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Der symbolische Tausch und der Tod

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Der symbolische Tausch und der Tod

Matthes & Seitz Berlin,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Baudrillards leidenschaftliche Kulturkritik am digitalen Zeitalter.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Postmoderne

Worum es geht

Schöne neue virtuelle Welt

Wir leben im Zeitalter der Simulation, sagt Jean Baudrillard. Zeichen und Werte sind beliebig, Arbeit dient nicht mehr der Produktion, der Tod wird aus dem Leben verdrängt. Und während sich Schein und Wirklichkeit früher noch auseinanderhalten ließen, ist das Reale heute in der medial erzeugten Hyperrealität aufgegangen. Baudrillard war ein radikaler Denker: Die Leidenschaft, mit der er unsere Informations- und Medienwelt kritisiert, und seine Vorliebe für Ironie und Paradoxes mögen den Leser manchmal verunsichern. Stets schwankt er zwischen Nostalgie und Nihilismus, Science-Fiction und sachlicher Analyse. Kritiker warfen ihm vor, „eleganten Unsinn“ zu verzapfen. Tatsächlich hat man hin und wieder Mühe, den sprunghaften Gedanken des leidenschaftlichen Kulturkritikers zu folgen. Und doch muss man dem provokanten Buch, das 1976 erschien, eine visionäre Kraft bescheinigen. Die globalen Ströme des Finanzkapitals, die Macht der elektronischen Medien, die Allgegenwart des Internets, die Entstehung virtueller Welten – all das hat Baudrillard hellsichtig vorweggenommen.

Take-aways

  • Der symbolische Tausch und der Tod zählt zu den bekanntesten Werken des französischen Soziologen und Philosophen Jean Baudrillard.
  • Inhalt: Wir leben im Zeitalter der Simulation, in dem Zeichen und Bezeichnetes in keinem inneren Zusammenhang mehr zueinanderstehen. Die elektronischen Medien erzeugen eine Hyperrealität, die den Bezug zur Wirklichkeit längst verloren hat – ähnlich wie sich in der Ökonomie das Geld von der Produktion abgelöst hat. Damit geht einher, dass die moderne Gesellschaft den Tod aus dem Leben verdrängt hat. Ihr stehen die unverdorbenen primitiven Kulturen mit ihren umfassenden Tauschsystemen gegenüber.
  • Der symbolische Tausch und der Tod ist eine Sammlung lose miteinander verbundener Essays.
  • Thematisiert wird der Umgang unserer Gesellschaft mit Arbeit und Geld, Freizeit und Tod.
  • Obwohl es um alltägliche Phänomene geht, ist die umfassende Kulturkritik sehr abstrakt.
  • Baudrillard wird den Poststrukturalisten zugeordnet, die die Meinung vertraten, dass Zeichen die Wirklichkeit festsetzen.
  • Das 1976 erschienene Buch nahm die Gegenwart des digitalen Medien- und Informationszeitalters vorweg.
  • Vor allem in angelsächsischen Ländern wurde es mit großer Begeisterung aufgenommen.
  • Kritische Stimmen warfen Baudrillard fehlende Sachlichkeit und Irrationalität vor.
  • Zitat: „Das Reale ist tot, es lebe das realistische Zeichen!“

Zusammenfassung

Das Ende der klassischen Ära des Zeichens

Im klassischen Denken besteht zwischen Zeichen und Realem eine enge, unlösbare Verbindung: Einem bestimmten Geldwert entspricht z. B. der Gebrauchswert einer Ware, einem bestimmten Ausdruck (Signifikant) entspricht das, was er bezeichnet (Signifikat). Diese Regel war zu Zeiten von Marx und de Saussure noch gültig. Doch damit ist es vorbei. Der Gebrauchswert der Ware hat sich vom Tauschwert gelöst, das Zeichen von seiner Bedeutung. Ob in der Welt der Arbeit, der Produktion oder der Sprache: Alles ist beliebig, wir leben in einem Zustand totaler Freiheit, in einem Zeitalter frei flottierender Zeichen und Währungen, die keine festen Bedeutungen haben. Alle Werte und Antagonismen, auf denen unsere Zivilisation einst beruht hat, sind ausgelöscht: In der Mode sind Schönes und Hässliches austauschbar geworden, in der Politik rechts und links, in den Medien Wahres und Falsches.

Das Zeitalter der Reproduktion

In Zeiten des Mangels war Arbeit noch produktiv, doch heute hat das Produzieren keinen Sinn mehr. Arbeit dient jetzt dazu, Menschen im sozialen Netz zu verorten. Sie ist zu einem reinen Zeichen verkommen, wie Hautfarbe oder Geschlecht. Arbeit wird heute als Dienst verstanden und beinhaltet schlicht erzwungene Anwesenheit am Arbeitsplatz. In der Freizeit bleibt das Prinzip das gleiche: Menschen werden zu feststehenden Zeiten an feststehenden Orten festgesetzt, ob in der Schule, in der Fabrik oder vor dem Fernseher. Arbeit – auch in Form von Arbeitslosigkeit – ist Teil der allumfassenden gesellschaftlichen Kontrolle, der unser Leben von der Wiege bis zur Bahre ausgesetzt ist.

„Heute kippt das ganze System in die Unbestimmtheit, jegliche Realität wird von der Hyperrealität des Codes und der Simulation aufgesogen.“ (S. 9)

Der Proletarier, einst ausgebeutet und diskriminiert, ist durch den Produktionsagenten ersetzt worden, der austauschbar und von der Arbeit entfremdet ist. Das Kapital produziert nicht mehr, sondern reproduziert nur Arbeit als imaginären Wert – etwa in Industrieparks und Großprojekten wie Raumfahrtprogrammen. Man arbeitet, um Arbeit zu produzieren. Man verkauft seine Arbeitskraft und damit sein Leben. Durch den Lohn wird dies auf symbolische Weise kompensiert. Im System erfüllt der Lohn den Zweck, Geld in Umlauf zu bringen und die Spirale von Produktion und Konsum aufrechtzuerhalten. Er spiegelt keineswegs die tatsächliche Arbeitsleistung wider. Im Gegenteil: Je weniger jemand leistet, desto mehr Lohn darf er fordern. Die Gewerkschaften haben kein politisches Ziel, die Arbeiter kämpfen nicht mehr gegen das Kapital. Denn die Produktion um der Produktion willen und die nutzlosen Großprojekte, die allein der Schaffung von Arbeitsplätzen dienen, liegen ja in ihrem eigenen Interesse. Wir leben in der Endphase der Ökonomie: Arbeit, Freizeit, Konsum – alles dient nur noch der Reproduktion.

Imitation, Produktion, Simulation

Bis ins Mittelalter waren Zeichen noch nicht willkürlich. Jeder Stand, jede Kaste hatte seine eigenen Distinktionszeichen, deren Nutzung durch andere strikt verboten war. Im Zuge der Renaissance und der Auflösung der feudalen Ordnung standen solche Zeichen auf einmal zur freien Verfügung. In der Mode, in der Architektur und im Theater wurden ehemals exklusive Zeichen imitiert und miteinander kombiniert. Masken, Stuckverzierungen und dergleichen erzeugten eine Illusion. Das Spiel mit dem Schein hatte jedoch noch Bezug zum Realen, Natürlichen; die Täuschung war als solche erkennbar. Das änderte sich im industriellen Zeitalter: Nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Mode und in den Medien ging man zur seriellen Produktion von Zeichen über. Dass nun jeder Gegenstand reproduziert werden konnte, kam einer Revolution gleich. Auf einmal konnte man zwei vollkommen identische Bücher haben. Mit der seriellen Reproduzierbarkeit änderte sich auch der Charakter der Zeichen: Waren sie in der Renaissance und im Barock noch höchst komplex, wurden sie nun schwerfällig und stumpf.

„Die Arbeitskraft gründet sich auf den Tod. Ein Mensch muss sterben, um Arbeitskraft zu werden.“ (S. 83)

Im gegenwärtigen digitalen Zeitalter ist die industrielle Serienproduktion durch Simulation ersetzt worden. Alle Zeichen entstehen aus binären Codes, sie haben ihre Aura, ihre Bedeutung und ihre Referenz verloren. Gott, Fortschritt, Geschichte, Revolution – all das existiert nicht mehr. Menschen sind auf genetische Codes reduziert, die Wissenschaft presst die Realität in eine Logik aus Einsen und Nullen, in ein System von Frage und Antwort, und ordnet die Dinge so an, dass sie sich in ihr dualistisches Schema fügen. Der gesamte Alltag ist von digitalen Modellen durchdrungen. Ob Gebrauchsgegenstände oder Modetrends, Fernsehnachrichten oder Wahlumfragen – alles folgt einem simplen Frage-Antwort-Schema.

„Die Realität geht im Hyperrealismus unter, in der exakten Verdoppelung des Realen, vorzugsweise auf der Grundlage eines anderen reproduktiven Mediums – Werbung, Foto etc. – und von Medium zu Medium verflüchtigt sich das Reale, es wird zur Allegorie des Todes, aber noch in seiner Zerstörung bestätigt und überhöht es sich.“ (S. 134)

Referenden oder Umfragen stellen keine wirklichen Befragungen dar, sondern bestimmen durch ihre Einseitigkeit und die Reduktion auf das Muster von Richtig und Falsch die Antwort schon im Voraus. Umfragen sind eine fantastische Fiktion, ein imaginärer Spiegel der öffentlichen Meinung. Die öffentliche Meinung wird stets zweigeteilt und damit verdoppelt, denn damit ein System nicht einstürzt, sind zwei Mächte notwendig. Oft unterscheiden diese sich aber nur in Kleinigkeiten. Ähnliches gilt für Wahlen: In den fortgeschrittenen Demokratien haben wir nur scheinbar die Wahl zwischen zwei großen Parteien, denn die Diskurse sind austauschbar, Opposition ist eine reine Simulation. Unser ganzes System lebt von Scheinverdopplung und künstlichen Antagonismen. Ob es sich um Waschmittelmarken, politische Parteien oder die Weltmächte handelt: die binäre Matrix, das Prinzip der Verdopplung, der regulierten Opposition bildet den Kern unserer modernen Gesellschaft.

Die Welt der Hyperrealität

Materielle Güter, mediale Botschaften und Bilder drängen uns eine bestimmte Wahrnehmung der Welt auf. Das einst so komplexe Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen Wahrem und Falschem, Imaginärem und Realem ist zerstört. Während früher Spiegel, Bilder und beispielsweise künstliche Vorhänge aus Stuck als Imitation einer realen Vorlage erkennbar waren, sind heute im Alltag wie in der Kunst Fiktion und Realität zu einem unlösbaren Ganzen verschmolzen. Die gesamte Wirklichkeit, mag sie noch so banal sein, wird überhöht und ästhetisiert. Das Hyperreale – vor allem in Form von Werbung, Fotos und Filmen – imitiert die Realität nicht; ebenso wenig verzerrt es sie, wie es die Surrealisten taten. Es erzeugt vielmehr eine neue, selbstständige Realität ohne Bezug zum Realen, eine exakte Verdopplung der Welt, wobei Original und Kopie, Inszenierung und Wirklichkeit, Signifikant und Signifikat nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Die Realität wird durch die Hyperrealität verdrängt.

„Auch die Mode ist niemals aktuell: Sie rekurriert auf tote, abgestorbene Formen und deren Aufbewahrung als Zeichen in einem zeitlosen Raum.“ (S. 161)

Die Werbung an den Mauern unserer Städte etwa simuliert Wärme und Ansprache, ist tatsächlich aber nur kalte, inhaltsleere Animation. Sie besteht aus funktionalen Zeichen ohne jeden symbolischen oder ideologischen Gehalt. Sie kann gar nicht sinnvoll entschlüsselt werden, sondern ist sozusagen Selbstzweck. Die im urbanen Raum allgegenwärtigen Graffiti dagegen unterwandern das System sinnloser Codes: Sie sind selbst Zeichen, die der normale Stadtbewohner nicht entschlüsseln kann, und sorgen so für Irritation.

„Die Moderne ist keine Umwertung aller Werte, sondern eine Austauschbarkeit aller Werte, also ihre Kombinatorik und ihre Ambiguität.“ (S. 162)

Auch die Zeichen der Mode haben keine innere Bedeutung oder Botschaft mehr, sie sind beliebig kombinierbar, ohne historischen oder realen Bezug und können grenzenlos wiederverwertet werden. Ob im Bereich der Kleidung, der Kunst oder der Wissenschaft – in jeder Mode werden abgestorbene Formen zyklisch zu neuem Leben erweckt, bevor sie wieder absterben. Die Kleidermode ist nur ein Beispiel von vielen für die Unmöglichkeit, diesem System zu entkommen. Man kann dem Diktat der Mode nicht entgehen. Selbst wer sich ihr verweigert, gehorcht der Logik ihres Codes.

Die Ökonomisierung von Leben und Tod

Die moderne Gesellschaft diskriminiert den Tod. Das Sterben und die Toten werden radikal ausgeschlossen. Während Friedhöfe früher noch im Zentrum eines Dorfes waren, sind sie heute in der Peripherie. Die modernen Städte bieten den Toten weder physisch noch geistig Platz. Wenn allerdings etwas auf diese Weise ausgeschlossen wird, heißt das, dass die Gesellschaft die Funktion selbst übernommen hat: Wenn die Fabriken abgeschafft werden, dann nur, weil die Arbeit allgegenwärtig ist. Gefängnisse braucht es nicht mehr, wenn die Gesellschaft selbst eine Kontrollanstalt ist. Dass die Friedhöfe verschwinden, zeigt, dass die modernen Metropolen Städte des Todes sind. Die Verdrängung und Verwissenschaftlichung des Todes ist ein wesentliches Kennzeichen der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 16. Jahrhundert. Anders als in primitiven Gesellschaften mit ihren Festen und Riten findet bei uns kein symbolischer Austausch zwischen Leben und Tod statt. Leben bedeutet Überleben, der lebende, gesunde Körper wird zum absoluten Wert, zum biologischen Kapital erklärt. Zwischen Leben und Tod hat die bürgerliche Gesellschaft eine künstliche Trennlinie gezogen, die primitive Gesellschaften nicht kennen. Alte und Tote haben in diesem von ökonomischen Prinzipien geleiteten Weltbild keinen Platz, sie werden marginalisiert und ghettoisiert.

„Das Reale ist tot, es lebe das realistische Zeichen!“ (S. 172)

Die archaischen Festriten primitiver Kulturen, in denen der Tod symbolisch gegen das Leben ausgetauscht und beide so miteinander versöhnt werden, stehen modernen Gesellschaften nicht mehr zur Verfügung. Wo die Primitiven den Tod feiern, behandeln wir ihn mit Melancholie. Der reale Tod einer Person wie auch der eigene imaginierte Tod wird zum absurden physischen Schicksal und kann nur durch die individuelle Trauerarbeit bewältigt werden. Der biologische Tod ist in unserer Kultur endgültig und irreversibel. In anderen Kulturen sind Tod und Leben Teil einer symbolischen Ordnung und nicht voneinander zu trennen. Die Grenzen dazwischen sind fließend.

„Der Preis, den wir für die ‚Realität‘ des Lebens bezahlen, um es als positiven Wert zu leben, ist das kontinuierliche Phantasma des Todes.“ (S. 239)

In unserer modernen Vorstellung ist der Körper eine biologische Maschine, die funktioniert oder nicht funktioniert, die entweder lebendig oder ab einem objektiv feststellbaren, wissenschaftlich definierten Punkt tot ist. Der natürliche Alterstod ist in unseren Augen sinnlos und höchst banal. Der schicksalhafte Tod jüngerer Menschen durch einen Autounfall hingegen erscheint ähnlich wie der archaische Opfertod als ein symbolisch aufgeladener Akt – und wird dadurch erst interessant. Einen noch höheren symbolischen Wert besitzt der Tod durch Geiselnahme, wobei die Hinrichtung einem Ritual ähnelt.

Das staatliche System von Repression und Kontrolle

In traditionellen Gesellschaften waren Kriminelle, Kranke und Wahnsinnige noch fester Bestandteil der Ordnung. Ihre rituelle Hinrichtung oder Verspottung – mochte sie auch noch so grausam sein – hatte symbolische Funktion und festigte die Solidarität der Gemeinschaft. Die moderne Gesellschaft dagegen grenzt alle vom Normalen abweichenden Menschen aus und verbannt sie in Gefängnisse und Anstalten. Im Zuge des angeblichen Fortschritts der Zivilisation werden sie therapiert und wieder in die Gesellschaft integriert. Resozialisation ist auf den ersten Blick zwar humaner, liberaler und toleranter als die Todesstrafe, aber auch sie beruht auf dem Prinzip der Ausrottung von Unnormalem und Krankem.

„Wir handeln mit unseren Toten in den Formen der Melancholie, die Primitiven leben mit den ihren unter den Vorzeichen des Rituellen und des Festes.“ (S. 243)

So wie uns die Moral vorschreibt, dass wir nicht töten sollen, so dürfen wir auch nicht vor der Zeit sterben. Lebenserhaltende Maßnahmen, Organtransplantation und Sicherheitsvorschriften im Straßenverkehr dienen der erzwungenen Verlängerung des Lebens und entziehen uns dem biologischen Zufall des Todes. Der Tod unterliegt einem gesellschaftlichen Verdikt und dem staatlichen Monopol. Sterben darf man erst dann, wenn Medizin und Gesetz es zulassen. Der Selbstmord wurde verdammt und verboten. Damit wurde den Menschen die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper entzogen. Er allein aber bietet dem Individuum die Möglichkeit, aus der gesellschaftlichen Ordnung und der staatlichen Kontrolle auszubrechen.

Das Tabu des Todes

Wie die Sexualität wird der Tod in unserer Gesellschaft sterilisiert, desinfiziert und mit Design übertüncht. Hinter den Bemühungen der Bestattungsunternehmen, Tote lebendig und frisch wirken zu lassen, steckt die Weigerung, dem Tod seine Bedeutung zukommen zu lassen. Statt Tote verwesen zu lassen und damit den Unterschied zu den Lebenden zu betonen, wird die Differenz kaschiert. Dem Tod wird in unserer Gesellschaft ein eigenständiger Platz verweigert. Während die Menschen des Mittelalters in den Katakomben ihre Verstorbenen besuchten, ihnen ins Gesicht sahen und die Grausamkeit des Sterbens ertragen konnten, wird der Tod heute unter einer dicken Schminkschicht verborgen und sublimiert. Man stirbt nicht mehr im Kreis der Familie, sondern im Krankenhaus. Es gehört zum guten Ton, dem Sterbenden nicht zu sagen, dass er stirbt. Früher war Sex in der Öffentlichkeit verboten und der Tod öffentlich. In unserer sexuell befreiten Zeit ist es genau umgekehrt: Sex provoziert nicht mehr, der Tod dagegen erscheint obszön und pornografisch.

Zum Text

Aufbau und Stil

Jean Baudrillards Der symbolische Tausch und der Tod gliedert sich in sechs Kapitel, die wiederum in kürzere Abschnitte unterteilt sind. Sie lassen sich auch als voneinander unabhängige Essays lesen. Das letzte Kapitel fällt aus dem Rahmen: Es widmet sich einem linguistischen Spezialproblem. Das Werk ist sehr dicht geschrieben und von einem hohen Abstraktionsgrad. Obgleich es sich thematisch stets um alltägliche Phänomene dreht, werden anschauliche Beispiele eher sparsam eingesetzt. Die Lektüre wird dadurch erschwert, dass Baudrillard oftmals Dinge behauptet, ohne sie zu begründen. Das Apodiktische macht den Reiz, aber auch die Provokation des Texts aus. Selbstbewusst trägt er seine extremen Thesen in einem Tonfall vor, der keinen Widerspruch duldet. Dabei liebt er die Übertreibung und das Paradoxe, ist mal zynisch, mal ironisch, was zur Verunsicherung des Lesers beiträgt. Sätze wie „Ein Mensch muss sterben, um Arbeitskraft zu werden“ oder „Die Arbeit ist überall, weil es keine Arbeit mehr gibt“ sind typisch, und man fragt sich ständig: Meint der Autor ernst, was er behauptet, oder will er nur provozieren? Ist das jetzt Wissenschaft oder Science-Fiction? Beiläufig nimmt er Bezug auf fremde Theorien, etwa von Freud oder Marx, und setzt voraus, dass der Leser sie kennt.

Interpretationsansätze

  • Baudrillard liefert eine pessimistische Zeitdiagnose: Die Auflösung traditioneller Formen von Realität und Kunst ist unumkehrbar; Rebellion oder Revolution haben nach dem Ende der Moderne ihren Sinn verloren. Die einzige Hoffnung liegt darin, dass die Tendenzen des Systems sich weiter steigern und es schließlich implodiert.
  • Baudrillard legt den Grundstein für die These vom Ende der Geschichte. Ihr zufolge ist der Höhepunkt unserer Zivilisation überschritten, von nun an wird nichts mehr passieren. Politische Ereignisse finden nur noch auf dem Bildschirm statt, als Simulation der allmächtigen Medien.
  • Zwar betrauert Baudrillard den Untergang des Realen, der Ökonomie und der Politik, zugleich aber zeichnet er die Welt der Zukunft ohne moralische Wertung. Dieses Schwanken zwischen Nihilismus und Nostalgie ist bezeichnend für die Grundstimmung des Werks.
  • Die Idee vom symbolischen Tausch geht auf Georges Bataille zurück. Der französische Schriftsteller behauptete, nicht kapitalistische Prinzipien von Produktion und Nutzenabwägung, sondern Exzess und Verausgabung, Opfer und Verschwendung seien wesentlich für die menschliche Natur.
  • Beeinflusst vom Ethnologen Marcel Mauss und seiner Theorie der Gabe geht Baudrillard davon aus, dass in vormodernen Gesellschaften das Prinzip des Tausches, des freiwilligen Gebens und Nehmens herrschte, im Gegensatz zur modernen Welt mit ihren Gesetzen von Produktion und Akkumulation.
  • In der Tradition französischer Denker wie Rousseau, Durkheim und Lévi-Strauss idealisiert Baudrillard so genannte primitive Kulturen und ihr von moderner Rationalität unberührtes Denken.
  • Mit seinem (damals noch übertriebenen) Bild einer vollkommen technisierten, virtuellen Scheinwelt nahm Baudrillard auf geradezu genialische Weise die Realität des digitalen Medien- und Informationszeitalters samt dem omnipräsenten Internet vorweg.

Historischer Hintergrund

Poststrukturalismus und Medienkritik

In den 1960er Jahren wandten sich französische Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen gegen die bis dahin beherrschende Methode des Strukturalismus, der u. a. von Ferdinand de Saussure und Claude Lévi-Strauss geprägt wurde. Gemeinsam war den später unter dem Schlagwort des Poststrukturalismus zusammengefassten Denkansätzen die Semiotisierung der Welt: Bei allen Unterschieden im Detail teilten Wissenschaftler wie Jean-François Lyotard, Michel Foucault und Jacques Derrida die Vorstellung, die Wirklichkeit reduziere sich auf Zeichen und Zeichensysteme. Ursprünglich in der Sprachwissenschaft zu Hause, entwickelte sich der poststrukturalistische Ansatz schon bald zu einer umfassenden Kulturtheorie, wonach die ganze Welt ein zu entschlüsselnder Text sei. Eine Wirklichkeit außerhalb von Zeichen und Sprache existierte nach dieser Auffassung nicht. Die Literaturtheorie propagierte den „Tod des Autors“, die Psychologie den „Tod des Subjekts“. Der Mensch sei ein reines Zeichenprodukt und in seiner Sprache gefangen. Auch die Existenz von Geschichte, Wahrheit und Vernunft wurde vehement bestritten.

Großen Einfluss auf die Poststrukturalisten hatte die Theorie des kanadischen Literaturwissenschaftlers Marshall McLuhan, der in den 1960er Jahren die Medienwissenschaft revolutionierte. Im Unterschied zu seinen europäischen Kollegen, die in den Massenmedien amerikanischer Prägung eine Bedrohung für den abendländischen Geist erkannten, stand McLuhan den technischen Entwicklungen gelassen gegenüber. Gemäß McLuhan, der bald zu einer Art Wissenschaftspopstar avancierte, boten die neuen Medien die Möglichkeit zur Emanzipation von der Schriftkultur, zu einer neuen Art der Wahrnehmung und des sozialen Miteinanders. Die elektronischen Medien erweiterten den Körperradius des Menschen und seinen Sinnesapparat, worin neue Ressourcen für eine kulturelle Weiterentwicklung lägen. Ebenso provokant für europäische idealistische Geisteswissenschaftler, die streng zwischen Nachrichteninhalt und Übermittlungstechnik unterschieden, war McLuhans These, dass die Form der medialen Vermittlung bereits über den Inhalt der Botschaft entscheide: „The medium ist the message“, lautete sein Slogan.

Entstehung

Jean Baudrillard hatte sich bereits in den späten 60er Jahren mit McLuhans Medientheorie beschäftigt. In einer Rezension von dessen Buch Understanding Media kritisierte er die seiner Auffassung nach allzu optimistische Sicht auf elektronische Medien heftig. Das Fernsehen fordere nicht zu aktiver Partizipation auf, sondern erzeuge allenfalls affektive Betroffenheit. Außerdem verfestigten die Medien gemäß Baudrillard gesellschaftliche Normen, statt sie zur Diskussion zu stellen. So habe das Fernsehen mit der Berichterstattung der Studentenproteste und Streiks 1968 den Aufstand zwar noch in die entlegensten Regionen Frankreichs gebracht, zugleich aber etablierte soziale Normen gefestigt und in geordnete Bahnen gelenkt. Dennoch zeigte Baudrillard sich von McLuhans Theorie beeindruckt. Der Satz „The medium is the message“ bringe die Entfremdung in unserer durchtechnisierten Gesellschaft auf den Punkt.

Ein weiteres Thema, das den Soziologen in den späten 60er und 70er Jahren beschäftigte, war die Zeichenhaftigkeit von Objekten. Aufbauend auf den Theorien der Soziologen Pierre Bourdieu und Henri Lefebvre untersuchte Baudrillard in seiner Dissertation Das System der Dinge (1968) die symbolische Funktion alltäglicher Gebrauchsgegenstände. In weiteren, in rascher Folge veröffentlichten Schriften hob er in Abgrenzung zum einstmals hochgeschätzten Karl Marx nicht die Produktion, sondern den Konsum als Hauptzug des Kapitalismus hervor. In Der symbolische Tausch und der Tod führte Baudrillard schließlich seine früheren Ansätze zusammen und vereinte die Thesen bezüglich Marxismus und linguistischer Symboltheorie mit Kritik an der westlichen Konsumgesellschaft und medientheoretischen Betrachtungen.

Wirkungsgeschichte

Wie schon seine Dissertationsschrift avancierte auch Der symbolische Tausch und der Tod in Frankreich bald zum Klassiker der Soziologie. Die „Postmoderne“, der Baudrillard als Theoretiker zugerechnet wurde, geriet zum Schlagwort der 80er Jahre, zu einer Art Zauberformel, die den Nerv der Zeit traf. Baudrillards Hauptwerk verbreitete sich in den 80er und 90er Jahren über Frankreich hinaus besonders im angelsächsischen Raum, wo es begeistert aufgenommen wurde. Die Publizistin Susan Sontag prophezeite, im Lauf der Zeit werde das Buch immer wichtiger werden. Zugleich fehlte es nicht an kritischen Stimmen, die Baudrillard mangelnde Wissenschaftlichkeit und – so der amerikanische Physiker Alan Sokal – wirklichkeitsfremden Irrationalismus vorwarfen.

Über den Autor

Jean Baudrillard wird am 27. Juli 1929 in Reims geboren. Sein Großvater ist Bauer, sein Vater einfacher Beamter. Nach dem Abitur in seiner Heimatstadt nimmt Baudrillard 1947 das Studium der Germanistik an der Pariser Sorbonne auf. Von 1958 bis 1966 unterrichtet er Deutsch an einer Mittelschule. Nebenbei übersetzt er Marx und Brecht ins Französische, studiert Philosophie und Soziologie. 1968 schreibt er bei Henri Lefebvre seine Dissertation Das System der Dinge (Le Système des objets) und arbeitet zunächst als dessen Assistent. Nach seiner Habilitation 1972 ist er selbst als Professor für Soziologie an der Universität Paris-Nanterre tätig, einem Zentrum der Studentenbewegung von 1968. Als scharfer Gegner des Algerien- und des Indochinakriegs nähert Baudrillard sich in den 60er-Jahren der französischen Linken an. In den 80er- und 90er-Jahren zählt Baudrillard – inzwischen wissenschaftlicher Direktor an der Universität Paris-Dauphine – zu den bekanntesten Denkern der Postmoderne. In dieser Zeit wendet er sich als erklärter Feind des französischen Egalitarismus von der Linken ab und liebäugelt zeitweilig mit der Rechten. In Interviews zieht er polemisch über Amerikas Ideologie der Freiheit und die westliche Konsumgesellschaft her. Aufsehen erregt er mit der Aussage, der Irakkrieg habe nicht stattgefunden, sondern sei ein reines Medienspektakel gewesen. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 begrüßt Baudrillard als „metaphorischen Selbstmord“, als Wiederkehr des Realen in unsere Welt des Scheins. Im islamistischen Fundamentalismus erkennt er die Rache für den westlichen Konsum- und Warenfetischismus, der sich bis in den letzten Winkel der Welt auszubreiten drohe. Mit solchen extremen Äußerungen macht sich Baudrillard unter Kollegen unbeliebt, die ihm mangelnde Wissenschaftlichkeit vorwerfen. Zugleich finden seine Ideen Eingang in die Populärkultur: Im amerikanischen Science-Fiction-Film The Matrix (1999) etwa spielt sein Buch Simulacres et simulation (1981) eine bedeutende Rolle. Baudrillard stirbt am 6. März 2007 in Paris.

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