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Über die Religion

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Über die Religion

Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. In: Über die Religion. Schriften. Predigten. Briefe.

Verlag der Weltreligionen,

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10 take-aways
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What's inside?

Religion ist vor allem eine Herzensangelegenheit. So sah es der einflussreiche evangelische Theologe Schleiermacher.


Literatur­klassiker

  • Religion
  • Aufklärung

Worum es geht

Anschauung und Gefühl

„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“, lautet die berühmte Gretchenfrage aus Goethes Faust. Dass man diese Frage nicht eindeutig beantworten kann, zeigen Schleiermachers Reden in Über die Religion. Die erste größere Schrift des Frühromantikers richtet sich mit geschliffener Rhetorik und profundem Wissen gegen ein eindimensionales Religionsverständnis. „Die Kirchen waren leer und verdienten es zu sein; die Theater waren gedrängt voll, und mit Recht“, berichtete 1799 ein norwegischer Dichter über seine Reise nach Berlin. Solche Urteile konnten den Pfarrerssohn Schleiermacher natürlich nicht kaltlassen. Er unterstellte seinen Zeitgenossen, sie hätten es sich in ihrer selbst geschaffenen Welt – zu der neben Kultur und Theater auch die Wissenschaften gehörten – allzu gemütlich gemacht. Das Universum und der Schöpfer, der dieses hervorgebracht hätte, interessiere sie nicht mehr. Die Wissenschaft war für Schleiermacher zu kleinkariert und zu sehr auf die endlichen Phänomene der Welt ausgerichtet, anstatt sich dem Unendlichen, der Religion, zu widmen. Der wohl berühmteste Satz der Reden ist der von der Religion als Anschauung und Gefühl. Das Werk begeisterte seinerzeit viele Leser. Andere kritisierten den Ansatz als gefühlsduselig. Trotzdem: ein großer Wurf für die Religionsphilosophie.

Take-aways

  • Über die Religion legte den Grundstein für Schleiermachers weitreichende Wirkung als Theologe und Religionsphilosoph.
  • Das Werk besteht aus fünf Reden, die gleichzeitig Kampfschrift und Verteidigung der Religion sind.
  • Inhalt: Die Menschen haben den Bezug zum Unendlichen und deshalb auch zur Religion verloren. Diese ist aber ein menschliches Grundbedürfnis. Sie ist weder Morallehre oder Metaphysik noch eine Ansammlung starrer Formen, sondern die Öffnung des Menschen zum Universum. Wahre Religion ist tolerant und ohne Dogmen, sie liebt die Freiheit und hilft dem Menschen in seiner Entwicklung.
  • Die Religion war eines der zentralen und umstrittensten Themen der Aufklärung.
  • Schleiermachers Schrift ist eine Auseinandersetzung mit der vernunftzentrierten Religionskritik.
  • Der Autor setzt auf Gefühl und Anschauung, was seiner Meinung nach dem Wesen der Religion eher gerecht wird als die schiere Vernunft.
  • Die Theologie Schleiermachers in Über die Religion ist keine Lehre von Gott, sondern vom menschlichen Glauben an ihn.
  • Die Reden erregten viel Aufsehen und wurden speziell von den Romantikern in den höchsten Tönen gelobt.
  • Schleiermacher verteidigt die Religion und greift deren „gebildete Verächter“ an, teilt aber die Kritik am kirchlichen Dogmatismus.
  • Zitat: „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“ (über die Religion)

Zusammenfassung

Welt und Menschheit sind nur durch Religion zu begreifen

Seit Langem schon erscheint Wissenschaftlern, Philosophen und Dichtern die Beschäftigung mit der Religion als unnötig: Diese weisen Menschen sind vollkommen mit ihren eigenen Themen beschäftigt und haben sich mit ihnen eine ausgefüllte Welt geschaffen, sodass sie darüber ihre Herkunft vergessen und für das Göttliche kein Raum bleibt. Es wird Zeit, wieder für die Religion zu streiten und sie zu verteidigen. Nicht, um ihren Untergang zu beklagen. Sondern um erneut zu erkennen, dass die Schöpfung der Ursprung des Lebens ist, aus dem heraus jedes Wesen überhaupt erst wirken kann.

„Es ist euch gelungen, das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, dass ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem ihr euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben, an dasjenige zu denken, welches euch schuf.“ (S. 15)

Viele Wissenschaftler konzentrieren sich lediglich auf die Analyse einzelner Details, nicht auf die Betrachtung der Phänomene als Gesamtheit. Eine echte, tiefer gehende Erkenntnis ist so nicht möglich. Vielmehr drehen sich die Intellektuellen um sich selbst, lediglich darauf bedacht, sich anhand ihrer Tätigkeiten Genuss und Befriedigung zu schaffen, um immer wieder zu neuen Fragen überzugehen. Im Gegensatz zu ihnen verkörpern die von Gott Beseelten alle Aspekte des Daseins und können deshalb umfangreicher und langfristiger wirken. Das Streben nach dem Ewigen und Unendlichen ist auch für Forscher und Denker möglich. Sie haben sogar die Aufgabe, ihrem jeweiligen Publikum die Religion als greifbares Phänomen darzustellen.

Religion ist der Maßstab aller Dinge

Die Religion soll nicht über Wissenschaft, Philosophie und Literatur triumphieren, aber sie soll wesentliche Inhalte in diese einbringen. Beispielsweise sind Metaphysik und Moral schon durch ihren Gegenstand mit der Religion verbunden: das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm. Doch Metaphysik und Moral werden über eigene Gesetzmäßigkeiten und Regeln definiert, die als absolut und verbindlich gelten. Gleichzeitig werden religiöse Einflüsse und Gegebenheiten bewusst ausgeklammert, obwohl Metaphysik und Moral im Grunde zwei Teilbereiche der Religion sind. Es ist daher kein Wunder, dass die Verfechter des irdischen Flickwerks nicht zu einer höheren Philosophie finden, denn das längst vorhandene Ziel vor ihren Füßen lehnen sie ab.

„Stellet euch auf den höchsten Standpunkt der Metaphysik und der Moral, so werdet ihr finden, dass beide mit der Religion denselben Gegenstand haben, nämlich das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm.“ (S. 38)

Die Religion ist in ihrer Haltung weiter und edler als die Wissenschaft: Sie will nicht besitzen, bestimmen oder willkürlich Ansprüche stellen, sondern anschauen, wirken und fühlen lassen. Sie sieht nicht den Menschen, sondern das Universum als Mittelpunkt und Ursache aller Entwicklungen und Zusammenhänge. Sie will nichts der angestrebten Idee der Freiheit unterwerfen, wie es die Moral tut, sondern lässt jedes Individuum als Teil der Natur mit ihren Kräften gelten. Nur so können Mensch und Welt als Ganzes gefasst, verstanden und beurteilt werden.

Die Freiheit der Religion

Der Status quo der Wissenschaft darf stets bezweifelt werden: Die Forschung ist im Fluss, immer wieder werden neue Phänomene aufgedeckt – etwa im Weltall. Die Religion hingegen will nicht anhand einzelner Ergebnisse überzeugen, sondern fördert allgemeine Werte und Fixpunkte, um zu gewährleisten, dass Neues neben Altem bestehen kann, dass keine falschen Begehrlichkeiten aufkommen und dass sich niemand von vorübergehenden Erscheinungen blenden lässt. Sie ist somit der einzige Maßstab, der über Aktualitäten steht, jedem Individuum tatsächlich persönliche Meinungs- und Gefühlsfreiheit gestattet und die Menschen emotional adäquat begleitet. Diejenigen, die bestrebt sind, die Gesellschaft voranzubringen, sollten nicht verleugnen, dass sie in ihrem neugierigen Streben auch von dieser Großzügigkeit geprägt sind. Nicht zuletzt die von ihnen verfolgten Begriffe wie Individualität, Einheit und Freiheit entspringen eben gerade nicht der Wissenschaft.

„Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“ (über die Religion, S. 43)

Die Religion nährt zudem den Kern und Motor des menschlichen Handelns: den Drang, weiterzukommen. Es ist unnütz, sich immer wieder mit der Kritik an einzelnen Menschen zu verzetteln, deren Meinung zu negieren oder sie für dumm zu erklären. Was das Universum insgesamt an Vorhandenem und an Einsichten bietet, sollte man annehmen und tolerieren. Der Mensch für sich kann gar nicht all den Möglichkeiten entsprechen, die über ihn hinaus vorhanden sind – weshalb er als niedriger als das Universum betrachtet werden muss und weshalb die Religion über den Dingen steht. Unsterblichkeit kann erst erreicht werden, wenn man sich zuvor mit all diesen Aspekten befasst hat, wenn man sie erkannt hat und wenn man versucht hat, mitten im irdischen Leben mit der Unendlichkeit eins zu werden – durch Religion.

Religion wächst aus echter Überzeugung

Wie kann sich die Religion voll entfalten? Ihr Ziel ist es, jedes Individuum im Herzen zu berühren. Gelingt ihr das nicht, zieht sie sich zurück und drängt sich nicht auf, denn sie will nur aus sich selbst heraus überzeugen. Ein Anliegen, das angesichts der aktuellen Orientierungslosigkeit nur schwer zum Zug kommt, ja das aufgrund der vorherrschenden Rationalität sogar noch behindert wird. Jedoch zeichnet die Religion aus, dass sie keinen Bedingungen unterliegt, alle Gedanken uneingeschränkt zulässt und jeden Diskussionsgegenstand akzeptiert. Nur in dieser Gesamtheit kann der Mensch zu einer Ordnung und Organisation finden, um sich aus sich selbst heraus zu entwickeln. Religion kann denn auch nicht im klassischen Sinne gelehrt werden: Man darf sie niemandem aufzwingen, sondern sie lebt allein durch freie, innere Überzeugung.

„Anschauen des Universums, ich bitte, befreundet euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Grenzen aufs Genaueste bestimmen lassen.“ (S. 46)

In der Kindheit ist die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Wunderbaren und Übernatürlichen noch vorhanden, später jedoch wird diese Veranlagung von falschen irdischen Regeln unterdrückt. Das führt dazu, dass die Suche der Menschen nach etwas Höherem vergeblich ist, da sie gezwungen werden, alles erst einmal durchschauen und verstehen zu müssen. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem Sinn des Lebens und der Dinge: Liegt er tatsächlich im Äußeren, dem Erkennen einzelner Details, oder doch eher im Inneren des Menschen, der sich als Teil des Ganzen begreift?

„Zur äußeren Natur, welche von so vielen für den ersten und vornehmsten Tempel der Gottheit (...) gehalten wird, führe ich euch nur als zum äußersten Vorhof derselben.“ (S. 59)

Es ist ein Irrweg, im Universum nach Dingen zu suchen, die es dort nie gab, statt einfach anzunehmen, was dort vorhanden ist. Schon Völker wie die alten Ägypter und Griechen haben gezeigt, zu welch großartigen Leistungen und Ideen sie kamen, indem sie das Unendliche als gegeben nahmen, um daraus eine vielschichtige, tolerante Kultur aufzubauen und ihre Künste daran auszurichten. Umgekehrt fand noch keine Kultur, die sich nur an ihren irdischen, beschränkten Methoden orientierte, zu solch geistigen Höhenflügen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft müssen deshalb wieder vereint, nicht getrennt betrachtet werden.

Religion lebt vom lebendigen Austausch

Heute hasst man nicht nur die Religion. Noch mehr hasst man diejenigen, die sie verbreiten. Religion wird wie eine Krankheit betrachtet, die die ganze Welt anstecken könnte. Priester werden verachtet, doch es ist nur natürlich, dass sie die Gedanken, die sie in sich tragen, teilen wollen. Es liegt zudem im Wesen der Religion, dass sie sich spiegelt: Wer an sie glaubt, will sich hinterfragen und sich in anderen erkennen, will gemeinsam auf die Dinge schauen und sie empfinden, will den weiteren Weg zusammen gehen.

„Wenn die Menschheit selbst etwas Bewegliches und Bildsames ist, wenn sie nicht nur im Einzelnen anders darstellt, sondern auch hie und da anders wird, fühlt ihr nicht, dass sie dann unmöglich selbst das Universum sein kann?“ (S. 74)

Deshalb kann sich Religion nicht einfach in Schriften auf totem Papier darstellen; sie entfaltet sich nur im persönlichen Austausch. Sie hat nicht auf alles sofort eine kurze, eindeutige Antwort, sondern lebt und profitiert von gegenseitiger Befruchtung. Kurz: Sie ist überaus lebendig. Sie transportiert sich am besten in Gesellschaft, durch direkte Ansprache, und nimmt aus Diskussionen neue Anregungen mit. Wie bereits ausgeführt, setzt sie dabei nicht auf klassische Lehrmethoden, da ihr Hauptgegenstand – das Universum, das Unendliche – nicht fassbar ist. Nicht einmal Wissenschaftler oder Philosophen können auf diese Art agieren, weil ihre Erkenntnisse sich nur auf irdische Bruchstücke des Ganzen beziehen und daher das Wesen der Religion verfehlen.

Das Unbehagen in der Wissenschaft

Ein Vorteil des religiösen Menschen ist, dass er in sich gehen, zu seinen Gedanken stehen und sein Empfinden anderen ehrlich mitteilen darf, ohne gleich durch Vorgaben gemaßregelt zu werden. Leider ist dieser offene Umgang bisher nur jenen möglich, die so ein Verhalten bereits verinnerlicht haben und entsprechend gefestigt sind. Jedoch sollte es möglich sein, die Kirche – die Institution und Stätte der religiösen Verbundenheit – auch den Menschen zu öffnen, die noch suchen.

„Die Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewesen ist, die ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“ (S. 90)

Denn es steht fest, dass derzeit viele Menschen dem bloßen Schein vordergründiger Wissenschaft misstrauen. Sie wollen sich die wissenschaftliche Erkenntnis nicht als Form einer künstlichen, unzureichenden Religion verkaufen lassen. Das ist ein Missstand, zu dem es nicht gekommen wäre, hätte man die Religion in der Vergangenheit einfach nur wirken lassen – damit sich harmonisch fügen kann, was zusammengehört und zueinanderpasst. Jeder Gebildete sollte verstehen, dass das höhere Streben der Religion letztlich auch der Bildung dienlich ist, weil es die einzelnen Menschen zur Menschheit und fragmentarische Wissenschaftsaspekte zu einem Ganzen vereint.

Zentrale Ideen der Religionen

Wie kann die Vielzahl der Religionen mit dem menschlichen Alltag in Einklang gebracht werden? Der Mensch ist endlich, die Religion dagegen unendlich. Deshalb kann der Mensch nicht ausleben, was die Religion hergibt. Diese muss sich also individualisieren und ihre unermessliche Bedeutung reduzieren. Jede Religion besitzt eine zentrale Anschauung, auf die sie sich konzentriert. Im Judentum ist es die Idee der Vergeltung: Gottes Umgang mit den Juden und die ganze Ahnengeschichte des Judentums beruhen auf Belohnung, Strafe und Züchtigung. Das Judentum ist deshalb eine Religion der Vergeltung für gute oder böse Taten. Beim Christentum steht das Streben alles Endlichen nach Einheit und nach dem Vollendeten im Mittelpunkt. Verderben und Erlösung, Sünde und Vergebung sind die Pole, zwischen denen sich das Christentum entwickelt hat.

„Ist die Religion einmal, so muss sie notwendig auch gesellig sein.“ (S. 115)

Es geht hier nicht darum, die richtige unter den unzähligen Religionen hervorzuheben. Die Religionskritiker sollen lediglich die grundsätzliche Tatsache anerkennen, dass jede einzelne Religion mit allen anderen verbunden ist, indem jede das Göttliche, Wahre und Ewige sucht. Nun sagen die modernen Kritiker, dass diese universalen Inhalte in letzter Zeit verloren gegangen seien. Richtig ist, dass Religion stets im Wandel begriffen ist, da jede Anschauung diverse Ausprägungen hat, die ausgetauscht und debattiert werden. Daraus resultiert mal mehr, mal weniger Klarheit. Solange eine Religion im Kern eine große Idee hat, sich weiterentwickelt und eine vereinende Kraft besitzt, statt auszugrenzen, ist sie gut. Erst wenn sie sich selbst einengt oder sich beschränken und beschneiden lässt, ist sie in der Tat wenig wert. Genau dieses Merkmal zeichnet jedoch den modernen Glauben an die Wissenschaft aus: Er ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, unvollständig, ohne System und schwankend in seinen Werten.

Religion und Freiheit

Es lohnt sich, nach dem Himmlischen und dessen Ordnung zu suchen, sich dabei nicht vom Unbekannten schrecken zu lassen oder das Fantastische als pure Fantasie abzutun. Auch darf man nicht den Fehler machen, der Religion aktuelle „Heiligtümer“ wie Metaphysik oder Moral unterzujubeln. Ebenfalls sollte sich niemand von den Irrwegen blenden lassen, die über die Jahrhunderte als Religion interpretiert wurden und ihre derzeitige Verteufelung angeblich rechtfertigen: Nicht alles, was sich bisher als unendlich darstellte und als solches verkündet wurde, entspricht tatsächlich dem unerschöpflichen Potenzial des Unendlichen.

„Alles Menschliche ist heilig, denn alles ist göttlich.“ (S. 148)

Ob diese Vorschläge beim Leser auf fruchtbaren Boden fallen, ist ungewiss. Sie verlangen die Bereitschaft, sich voll und ganz dem komplexen religiösen Spektrum zu öffnen. Und sie verlangen, dass der Mensch auf sein Herz, nicht nur auf den Verstand hört. Die große Chance für das Christentum, die Wissenschaft und die ganze Menschheit besteht darin, dass viele Themen in der Religion noch gar nicht bearbeitet wurden. Jedes Individuum kann mitwirken und sich bei der Beantwortung der großen Fragen entfalten. Diese Freiheit ist nicht nur größer als die von den Gebildeten definierte, sie ermöglicht uns auch, Gott durch uns selbst zu erfahren und so die Welt zu umfassen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Über die Religion besteht aus fünf Reden oder Kapiteln. Das gesamte Buch ist sowohl eine Kampfschrift als auch eine pathetisch-poetische Beweisführung für die Religion. Schleiermacher bezieht seine Zuhörer bzw. Leser aktiv ein, spricht sie direkt (im Plural) an, fordert sie zu Reaktionen auf und entspinnt durch diese stilistischen Kniffe eine Art Gespräch. Das Buch steht demnach gleichermaßen in der Tradition der antiken Rhetorik, der protestantischen Predigt und des gemeinschaftlichen Philosophierens, wie es in der deutschen Romantik beliebt war. Die fünf Reden bauen aufeinander auf: Zunächst werden verbreitete Irrtümer beim Namen genannt, dann der eigentliche Charakter der Religion enthüllt, hieraus wird zuerst eine Bildungstheorie, dann eine Kirchentheorie abgeleitet, um schließlich die Bedeutung individueller Religionen vom Wesen der Religion im Allgemeinen zu unterscheiden.

Interpretationsansätze

  • Über die Religion ist in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der Aufklärung. Schleiermacher betont die Unerklärlichkeit der Religion. In Duktus und Methode spricht das Werk eher rationalistisch orientierte Leser an, als dass es ein Erbauungsbuch für Gläubige wäre.
  • Die Reden richten sich aber nicht nur an Vertreter der Aufklärung, sondern auch an die Verteidiger der protestantischen Orthodoxie. Ihnen hält Schleiermacher vor, dass Religion weder bloße moralische Handlungsanweisung noch äußerlich erstarrte Form sei, sondern lebendiger Ausdruck und „heiliger Instinkt“ des Menschen.
  • Schleiermacher bestreitet, dass der Glaube an Gott von der Theologie verordnet werden kann. Er plädiert für eine neue Funktion der Theologie: Sie schreibt keine Normen vor, sondern beobachtet und setzt bereits ein intaktes Verhältnis zwischen Mensch und Gott voraus, statt es zu begründen. Theologie ist in Schleiermachers Auslegung weniger die Lehre von Gott, als vielmehr jene vom menschlichen Glauben an Gott.
  • Für Schleiermacher gilt: Glaube ist Privatangelegenheit – ein individuelles, subjektives Erlebnis, „Anschauung und Gefühl“.
  • Schleiermacher übt Kritik an den exakten Wissenschaften, indem er betont, dass das menschliche Streben auf das Unendliche ausgerichtet sei und dieses Bedürfnis eben nicht von den Wissenschaften, sondern nur von der Religion erfüllt werden könne.
  • Religion ist für Schleiermacher probates Mittel gegen den Anthropozentrismus, also die Sichtweise, der Mensch sei das Maß aller Dinge und stehe im Zentrum der Schöpfung. Religion macht den Menschen klein und rückt seinen Blick von irdischen Dingen fort ins Unendliche des Universums. Ergo: Religion stiftet Sinn.
  • Aufschlussreich ist der Untertitel des Buches: Indem der Autor sich an die „gebildeten Verächter“ der Religion richtet, bringt er zwei wichtige Aspekte seiner Schreibstrategie zum Ausdruck: Er wendet sich an Intellektuelle, an Gebildete im umfassenden, romantischen Sinn, die Leben, Philosophie, Kunst und auch Religion miteinander harmonisieren wollen. Die Verächter spricht er u. a. an, weil er ihre Sichtweise teilt, sofern sie sich gegen den kirchlichen Dogmatismus richtet: Es geht ihm nicht um eine Verteidigung der Kirche, sondern um das Wesen der Religion.

Historischer Hintergrund

Religionsphilosophie im Zeitalter der Aufklärung

Die Aufklärung verlangte eine neue Sicht auf die Religion. Während die Vernunft in den Mittelpunkt aller Wissenschaften und der Philosophie gerückt wurde, fragten sich viele Philosophen, welche Rolle die Religion im Leben des Menschen nun spielen und welche Bedeutung Gott für die menschliche Existenz haben sollte.

Hieraus entwickelte sich ein neuer philosophischer Zweig: die Religionsphilosophie. Sie fragt nicht nach der Existenz Gottes oder nach der Schöpfung der Welt und interessiert sich auch nur am Rande für die Themen der klassischen Theologie oder Metaphysik. Religionsphilosophie ist keine Religionswissenschaft im empirischen Sinn. Sie ist auch keine Theologie, weil sie völlig unabhängig vom konkreten Glaubensbekenntnis die Beziehungen von Mensch und Religion untersucht. Ihre politische Relevanz beruhte von Anfang an darauf, dass ihre Erkenntnisse zur Aussöhnung der Konfessionen beitragen sollten, deren Streit seit der Reformation immer wieder in Scharmützel und sogar Kriege mündete. Die Religionsphilosophie widmete sich der Überprüfung der geschichtlich überlieferten Religionen mit den Mitteln der Vernunft.

Erste Schritte auf diesem Weg ging Baruch de Spinoza mit seinen Untersuchungen des Alten Testaments im Theologisch-politischen Traktat (1670). Über 100 Jahre später unterzog Immanuel Kant die Religion einer kritischen Untersuchung. In der Vorrede der Kritik der reinen Vernunft (1781) sprach er sich bereits dafür aus, den „Gerichtshof der Vernunft“ einzusetzen, um Philosophie und Religion kritisch zu hinterfragen. Rund zehn Jahre später widmete sich Kant explizit der christlichen Religion: In Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/94) kam er zu dem Ergebnis, dass das Christentum eine moralische Religion sei, von Bedeutung vor allem für das sittliche Handeln des Menschen. Dieser verstandesgemäßen Einschätzung widersprach Schleiermacher, indem er Religion als natürliches Bedürfnis des Menschen beschrieb.

Entstehung

Im 18. Jahrhundert wurde Europa mit Schriften zu religiösen Themen geradezu überschüttet. „Religion“ und „Aufklärung“ waren die beiden wichtigsten Stichworte und füllten Bücherregale und Zeitungsseiten. Der konkrete Anlass zu seinem ersten Buch wurde Friedrich Schleiermacher von seinem Freund Friedrich Schlegel gegeben, der ihm zu seinem 29. Geburtstag das Versprechen abnahm, endlich ein Buch zu schreiben; denn mit fast 30 Jahren „noch nichts gemacht“ zu haben, das gehe nun wirklich nicht. Schleiermacher hatte zu dieser Zeit seiner Heimat Breslau den Rücken gekehrt und vertretungsweise die Stelle des Hofpredigers in Potsdam angenommen.

Am 15. April 1799 vollendete er das Werk, das mehrere Male ins Stocken geraten war, weil dem Autor nach einem flotten Einstieg das Thema unter den Händen zu zäh wurde. Sein Berliner Verleger begann schon mit der Druckfahnenerstellung, als das Buch noch gar nicht fertig war. So wurde der ursprüngliche Veröffentlichungstermin von Ostern 1799 auf den Herbst verschoben. Schleiermacher zeichnete weder mit Namen noch mit Pseudonym, sondern legte das Werk anonym der Öffentlichkeit vor. Ihm ging es darum, das Thema in den Mittelpunkt zu stellen und als Gebildeter – nicht als offizieller Prediger – zu Gebildeten sprechen.

Wirkungsgeschichte

Die Wirkung der Schleiermacher’schen Reden auf die angesprochenen „Gebildeten“ war uneinheitlich. Der einflussreiche Theologe Friedrich Samuel Gottfried Sack stellte die Schrift unter Pantheismusverdacht. Der Begriff Pantheismus bezeichnet eine religiöse Weltanschauung, die Gott in allen Dingen erkennt, sodass alle Naturerscheinungen Gott symbolisieren. Diese Beurteilung war durchaus berechtigt, schließlich trat Schleiermacher für eine Vermischung der Gottes- und der Weltidee ein. Die Kritik wog aber insofern schwer, als sie Schleiermacher vorwarf, die Person Gottes zu leugnen, was der Autor so nicht beabsichtigt hatte. August Wilhelm von Schlegel stieß sich an Schleiermachers Dogmatik und reimte einen Spottvers, der den Namen des Philosophen aufs Korn nahm: „Der nackten Wahrheit Schleier machen, ist kluger Theologen Amt. Und Schleiermacher sind bei so bewandten Sachen die Meister der Dogmatik insgesamt.“ Viele Romantiker aber waren von den Reden begeistert. Der Dichter Novalis etwa lobte sie in den höchsten Tönen und setzte ihrem Autor in Die Christenheit oder Europa ein literarisches Denkmal. Ausgehend von Schleiermachers Idee, die Religion neu zu schaffen, erträumte Novalis eine europäische Renaissance des Christentums. 1806 erschien eine zweite Auflage von Über die Religion, 1821 eine dritte und nach Schleiermachers Tod wurde die vierte Auflage 1831 in den gesammelten Werken veröffentlicht. Schleiermacher nahm sich die öffentliche Kritik zu Herzen und verfeinerte den Ursprungstext mit jeder Ausgabe oder fügte Erläuterungen zu den einzelnen Reden an.

Über den Autor

Friedrich Schleiermacher wird am 21. November 1768 in Breslau geboren. Nach der Schulzeit besucht er ein Seminar der Herrnhuter Brüdergemeine. Er stört sich jedoch am Dogmatismus der freikirchlichen Bewegung und beginnt 1787 in Halle ein Studium der Theologie. Er vertritt einen romantisch-christlichen Idealismus, der im Lauf seines Lebens oftmals mit den Ansichten der Kirche kollidiert. Schleiermacher gerät auf privater, kirchlicher, wissenschaftlicher und politischer Ebene immer wieder in Konflikte, in denen er sich jedoch stets selbst treu bleibt. Durch die Bekanntschaft mit den Brüdern Schlegel, mit Rahel Varnhagen von Ense und anderen Persönlichkeiten seiner Zeit wird er in den Kreis der Berliner Romantiker aufgenommen. Vor allem die enge Freundschaft zu Friedrich Schlegel beeinflusst einige seiner Arbeiten, darunter die mehrbändige Übersetzung der Werke Platons und das Erstlingswerk Über die Religion (1799), das den Grundstein für seine Bekanntheit legt. Nach der Ausübung diverser Predigerstellen, u. a. an der Charité in Berlin, wird Schleiermacher 1804 außerordentlicher Professor für Theologie und Philosophie in Halle. Politische Unruhen führen ihn nach Berlin zurück, wo er 1809 die 19-jährige Henriette von Willich heiratet, die Witwe eines seiner Freunde. Im selben Jahr predigt er erstmals in der Dreifaltigkeitskirche, eine Tätigkeit, die ihm begeisterte Anhänger beschert. Ab 1810 lehrt er als Professor der Theologie an der von ihm mitbegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität. In diesen Jahren entstehen ebenso berühmte wie umstrittene Werke wie Über den so genannten ersten Brief des Paulus an den Timotheus (1807). Seine im Ganzen eher unglückliche Ehe, aus der vier Kinder hervorgehen, lässt ihm Freiraum für verschiedenste Aktivitäten auf wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene. Aller Kritik zum Trotz beeinflusst er wie kaum ein anderer maßgeblich die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Schleiermacher stirbt am 12. Februar 1834.

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