette angesichts dieses Ansinnens zu feilschen anfängt und den Preis in exorbitante Höhen treibt, ist Saint-Fond entzückt – über ihre Eigensucht und Habgier. Durch willkürliche Haftbefehle darf sie fortan ihre persönliche Rachsucht nach Belieben befriedigen. Für die Orgien bewilligt Saint-Fond ihr 10 Millionen Franc, wovon sie die Kosten decken muss. Organisieren muss sie neben einer Fülle der erlesensten Speisen, Weine und Lustpersonen auch raffinierte theatralische Effekte, mit denen die Gewaltfantasien der teilweise ziemlich lendenlahmen Lüstlinge aufs Äußerste angestachelt werden sollen.

Befriedigung durch ruchlose Verbrechen

Auf ihre Bitte nach einer ebenbürtigen, erfahrenen Mentorin macht Noirceuil Juliette mit Madame de Clairvil bekannt, einer reichen, umfassend gebildeten und attraktiven Witwe mit eiskaltem Herzen. Alsbald ergötzen sich beide Damen in raffiniertestem Liebesspiel. Clairvil gibt Juliette allerlei kluge Ratschläge. Wiederholt weist sie sie darauf hin, es sich nie mit ihrem Gönner Saint-Fond zu verderben. Allein von diesem Despoten würden ihre Stellung und ihr materielles Glück abhängen. Solchermaßen innerlich bestärkt, verkleidet sich Juliette anschließend als Mann und erschießt aus purer Mordlust eine ihr völlig unbekannte Frau. Sie lässt sich mit wonnigen Schauern verhaften und vor Saint-Fond bringen, der sie erwartungsgemäß umgehend befreit.

„Oh, Juliette, lebe so wie ich glücklich im Verbrechen, (...) und du wirst nicht mehr leben können, ohne welche zu begehen; dann werden alle menschlichen Gesetze und Übereinkünfte dir lächerlich erscheinen, du wirst aus allen menschlichen Tugenden Laster machen, und alle Laster werden dir zur Tugend werden (...)“ (Madame Délben, S. 9 f.)

Saint-Fond spannt Juliette nun bei einem Komplott ein, das er gerade plant. Er will Cloris, seinen ehemaligen Gönner bei Hofe, dem er überhaupt seine Stellung verdankt, aus dem Weg räumen – samt dessen Familie. Dazu hat Saint-Fond ihn bereits bei der Königin dermaßen verunglimpft, dass sie seine Enthauptung verlangt. Juliette lockt die arglose Familie in ihr Landhaus. Dort wird diese gefangen gesetzt und hingerichtet. Bevor der Henker, ausgestattet mit sehr großem Glied und früher auch ein Lustknabe Saint-Fonds, der unschuldigen Familie die Köpfe abschlägt, wird er von Juliette verführt.

Wenn die Grausamkeit maßlos wird

Juliette lebt nun in großem Luxus in ihren verschiedenen Besitzungen in Paris und Umgebung. Sie hat Heerscharen von Bediensteten, von denen die meisten ihr auch zur täglichen sexuellen Befriedigung dienen. Auf dem Land herrscht derweil große Hungersnot. Alle Bitten um Almosen lehnt Juliette mit dem Argument ab, die Anlage und der Unterhalt ihrer Gärten und Wäldchen käme sie schon teuer genug. Um ihre Wollust an dieser Art von Grausamkeit zu steigern, beschließt sie, nicht nur das Gute zu verweigern, sondern das Böse absichtlich herbeizuführen. Bei einem heuchlerischen Besuch in einem Häuschen einer armen, kinderreichen Familie legt sie heimlich Feuer. Nachdem sie sich entfernt hat, entzückt sie sich bis zum Exzess an den lodernden Flammen und der Vorstellung, dass darin Menschen umkommen. Zurück in ihrem Haus lässt sie sich sofort vom gesamten Gesinde wie eine dreckige Hure missbrauchen. Als sie die Episode Clairvil erzählt, wirft diese ihr Feigheit und Kleinmütigkeit vor: Sie hätte lieber gleich ein ganzes Dorf niederbrennen sollen.

Die „Gesellschaft der Verbrechensfreunde“

Am Stadtrand von Paris führt Clairvil Juliette nun als Novizin in einen Geheimklub von „Verbrechensfreunden“ ein. Hier verkehrt man nackt, hauptsächlich zur gegenseitigen Befriedigung der Wollust, die kein Mitglied dem anderen verweigern darf. Immer neue Lustknaben und -mädchen werden in speziellen Serails zusätzlich zur Verfügung gestellt, wo auch Folter und Lustmorde vollzogen werden. Die Mitglieder dieser Gesellschaft folgen ausführlichen Statuten, in denen genau das als verpflichtend festgelegt wird, was normalerweise verboten ist – also hemmungslose Sexualität, Verbrechen, das Verleugnen jeglicher Religion und Gotteslästerung. Standes- und Geschlechterunterschiede sind für die Aufnahme in den Klub irrelevant, aber die Mitglieder müssen jung und sehr wohlhabend sein.

„Die Wollust verträgt keine Fesseln und sie ist nie süßer, wie wenn sie alle zerrissen hat.“ (S. 15)

Bei einer späteren Zusammenkunft hält der Graf von Belmort als neuer Präsident der Gesellschaft einen langen Vortrag über den naturgegebenen Unwert der Frauen, die bei fast allen Völkern zu Recht unterdrückt und möglichst gering geschätzt würden. Die anders gearteten europäischen Kultursitten, die den Frauen Achtung zollen, seien widernatürlich und gegen dieses Naturgesetz. Ebenso sei das emotionale Liebesbegehren, das sich nur auf eine Person richte und nach der metaphysischen Vereinigung mit dieser strebe, strikt abzulehnen. Es führe lediglich zu Verlustängsten und damit in die Unfreiheit. Belmort wird neben Juliette, Clairvil, Noirceuil und Saint-Fond der fünfte im engeren Verbund der lasterhaftesten Sexverbrecher.

Der Griff nach dem Gift und die Flucht

Gemeinsam mit Clairvil besucht Juliette am Stadtrand eine Giftmischerin und Wahrsagerin namens Durand. Von der Meisterin ihres Fachs wollen sie sowohl Aphrodisiaka als auch Gifte erwerben. Die Wirkung der Gifte wird an hübschen, armen Kindern oder Jugendlichen erprobt und die Damen ergötzen sich daran, wie sie in Krämpfen sterben. Nach einer Auspeitschung der beiden Damen sagt Duran ihnen aus ihrem Blut die Zukunft voraus. Juliette wird prophezeit: „Wo das Laster endet, beginnt das Unglück.“

„Er war ein Verbrecher, folglich achtete ich ihn.“ (über Noirceuil, S. 28)

Ungefähr zwei Jahre später bewahrheitet sich die Prophezeiung. Juliette ist nun 22 Jahre alt und Saint-Fond schlägt ihr vor, sich an einem Entvölkerungsprojekt Frankreichs zu beteiligen. Er möchte die Menschen verhungern lassen, um so die Hungersnot zu bekämpfen. Davor schreckt Juliette zurück. Saint-Fond betrachtet sie damit schlagartig als Verräterin. Noirceuil gibt Juliette zu verstehen, dass sie nach dem Entzug von Saint-Fonds Gunst aus Frankreich fliehen muss. Da ihr ganzer ausschweifender Luxus und der größte Teil ihrer Einkünfte als Edelkupplerin von Saint-Fond abhängig waren, ist sie nun fast mittellos.

„Das Laster macht viel mehr Glückliche als die Tugend, ich diene also viel mehr der allgemeinen Wohlfahrt, wenn ich das Laster schütze, als wenn ich die Tugend belohne.“ (Saint-Fond, S. 39)

Sie reist mit der erstbesten Kutsche nach Angers, wo niemand sie kennt. Schnell findet sie in dem vermögenden Grafen von Lorsange einen neuen Gönner. Der will sie allerdings zur Tugend bekehren. Juliette fällt es nicht schwer, sich durch Heuchelei und Betrug ein neues Wohlleben zu sichern. Sie heiratet den Grafen sogar und bekommt eine Tochter. Da sie aber immer noch Saint-Fonds Rache fürchten muss, beschließt sie, nach Italien zu fliehen. Um sich Lorsanges Eigentum und seine Einkünfte zu sichern, bringt sie ihn mit einem Gift Durand um.

Lustreise durch Italien mit Papstbesuch

Die erste größere Station ist ein Aufenthalt am Hof Leopolds, des Herzogs der Toskana. Dort veranstaltet Juliette Orgien. Mit einem Empfehlungsschreiben Leopolds reist Juliette nach Rom. Hier kommt es zu Orgien mit den einflussreichsten Kardinälen und schließlich mit dem Papst, den Juliette mit „du alter Affe“ anredet.

„Das wäre doch ein recht närrischer Staatsmann, der sich seine Vergnügungen nicht vom Staat zahlen ließe; was kümmert uns das Elend des Volkes, wenn wir nur unsere Leidenschaften befriedigen können?“ (Saint-Fond, S. 51)

Auf der Weiterfahrt nach Neapel wird Juliettes Reisegruppe von dem schwerreichen Räuberhauptmann Brisa-Testa gefangen genommen und auf dessen Schloss in einen Kerker geworfen. Man befürchtet das Schlimmste, vor allem von der berüchtigten Gattin des Hauptmanns. Als die Gefangenen ihr vorgeführt werden, entpuppt sie sich als Juliettes Pariser Komplizin Clairvil, die Juliette einige Jahre lang nicht gesehen hat. Clairvil ist in Wahrheit die leibliche Schwester des Räubers Brisa-Testa, mit dem sie in inzestuöser Ehe lebt. Brisa-Testa erzählt ausführlich von seiner Jugend und von seinem unsteten Leben, das ihn nach Holland, England, Schweden und Russland führte, wobei er in Schweden in ein Königsmordkomplott verwickelt war.

Blut säumt den Weg zurück nach Paris

Juliette und Clairvil begehen weitere Schandtaten: Sie werfen Olympia Borghese, eine Herzogin, die in Juliette verliebt ist und ihr aus Rom nachgereist ist, in den Krater des Vesuv und bringen Charlotte von Habsburg, die Gattin des Königs von Neapel, dazu, für sie den halben Staatsschatz Neapels zu stehlen. Dann beschließen die beiden Freundinnen die Heimkehr nach Paris. Unterwegs treffen sie zufällig in Ancona auf die Giftmischerin Durand. Sie verrät Juliette, Clairvil wolle sie töten, um sich in den Besitz ihres Vermögens zu bringen. Um dem zuvorzukommen, vergiftet Juliette ihre Freundin und reist gemeinsam mit Durand über Venedig zurück nach Frankreich. Saint-Fond ist inzwischen gestorben, sodass sie nichts mehr zu befürchten hat. Juliette lässt sich in aller Ruhe und mit dem gewohnten Luxus in Paris nieder, nimmt Kontakt mit Noirceuil auf und heckt mit ihm zur reinen Lustbefriedigung weitere Verbrechen aus, darunter – als Epidemie getarnt – die Vergiftung ganzer Dörfer mit Hunderten von Toten.

Zum Text

Aufbau und Stil

Bei Juliette handelt es sich um ein vieltausendseitiges Werk; die vorliegende Textausgabe bietet nur einen Bruchteil davon. Das Buch besteht aus sechs mit römischen Ziffern gekennzeichneten Kapiteln, die aber durch das Zusammenkürzen sehr unterschiedliche Längen aufweisen. Das Buch ist rein episodenhaft aufgebaut, entlang der immer weiter um sich greifenden Ausschweifungen der Hauptfigur. Erzählt wird aus der Ichperspektive. Der Begriff „Roman“ ist bestenfalls im Sinne von „teilweise frei erfunden“ zu verstehen, nicht aber in dem einer Handlungsdramaturgie oder einer Charakterentwicklung. Das einzige Steigerungselement ist die zunehmende Gewalttätigkeit der sexuellen Handlungen. Alle wichtigeren Figuren sind Stereotype, die sich nicht verändern, alle Nebenfiguren sind ausschließlich zum sexuellen Gebrauch bestimmt. De Sades Stil zeichnet sich nicht durch besondere Sprachkunst aus, seine einfallslosen, mechanistischen Schilderungen sexueller Handlungen langweilen schnell. Die Bedeutung des Werks liegt allein in der Radikalität des Entwurfs einer Gewaltherrschaft.

Interpretationsansätze

  • Nach wenigen Seiten Lektüre von de Sades Juliette wird man feststellen, dass es kein erotischer Roman ist. Sexualität ist hier nie mit Emotionen verbunden, sondern wird nur zynisch behandelt, zur Befriedigung reiner Wollust und oft in bewusst perverser, tabubrechender Form. Sexualität ist bei de Sade eine Form von Gewalt, was sehr schnell Misshandlung, Folter und Verbrechen bis hin zum Mord einschließt.
  • Die Handlung ist in den obersten Machtzirkeln der Gesellschaft angesiedelt, deren moralische Verkommenheit und Willkürherrschaft im Buch gespiegelt werden. Die extrem ausschweifende Gewaltsexualität bei de Sade steht daher symbolisch für die entfesselte Staatsgewalt des Ancien Régime, also Frankreichs vor der Revolution. Insofern kann de Sades Buch als verstecktes staatspolitisches Traktat gelesen werden. Ein anderes Vorbild für de Sades Darstellung einer Dekadenzherrschaft war die sprichwörtlich verlotterte Kaiserherrschaft in Rom etwa zur Zeit Neros.
  • Die Komplizenschaft ist ein wesentliches Element der staats- und gesellschaftspolitischen Analyse de Sades: Durch materielle Belohnungen und Privilegien scharen Gewaltherrscher einen kleinen Kreis der Lasterhaften und Verbrecher um sich. Diese Art der Korruption, die Privilegierung und Bereicherung von eingeweihten Machtcliquen, gehört zur Grundstruktur jeder Gewaltherrschaft, nicht nur des Ancien Régime. De Sade weist hier geradezu prophetisch auf alle großen und kleinen Diktaturen des 19. und 20. Jahrhunderts voraus – inklusive des geplanten Völkermords.
  • Der psychologische Aspekt der Handlung ist darin zu sehen, dass die Beteiligten des Macht- und Gewaltrauschs sich in ihrem inneren Zirkel durchaus bewusst sind, dass es sich um Verbrechen handelt. Heimlichtuerei und Verschwiegenheit sind integrale Bestandteile solcher Systeme. Insofern bestätigen gerade diese schlimmsten Verbrecher die Gültigkeit der Moral- und Gesetzesordnung.
  • Die Formen tabuloser, ungezügelter Wollust haben bei de Sade die Struktur einer Sucht: Sobald eine gewisse Schwelle des Ausprobierens überschritten ist, wollen die Unzüchtigen immer mehr, sie wollen es immer härter, die Reize müssen ständig gesteigert werden. Schließlich werden Folter und Tötung der Sexualopfer zur Gewohnheit.

Historischer Hintergrund

Die zwei Gesichter der Spätaufklärung

Die Aufklärung war nicht nur eine geistige Bewegung – in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde auch auf naturwissenschaftlichem und technischem Gebiet der Anschub für die gewaltige Modernisierung Europas gegeben. James Cook und andere Seefahrer unternahmen Weltendeckungsreisen und wissenschaftliche Expeditionen, Carl von Linné läutete mit seinem Buch Systema Naturae die systematische biologische Naturforschung ein, Richard Arkwright gab mit der von Wasser- und später von Dampfkraft angetriebenen Spinnmaschine den Auslöser für die industrielle Revolution und Antoine Laurent de Lavoisier begründete mit der Entdeckung von Sauerstoff, Kohlenstoff und anderen Elementen die moderne Chemie.

Während all diese Neuerungen und gleichzeitig die Ideen der Aufklärung sich verbreiteten, wurden mit Ausnahme der Niederlande und der Schweiz alle Staaten Europas von monarchischen Dynastien beherrscht. Sie reagierten sehr unterschiedlich auf die Veränderungen der Zeit. Etliche europäische Fürsten versuchten, ihre Länder in vielerlei Hinsicht zu reformieren, etwa was Bildung, Agrarwirtschaft, Besteuerung, Justiz oder Toleranzpolitik betraf. Dazu zählten in gewissem Umfang Preußen unter Friedrich II. und Österreich unter Joseph II. Andere reagierten zunehmend reaktionär – unter ihnen an erster Stelle das einst vorbildliche, aber nunmehr dekadente, durch und durch korrupte, völlig überschuldete und reformunfähige Frankreich. Zu den klassischen politischen Instrumenten der Reaktion gehörten Polizeistaatlichkeit und Zensur. Beide wurden im Ancien Régime in großem Umfang eingesetzt, vor allem in Form der berüchtigten „lettres de cachet“, der willkürlichen Haftbefehle zur Beseitigung missliebiger Personen. Im Übrigen behauptete auch die Kirche bis zum Ende des Ancien Régime ihren bestimmenden Einfluss auf das offizielle geistige Leben, obwohl viele prominente Aufklärer teils aus philosophischen Gründen, teils aus einem neuen Naturverständnis heraus eine dezidiert atheistische Haltung einnahmen, darunter Voltaire und Paul Thiry d’Holbach.

Entstehung

Der Roman Juliette oder die Vorteile des Lasters steht in engem Zusammenhang mit de Sades Werk Die neue Justine oder das Unglück der Tugend: Justine und Juliette sind Schwestern, die eine tugendhaft, die andere verdorben. Sade widmete sich zunächst Justines Geschichte: Justine oder das Unglück der Tugend schrieb er während seiner Kerkerhaft in der Bastille, wenige Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution. Zunächst als „philosophische Erzählung“ bezeichnet, veröffentlichte Sade das Werk 1791, kurze Zeit, nachdem er im Zuge der Revolution auf freien Fuß gesetzt worden war. 1796 verfasste er mit Juliette oder die Vorteile des Lasters die Geschichte über Justines Schwester. 1797 folgte dann Die neue Justine oder das Unglück der Tugend, sowie die Geschichte der Juliette, ihrer Schwester als wesentlich erweiterte Ausgabe in zehn Bänden mit über 4000 Seiten und zahlreichen pornografischen Illustrationen.

De Sade war in seiner langjährigen Haftzeit ein eifriger Leser klassischer Literatur sowie philosophisch-staatspolitischer Schriften von Cicero über Machiavelli bis zu seinem Zeitgenossen Montesquieu. Intensiv verarbeitet hat er auch die Schriften des deutschstämmigen Aufklärers Thiry d’Holbach, eines entschiedenen Religionsgegners und Vertreters einer mechanistisch-materialistischen Welt- und Naturanschauung. Es liegt daher nahe, in de Sades Schilderungen von Sexualmissbrauch und Gewalt auch politische Implikationen zu sehen.

Wirkungsgeschichte

Abgesehen von der schockierenden Wirkung, die die Lektüre von de Sade zweifellos hat, war und ist die geistesgeschichtliche Wirkung vielfältig. Werke wie Juliette, kurz nach ihrem Erscheinen auch als Raubdrucke viel gelesen, kamen im 19. Jahrhundert unter Verschluss. Autoren und Denker von den Romantikern Edgar Alan Poe und Thomas De Quincey über Charles Baudelaire bis zu den Symbolisten setzten sich aber mit den Schriften und Gedanken de Sades auseinander, ebenso die Surrealisten im 20. Jahrhundert sowie zahlreiche philosophisch-literarische Denker bis in die Gegenwart. So widmeten etwa Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in Die Dialektik der Aufklärung ein Kapitel der Juliette. Da gerade in Juliette die wichtigsten Figuren Frauen sind und sich völlig unabhängig von traditionellen weiblichen Rollenklischees verhalten, verwundert es nicht, dass auch führende geistige Vertreterinnen der Frauenbewegung wie Angela Carter, Simone de Beauvoir, Susan Sontag oder Andrea Dworkin sich mit de Sade und dessen Werken auseinandergesetzt haben. Im deutschsprachigen Theater ist das Stück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspieltruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (1964) von Peter Weiss die bekannteste Auseinandersetzung mit de Sade.

Über den Autor

Donatien Alphonse François Marquis de Sade wird am 2. Juni 1740 in Paris geboren. Seine Eltern gehören einem alten, aber verarmten Adelshaus an. Nach der Kindheit in Paris und bei Verwandten in der Provence besucht er ab seinem zehnten Lebensjahr ein Jesuitenkolleg in Paris und anschließend die Militärakademie. Nach der Teilnahme am Siebenjährigen Krieg heiratet er 1763 Renée-Pélagie de Montreuil – vor allem aus finanziellen Gründen. In den folgenden Jahren führt de Sade ein ausschweifendes Leben, verkehrt mit Prostituierten und verführt zusammen mit seiner Frau sogar Hausmädchen und Diener. 1768 beschuldigt ihn eine junge Frau, er habe sie zur Sodomie gezwungen und dazu, sich auspeitschen zu lassen. Auch wenn es nicht zu einer Gerichtsverhandlung kommt, häufen sich die Berichte von den Orgien des Marquis. Er flieht zunächst auf sein Schloss in der Provence und 1772 nach Italien, um einem Todesurteil zu entgehen: Er ist angeklagt worden, mehrere Prostituierte mit vergifteten Bonbons zu einer Lustorgie verführt und dadurch den Tod einer der Damen verschuldet zu haben. 1777 kehrt er nach Paris zurück, wird inhaftiert und in die Festung Vincennes gesperrt. Das Todesurteil wird zwar aufgehoben, aber nach einem Fluchtversuch 1784 landet de Sade im feudalen Kerker der Bastille. Hier lebt er keineswegs bescheiden, lässt sich vom Leibkoch Essen ins Gefängnis bringen und widmet sich einem ausgedehnten Literaturstudium. Im Gefängnis beginnt er, sich ausgefallene Sexualpraktiken auszumalen, und verfasst Les 120 Journées de Sodome (Die 120 Tage von Sodom, veröffentlicht erst 1909). Später folgen unter anderem Justine (1791) sowie La Philosophie dans le boudoir (Die Philosophie im Boudoir, 1795). Kurz vor dem Sturm auf die Bastille wird de Sade in die Irrenanstalt von Charenton verlegt, allerdings im Verlauf der Französischen Revolution entlassen. Unter den Jakobinern und später unter Napoleon landet er immer wieder im Gefängnis. 1803 kommt de Sade erneut nach Charenton, wo er am 2. Dezember 1814 im Alter von 74 Jahren stirbt.

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