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Irre

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Irre

Suhrkamp,

15 min read
10 take-aways
Text available

What's inside?

Eine literarische Bombe: Goetz’ Erstling erschütterte 1983 das deutsche Feuilleton.

Literatur­klassiker

  • Roman
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Einfach irre

Irre ist wie ein Horrortrip ohne Ende: So muss es sich anfühlen, wenn einem das eigene Leben entgleist und es im Nirgendwo verschwindet. Für die Menschen in dem Roman ist der Zug abgefahren, egal ob sie zu denen gehören, die in der Klinik festsitzen, oder zu den Ärzten, die so tun, als könnten sie etwas gegen den Irrsinn unternehmen. Alles scheiße, findet der Protagonist, ein Alter Ego des Autors, schmeißt seinen Arztkittel hin und macht kaputt, was ihn kaputt macht. Rainald Goetz verabreicht dem Leser die nackte Wahrheit, und die ist ebenso unappetitlich wie die Arbeit der Pfleger im Buch, die den Kot der Patienten von den Krankenhauswänden kratzen; wohl auch, weil er uns mit seinem irren Sprachrhythmus in die Köpfe der Wahnsinnigen hineinzwingt. Wie gelähmt schaut man aus deren sedierten Gemütern auf die Welt und sieht einen Zug nach dem anderen vorbeirasen. Während Goetz 1983 an den Klagenfurter Literaturtagen aus dem Buch vorlas, ritzte er sich mit einer Rasierklinge die Stirn auf und ließ sein Blut übers Manuskript laufen. Ein medialer Stunt des angehenden Popliteraten, oder die konsequente Umsetzung seines radikalen Literaturverständnisses? Man muss Irre gelesen haben, um diesen Akt als rationale Selbstverletzung in einer verrückten Welt zu verstehen.

Take-aways

  • Irre ist Rainald Goetz’ Debütroman über den Wahnsinn in der Psychiatrie.
  • Inhalt: Der junge Nervenarzt Raspe fällt nach seinen ersten Praxistagen vom Glauben an eine menschenwürdige Psychiatrie ab: Der Wahnsinn krallt sich an Patienten und Ärzten gleichermaßen fest. Raspe flüchtet in die Drogen- und Punkkultur, verlässt die Klinik und schreibt sich seinen Hass auf die etablierte Kulturszene von der Seele.
  • Der Autor war 1980 ein Jahr als Arzt in einer Nervenklinik tätig und verarbeitete seine Erfahrungen in dem Roman.
  • Vor der Veröffentlichung 1983 schnitt er sich vor laufenden Kameras mit einer Rasierklinge in die Stirn.
  • Autor und Buch polarisierten und wurden zum Literaturereignis des Jahres.
  • Goetz wollte mit radikaler Authentizität die „Wirklichkeit der Wirklichkeit“ ans Licht bringen.
  • Er forderte eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Psychiatrie. Die den Wahnsinn verklärende Antipsychiatrie lehnte er ab.
  • Die Kritik über sein Buch war gespalten und reichte vom Vorwurf der Effekthascherei bis zu Ehrfurchtsbekundungen.
  • Goetz gilt als einer der ersten Vertreter deutscher Popliteratur, die das Ziel hat, den Zeitgeist abzubilden.
  • Zitat: „Raspe schlug seinen Kopf an der Schreibtischkante auf. Da fiel ein Gehirn heraus. Es tropfte auf die Seiten eines Buchs.“

Zusammenfassung

Irre Momente

Herr Stelzer sitzt auf der Bettkante und reißt sich die Daumennägel ab, sodass es blutet. Raspe erscheint auf einer Faschingsparty, den Körper mit Schnittwunden bedeckt. Die Gäste lachen und halten es für eine Verkleidung. Bis er sich mit der Rasierklinge in den Arm schneidet. Walther Zarges liegt seit seiner Entlassung vor drei Wochen willenlos im Bett. In seinem Kopf rechnet es. Pausenlos. Eine Journalistin beklagt in einem Fernsehstreitgespräch, dass erst die Gesellschaft die psychisch Kranken irre mache. Ein Professor widerspricht: Man wisse nicht, warum Menschen den Weg der Psychose gingen.

„Die alltägliche Ächtung der psychischen Abweichung ist das eigentliche Problem. Warum wird ein Schizophrener von seinem Arbeitsplatz verjagt? Warum darf eine alte Frau nicht betend und singend durch die U-Bahnhöfe ziehen, wenn ihr danach ist?“ (Journalistin, S. 54)

Eine Pflegerin verliebt sich in einen Heroinsüchtigen, der freiwillig zum Entzug in die Klinik gekommen ist. Nach wenigen Tagen haut er ab. Goetz leidet unter einer Schwellung an seinem Hals, von der alle behaupten, sie sei gar nicht da. Er hat irgendwann aufgehört, zur Schule zu gehen, und sich in seinem Zimmer eingeschlossen, um pausenlos zu onanieren. Jetzt sitzt er in der Klinik fest, und kein Arzt spricht mit ihm. Wie soll er hier je wieder herauskommen? Eine junge Ärztin hadert mit ihrer Arbeit. Hat man sie nicht längst zur Pillenverschreiberin degradiert? Für Gespräche, die eigentliche psychiatrische Arbeit, bleibt keine Zeit.

„Und ich muss mit meiner Frau schlafen, bis wieder alles zusammenbricht, den Ekel niederhalten vor dieser schwarzen, stinkenden, blutigen, alles verschlingenden Fotze.“ (ein Patient, S. 102)

Ein älterer Patient grübelt über seine Schuld. Er hat sich von dem schönen Jüngling an den Schwanz fassen lassen. Wie oft hat er den Ärzten schon gesagt, er sei nicht geistes-, sondern sexualkrank? Aber die Sexualität existiert nicht hinter diesen Mauern. Eine Patientin zieht es während ihres Ausgangs zu den Bahngleisen. Züge donnern vorbei. Dann wird es dunkel.

Der Schock der Psychiatrie

Im Frühsommer betritt Raspe zum ersten Mal voller Tatendrang die Klinik. Am meisten erschreckt ihn die Stille. Die Patienten, mit Medikamenten ruhiggestellt, schlurfen wie in Zeitlupe durch die Gänge. Die Ärzte trinken Kaffee im Arztzimmer, abgeschirmt von den Patienten durch eine gepolsterte Doppeltür. Die Pfleger dagegen sind den gelegentlichen Wutausbrüchen der Kranken schutzlos ausgeliefert. Raspes erster Patient ist Herr Grahl. Er hält sich für eine Lesbierin, hat seine Frau vergewaltigt und gedroht, seinen Sohn umzubringen. Im Moment ist er wie erstarrt und reagiert auf niemanden. Raspe fühlt sich alleingelassen, hilflos. Darauf hat ihn kein Lehrbuch vorbereitet.

„Worte Worte, Kotz, Geschwätz, verständnisvolle Worte Psychiatrie Kotzkotz die Chefhirnwixer, aber nix kapiert, nur Geschwätz kotzkotz.“ (S. 103)

In der Morgenkonferenz werden die neu eingelieferten Fälle kurz vorgestellt. Da ist ein 18-jähriger Gymnasiast, der sich eine Schwellung am Hals einbildet und kurz vor der Einlieferung seine Mutter mit einem Messer bedroht hat. Die Diagnose: Erstmanifestation einer Schizophrenie. Oder der 16-jährige Wörmann, ein Automechanikerlehrling und Drogenkonsument, der behauptet, er sei Neptun und müsse zum Fischen in den Englischen Garten. Nach der Konferenz wird Raspe Zeuge, wie ein Stationsarzt eine Ärztin zusammenstaucht, weil sie in der Nacht eine Alkoholikerin aufgenommen hat. Solche „abgefuckten“ Leute würden nicht hierhin gehören, blafft er. Da sei keine Forschung möglich, das verursache nur eine Mordsarbeit. Abends geht Raspe mit seinem Kumpel Peter ins „Damage“, einen verwahrlosten Punkschuppen. Überall abgerissene Lederjacken, enge, zu kurze Hosen, aggressives Gerempel. Und er mittendrin, angezogen wie ein Spießer, ein Außerirdischer.

Hoffnungslose Fälle

Die erste Gruppenvisite. Die Irren sitzen im Kreis, jeder gefangen in seiner eigenen Welt. Raspes Kollege Bögl gibt sich wenig Mühe, zu ihnen durchzudringen. Es will die Pflichtvisite schnell abhaken. Die Pfleger haben vor Kurzem die Regel eingeführt, dass die Patienten während der Mahlzeiten bis zum Ende sitzen bleiben müssen, damit sie zu mehr Kontakten angeregt werden. Als ein Privatpatient aber eine Ausnahmeregelung für sich verlangt, gewährt Bögl sie ihm. Am Ende gehen Raspe und Bögl noch bei Herrn Stelzer vorbei. Als Vorbereitung auf den Elektroschock sind bei ihm alle Medikamente abgesetzt worden. Er sitzt da und reißt sich die Daumennägel blutig. Selbst Bögl ist erschüttert. Ob das Schocken bei ihm helfen werde, will Raspe wissen. Sein Kollege glaubt nicht daran. Eine schwere endogene Depression und Hospitalisierungsschäden – aussichtslos.

„Meine Seele ist eine Wunde, nichts sonst, und man sperrt mich unter Irre.“ (eine Patientin, S. 113)

Raspe trifft sich mit Wolfgang, einem alten Schulfreund und Marxisten. Die Psychiatrie sei reaktionär, poltert dieser, sie helfe den Kapitalisten beim Systemerhalt. Raspe vermisst den Menschen, das Leiden der Kranken in der revolutionären Rede, er ist jedoch zu erschöpft, es ihm zu sagen. Er möchte lieber Wolfgangs wunderschöne Lippen berühren. Aber dessen Freundin sitzt stumm und eifersüchtig daneben.

„Medikamente, das ist gut! Da kriegst einen Krampf, da kannst nimmer normal gehen, da kannst ja nicht einmal mehr schlucken, da läuft dir ja die Soße aus dem Mund.“ (Wörmann, S. 190)

Bögl erzählt Raspe von seiner Lithiumstudie. Er forscht seit Jahren auf diesem Gebiet. Im Gegensatz zum Klinikalltag verschafft ihm diese Arbeit Befriedigung und gibt ihm das Gefühl zu helfen. Er ermuntert Raspe, sich auch ein Forschungsgebiet zu suchen. Das werde sogar erwartet. Ohne Wissenschaft könne er seine Karriere vergessen.

„Zu herrschen war eine merkwürdige Lust, und Raspe hatte, ohne recht zu wissen, wie, schon davon geschmeckt.“ (S. 196)

Raspe begleitet den Pfleger Wettinger mit einigen Patienten in den Garten. Patient Wörmann gibt sich kumpelhaft, erzählt von Musik, Discos und Drogen. Raspe fühlt sich Wörmann sehr nah, denn er besucht die gleichen Schuppen wie er. Der Junge beschwert sich über die fürchterlichen Nebenwirkungen der Medikamente und fordert, sofort entlassen zu werden. Aus Raspes Sicht spricht nichts dagegen, verantworten kann er es aber nicht. Wettinger erzählt ihm von seinem Kampf gegen die alte Klinikgarde, von den winzigen Fortschritten, die er erkämpft habe. Resignieren könne schließlich jeder.

Mächtiger Mitläufer

Im Herbst ist Raspe bereits routinierter. Er lernt, die Dinge nicht an sich heranzulassen. Wörmann ist entlassen worden und Stelzer scheint nach den Elektroschocks geheilt. Raspe spürt, welche Macht er über die Patienten hat – und genießt sie. Manchmal träumt er von einer wissenschaftlichen Blitzkarriere. In der Klinik ahnt allerdings niemand, dass er ein Doppelleben führt. Am Wochenende fährt er mit seinen Kumpeln übers Land, tanzt zu Punkkonzerten ab, raucht und dealt Haschisch und ist regelmäßig sturzbetrunken. Noch streitet der Idealist in ihm mit dem Zyniker. Aber Letzterer gewinnt fast immer.

„Raspe schlug seinen Kopf an der Schreibtischkante auf. Da fiel ein Gehirn heraus. Es tropfte auf die Seiten eines Buchs.“ (S. 200)

Es stinkt nach Scheiße, überall, zum Umkippen. Ein Patient hat Wände, Boden, Tische und sich selbst mit Kot beschmiert. Die Pfleger putzen, voller Wut auf die Ärzte, die wieder mal bei den Medikamenten gespart haben. Der Mann liegt mit maskenhaftem Gesicht ans Bett gefesselt. Raspe und Bögl eilen über Schleichwege zur Konferenz, um ja den Scheißgang nicht mehr betreten zu müssen. Anschließend macht Bögl sich über Oberarzt Meien lustig, wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Pfingstkirche auch „Pastor“ genannt. Meien ist ein glühender Verfechter der Elektrokrampftherapie, die ziemlich aus der Mode gekommen ist. Zwar wird das Schocken in der Klinik noch immer als sinnvoll angesehen, nur will sich niemand außer Meien mehr die Hände damit schmutzig machen. Später flößen Raspe, Bögl und zwei Pfleger dem Kotpatienten mit Gewalt Tee ein: Nase zuhalten, schmerzhafter Kiefergriff, auf den Kehlkopf drücken. Rache, Lust an Gewalt oder therapeutische Notwendigkeit? Raspe steigt Kotgeruch in die Nase und er spürt nichts als Ekel.

„Der Kotgestank auf Station, und die Pfleger putzen das weg, während wir hier sitzen. Wenn schon Psychiatrie, dann wenigstens Arzt.“ (Raspe, S. 209)

Bögl und Raspe rasen durch die Visite. Der Gymnasiast mit der angeblichen Schwellung ist wieder da. Außerdem Stelzer mit blutigen Daumenkuppen; der Erfolg der Schocktherapie hat nicht lange angehalten. Am Ende kommen sie alle wieder. Später ruft Professor Schlüssler an: Er brauche ein Modell für seine Vorlesung über Depression im Involutionsalter. Raspe willigt ein, Herrn Fottner vorbeizubringen. Schlüssler ist ein verknöcherter Extremist, der die neumodischen menschlichen Psychiatrieansätze verachtet. Er zertrümmert gern die Illusionen der Studenten, indem er seine Beispielpatienten demütigt, als seien sie ausrangierte Möbelstücke, und ihnen jede Spur von Gefühl und Verstand abspricht. Als Fottner in den Hörsaal schlurft – eine Elendsgestalt, mehr Pantoffel als Mensch – weiß Raspe, dass er ihn nicht hätte herbringen dürfen. Fottner stottert ein paar Sätze, bevor der Professor mit der verbalen Kreuzigung beginnt: Dieser Typ sei ein Lehrbuchbeispiel des Versagers. Ein Jammer, dass Menschen wie er eine Frührente bekämen und der Gesellschaft auf der Tasche lägen.

Kein Schrecken ohne Ende

Raspe verliert zunehmend die Orientierung. Er hat Nachtdienst und weiß am frühen Morgen nicht mehr, ob die Ereignisse der vergangenen Stunden tatsächlich geschehen sind. Hat er wirklich einen Ausbruchsversuch verhindert? Und eine Selbstmörderin, die sich vor den Zug geworfen hat, identifiziert? Lagen da blutige, zerfetzte Leichenteile im Schnee? Während der Morgenvisite rastet Meien plötzlich aus. Der Grund sind Bilder mit phallischen Symbolen, die ein Patient während der Beschäftigungstherapie gemalt hat.

„Er steht da, wie der schwer Depressive immer dasteht: Der Kopf hängt. Die Schultern hängen, vorallem hängen die Schultern. Auch die Mimik hängt. Imgrunde hängt der ganze Mensch.“ (Schlüssler über Fottner, S. 235)

Raspes Leben driften auseinander: nach Feierabend Musik, Saufen, Betäubung um jeden Preis. Abends Punk, tagsüber Arzt. In den Morgenstunden zittern seine Hände. Klinik und Karriere sind ihm gleichgültig geworden. Neue Patienten will er nicht. Bögl redet ihm ins Gewissen, der Direktor zitiert ihn zu sich, doch Raspe geht nicht hin. Dann, an einem schönen Tag im Frühling, fühlt er im Klinikgarten den Rausch der Freiheit. Er zieht seinen Kittel aus und vergräbt das Gesicht im frisch umgegrabenen Rosenbeet. Es ist vorbei.

Mach kaputt, was dich kaputt macht

Raspe liegt lange im Bett. Es stinkt nach Schweiß. In seinem Kopf: Nichts als Pflaumenmus. Irgendwann wagt er sich wieder unter die Punks. Er steht außerhalb, genießt seine Freiheit, den arroganten Blick auf die Szene. Dann füllt er die Leere mit Arbeit, dem Schreiben von Artikeln und diesem Buch. Er hat tonnenweise Munition zu verschießen: gegen Gorleben-Hippies und Toleranz-Stuss, politisch Korrekte und Kulturdeppen. Außerdem entwirft er einen Film. Die erste Sequenz zeigt ihn selbst in einem schneereichen Januar, als gehetzten Paranoiden in einer postapokalyptischen Welt. Unterlegt mit Punkmusik, zu der er Pogo tanzt. Vollkommen sinnfrei, ein Film, der nie gedreht werden wird.

„Ich will nicht werden wie ich bin.“ (Raspe, S. 248)

Kollege Rainald aus der Psychiatrie kommt ihn unangekündigt besuchen, angetrunken und unerwünscht. Er hat drei Jahre zuvor, vier Monate vor Raspe, als ersatzdienstleistender Arzt in der Klinik angefangen und hat heute jegliche Illusionen verloren. Raspe ist genervt; Rainald hält ihn von der Arbeit ab. Bald bekommt er erste Rückmeldungen zu seiner Schreiberei: „Das ist eine Scheiße, keine Literatur.“ Egal, Hauptsache wahr.

Peinliche Peinsäcke

Eine Horrorvorstellung: die Polonaise der „Peinsäcke“, angeführt von Herrn Be, Nobelpreisträger und Ehrenbürger. Dann folgen Herr eL und Herr Ge, Peinsack hinter Peinsack; winkend und sabbernd, mit bedrücktem Blick, ziehen sie über die Fernsehschirme und durch die Zeitungsfeuilletons. Und dann erst dieser Herr De, Achternbusch-Rezensent und „Einschlaf-Sätze-Schreiber“. Ab in den Orkus mit ihm. Reinschlagen möchte er in dieses todernste Gesicht! Überhaupt haben diese ganzen Kulturverteidiger nicht begriffen, was Bild und Joyce längst kapiert haben: die „häppchenweise Benützbarkeit“ von Sätzen. Nur so kommt „Space“ heraus, Aufregendes, etwas, was die Sinne reizt.

„Vor der Normalität von einem Psychiater wird jeder normale Mensch, z. B. ich, zu einem Irren.“ (Raspe, S. 265)

Die Peinlichkeit der hohen Kultur. Früher war er ständig im Theater, heute nie mehr. Wenn Peinsäcke bestimmen wollen, was Kunst ist, kommt nur Schmarren heraus. Das nichtfranzösische Kino dagegen, das Fernsehen, die Popmusik – das alles macht einen Sauspaß.

Der Film, der nie gedreht wurde, geht zu Ende. Dann geht es mit dem Dichter Ee in den Boxring. Ein Kampf gegen VD, das verantwortungsvolle Denken. Ee hat ihn einst den Mut zur Verantwortungslosigkeit gelehrt. Aber heute, als Mittfünfziger, hat er nicht einmal mehr den Mut zur eigenen Geschichte. Ein Feigling und Unentschlossener, der immer neu provoziert und sich wundert, dass niemand mehr zuhört.

„Mit aller Kraft muss ich immer wieder den Kopf an die Mauer schlagen, rasend gegen die Mauer rasen, kopferst, bis mir oben nichts mehr hängt als wie in knochensplittriger blutiger hirnbrauner Baatz.“ (Raspe, S. 371)

Der Schmerz hört nicht auf. Medikamententranige Patienten schlurfen durch sein Gehirn. Er hat keine Lust mehr, Peinsäcke zu vermöbeln. Er ist endlich in New York und fühlt gar nichts. Aber er atmet. Ist das Freiheit?

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Aufbau und Stil

Irre besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil, „Sich entfernen“, sprechen verschiedene Figuren: Geisteskranke, Ärzte, Pfleger, Drogenabhängige, Journalisten und eine Selbstmörderin. Im zweiten Teil, „Drinnen“, löst sich das Gewirr nach und nach auf. Die Stimmen erhalten Gesichter und Geschichten, beschrieben aus der Sicht des Psychiaters Raspe. Im Schlussteil, „Die Ordnung“, kann der Leser das Entstehen von Kunst im Hirn des Autors quasi in Echtzeit mitverfolgen: Goetz ent- und verwirft Ideen in einem Satz und legt einen fulminanten verbalen Zertrümmerungsfeldzug hin. Die klassische Erzählerfunktion wird zersplittert: Neben Rainald, Raspe und Goetz ist auch von einem Dichter und einem Ich die Rede. Der Leser kann sich nicht im Sessel zurücklehnen und sich gemütlich mit einer Hauptfigur identifizieren, sondern wird in eine komplett irre Sprachwelt hineingezogen und mürbe geschleudert: Sinnfreie Kifferdialoge mischen sich mit hochspeziellen medizinischen Abhandlungen und ordinär-bayerische Schimpftiraden mit erkenntnistheoretischen Streitgesprächen. Mit Wortneuschöpfungen wie „Peinsackparade“ schafft Goetz Bilder, die haften bleiben, und die Wiedergabe irrer Gedankenwelten gelingt ihm so gut, dass es wehtut.

Interpretationsansätze

  • Irre handelt vom Wahnsinn in der Psychiatrie – dem der Kranken und dem ihrer Ärzte – und der verschwimmenden Grenze zwischen Krankheit und Normalität: Ist verrückt, wer mit einer Psychose aus dem unerträglichen Leben flüchtet oder wer sich diesem anpasst?
  • Goetz’ Hass richtet sich gegen die Schulpsychiatrie ebenso wie gegen die Antipsychiatrie, die das Anstaltswesen prinzipiell infrage stellte. Während Psychiater oft der Macht verfallen und sie missbrauchen, sind sie zugleich Opfer, zerrieben zwischen dem Anspruch der Gesellschaft, den Wahnsinn zu beseitigen, und dem der Patienten, sich auf ihre Verrücktheit einzulassen. Dieses Dilemma der Psychiatrie brachte Goetz in einem Spiegel-Artikel auf den Punkt: Der Psychiater „muss in sich Vernunft und Normalität immer wieder neu errichten.“
  • Goetz’ Alter Ego Raspe flieht erst in Drogen und die vermeintliche Sicherheit der Punkgemeinde, dann in die Kultur. Er sucht nichts als die Wahrheit: „Notwendig ist das einfache Abschreiben der Welt“, lautet seine Devise, ohne hehre Ziele, sorgenvolle Mienen oder den Moralismus der Medien. Stattdessen: radikale Authentizität.
  • Raspe schießt auf alles, was ihn anwidert: die „Peinsäcke“ der Gruppe 47, Schriftsteller Be (Heinrich Böll), eL (Siegfried Lenz) und Ge (Günter Grass) sowie das Idol seiner frühen Jugend Ee (Hans-Magnus Enzensberger). Für ihn sind sie nichts als „dummkritische Verantwortungsbürger“, die es sich im Kulturbetrieb gemütlich eingerichtet haben und ihn mit ihren heuchlerischen Debatten heimsuchen.
  • Goetz war einer der ersten Schriftsteller, der sich von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule abwandte, deren Ziel eine vernünftige Gesellschaft mündiger Menschen war. Er bekennt sich zur Systemtheorie von Niklas Luhmann: Sozialsysteme entstehen ihm zufolge durch Kommunikation. Jedes Untersystem der Gesellschaft funktioniert autonom und ist von außen kaum steuerbar. Für den Autor bedeutet das: Literatur hat weder einen Sinn noch Verantwortung. Sie ist Teil des autonomen Kunstsystems, und niemand kann ihren Wert besser beurteilen als der Leser.

Historischer Hintergrund

Popliteratur made in Germany

Die Beatgeneration im Amerika der 1950er Jahre machte es vor: Schriftsteller wie Jack Kerouac und Allen Ginsberg erhoben die Subkultur zur Literatur, schrieben über Musik, Drogenexzesse und einsame Rebellen inmitten einer gleichmacherischen Leitkultur. In die deutsche Literaturszene hielten die Popliteraten 1968, auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen, Einzug. Anstatt wie die Vertreter der Gruppe 47 um die Tabus herumzuschleichen, wie der Vorwurf lautete, sollte Literatur „auf Wörter oder Sätze so lange draufschlagen, bis das in ihnen eingekapselte Leben (...) neu daraus aufspringt in Bildern, Vorstellungen“, schrieb der Lyriker Rolf Dieter Brinkmann im Jahr 1969. Kultur ist demnach, was gefällt – vor allem Popmusik, Film, Fernsehen und Comics –, und Unkultur moralinsäuerliche Gesinnungsliteratur, die dem modernen Fortschrittsglauben nachhängt. Popliteraten bilden im Slang der Subkultur den Zeitgeist ab, sie provozieren und inszenieren sich selbst. Ob Sinn oder Unsinn – das soll der Leser selbst entscheiden.

In den 1960er Jahren formierte sich auch die Antipsychiatriebewegung. Ihre Vertreter kritisierten die Psychiatrie als Mittel der Ausgrenzung von Menschen mit gesellschaftlich unerwünschtem Verhalten. Nicht der angeblich Irre, sondern die Gesellschaft, die ihn irr gemacht habe, müsse sich verändern. Therapiemethoden wie die Elektrokrampftherapie wurden als Folter und Psychopharmaka als chemische Zwangsjacke abgelehnt. Heute gilt die Bewegung in ihrer radikalen Form als gescheitert. Sie hat allerdings dazu beigetragen, die Rechte psychisch Kranker zu stärken.

Entstehung

Goetz kannte das Thema seines Erstlings aus eigener Anschauung: Als angehender Arzt arbeitete er 1980 ein Jahr in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt in München und promovierte 1982 mit einer Arbeit über Hirnfunktionsstörungen. Obwohl er aus einer Ärztefamilie stammte und beste Karriereaussichten hatte, schmiss er seinen Beruf hin und widmete sich fortan dem Schreiben. Vieles in dem Buch ist autobiografisch: die Klinikerfahrungen, der Ausstieg, das Anfreunden mit der Punkszene und die Entfremdung von derselben. Goetz’ Anspruch ist, „die Wirklichkeit der Wirklichkeit“ radikal ernst zu nehmen: über Drogen nicht nur zu schreiben, sondern sie zu konsumieren, und Blut nicht zu erfinden, sondern es über den Text fließen zu lassen. Beim Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt im Juni 1983 tat er genau das: Irre war noch nicht veröffentlicht, da gingen in der Literaturszene Gerüchte um, ein Genie befinde sich unter den Eingeladenen. Und tatsächlich erwies Goetz sich als genialer Mediendompteur: Vor laufenden Kameras las er: „Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch“, wobei er sich mit einer Rasierklinge in die Stirn ritzte und das Blut über das Manuskript laufen ließ. Im Publikum soll ein Zuschauer umgekippt sein, einige Damen verließen den Saal. Den Preis gewann jemand anders, aber der Hype um Goetz’ Debütroman, der wenige Monate später erscheinen sollte, war perfekt. In einem Zeit-Interview versicherte er 27 Jahre später, dass er den Akt der Selbstverstümmelung nie bereut habe. Im Gegenteil: Beim Gedanken daran verspüre er Freude.

Wirkungsgeschichte

Das Jurymitglied Gert Ueding tadelte den Rasierklingenschnitt seinerzeit als „Zerschlagung um des Zerschlagens willen“, während viele Zuschauer applaudierten. Auch das Feuilleton war gespalten: Kritiker lobten oder verdammten das Werbetalent des Autors, sie feierten ihn als Märtyrer oder bezichtigten ihn der literarischen Brandstiftung. Als Irre drei Monate später erschien, schwankten sie zwischen Ablehnung, Gräuel und Ehrfurcht. Einige waren angeblich so sprachlos vor Bewunderung, dass sie keine Besprechung zustande brachten. Der Spiegel bezeichnete es als „erschütterndes und in seiner selbstmitleidlosen Unerbittlichkeit furchterregendes Buch“, bemängelte aber das Folgenlose seiner hemmungslosen Wut. 2000 wurde das Werk in Hannover als Theaterstück uraufgeführt.

Heute gilt der Autor als „einer der letzten wilden Denker“. In seiner Wahlheimatstadt Berlin ist er berühmt-berüchtigt dafür, mit Kamera und Notizblock auf Pressekonferenzen, Partys und Empfängen umherzuschleichen. Wen hat er diesmal auf dem Kieker? Und wen wird er als Nächstes mit ironiefreier Häme überziehen? Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel, das weitgehend auf intellektuelle Insiderkreise beschränkt bleibt. Anders als Literaturpopstars wie etwa der Franzose Michel Houellebecq ist Goetz selbst kaum noch Gegenstand massenmedialer Aufmerksamkeit. Vielmehr hat er es sich zur Aufgabe gemacht, den Medienbetrieb selbst zu sezieren und ihn geneigten Lesern zum Fraß vorzuwerfen.

Über den Autor

Rainald Goetz wird am 24. Mai 1954 als Sohn eines Chirurgen und einer Fotografin in München geboren. Er studiert Geschichte, Theaterwissenschaft und Medizin in München und in Paris. Ab 1976 schreibt er für die Süddeutsche Zeitung, darunter die Artikelserie Aus dem Tagebuch eines Medizinstudenten. 1980 leistet er sein praktisches Jahr in einer Nervenklinik ab, 1982 promoviert er mit einer Arbeit, die bereits deutlich literarische Züge trägt. Die traumatische Zeit in der Psychiatrie verarbeitet er in seinem Debütroman Irre (1983). Das Werk ist noch nicht veröffentlicht, als er mit seinem Auftritt beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt für einen Eklat sorgt: Während er aus dem Manuskript vorliest, ritzt er sich vor laufenden Kameras mit einer Rasierklinge die Stirn auf. Das deutsche Feuilleton ist gespalten zwischen Bewunderung und Abscheu. Der Autor aber geht als Mediensieger von Klagenfurt in die Geschichte ein. Nach mehreren Erzählungen, Dramen und Artikeln für die Musikzeitschrift Spex erscheint 1988 sein zweiter Roman Kontrolliert, eine Auseinandersetzung mit der RAF und dem Deutschen Herbst. Wenige Jahre später taucht Goetz in die Berliner Technoszene ein. Der Roman Rave, erschienen 1998, handelt vom Leben im Rausch, geschrieben im Stakkato des Techno-Beats. Im selben Jahr wird er eingeladen, die renommierten Frankfurter Poetikvorlesungen zu halten. Er verfasst eines der ersten prominenten Internettagebücher, das 1999 unter dem Titel Abfall für alle als Buch erscheint. Sein Bericht Loslabern (2009), ein Sittenbild über den Krisenherbst 2008, und das Bildtagebuch Elfter September 2010 (2010) sind fragmentarische Abrechnungen mit den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts. Goetz lebt als freier Schriftsteller in Berlin und hat mehrere Literaturpreise erhalten.

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