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Bartleby, der Schreiber

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Bartleby, der Schreiber

Eine Geschichte aus der Wall Street

Insel Verlag,

15 min read
10 take-aways
Text available

What's inside?

Die Geschichte eines stillen Verweigerers – komisch und beklemmend zugleich.

Literatur­klassiker

  • Kurzprosa
  • American Renaissance

Worum es geht

Die Macht des sanften Widerstands

Als ein New Yorker Notar einen blassen jungen Mann namens Bartleby in seinem Wall-Street-Büro einstellt, ahnt er nichts Böses. Doch schon bald verweigert der geheimnisvolle Schreiber das Korrigieren seiner Abschriften, später auch das Kopieren selbst und schließlich sogar das Verlassen seines Arbeitsplatzes. „I would prefer not to“ („Ich möchte lieber nicht“), entgegnet er auf alle Aufforderungen seines Vorgesetzten. Dieser wird von der kompromisslosen Verweigerung zunehmend in seinen Grundfesten erschüttert. Wie ein ansteckendes Virus breitet sich der sanfte Widerstand in der Kanzlei aus und bedroht deren Ansehen. Der Notar muss handeln ... Die suggestive Beschreibung des Irrationalen und Absurden, das in die vernünftig geordnete Arbeits- und Geschäftswelt einbricht, macht Melvilles kurze Erzählung zu einer der faszinierendsten der Weltliteratur. Seinen widerspenstigen Antihelden, der sich zuerst noch für die Arbeit abmüht und zuletzt einen einsamen Tod stirbt, kann man sich ebenso gut in einem heutigen Bürokomplex vorstellen wie in einer New Yorker Kanzlei des 19. Jahrhunderts.

Take-aways

  • Melvilles Bartleby, der Schreiber zählt zu den besten Erzählungen der Weltliteratur.
  • Inhalt: Ein Anwalt stellt den Schreiber Bartleby ein, der sich bald sanft, aber beharrlich weigert, seine Arbeit zu erledigen oder das Büro zu verlassen. Der hilflose Chef durchlebt sämtliche Gefühlszustände von Zorn über Mitleid bis Resignation. Erst unter dem Druck der öffentlichen Meinung trennt er sich von Bartleby, der daraufhin stirbt.
  • Melville schildert den Einbruch des Irrationalen in die nüchterne Arbeits- und Geschäftswelt der Wall Street.
  • Bartleby repräsentiert den modernen, einsamen Großstadtmenschen, der nur für seine Arbeit lebt.
  • Die eigentümliche Mischung aus Realismus und Absurdität erinnert an Franz Kafka.
  • Bartlebys stereotyp wiederholte Phrase „I would prefer not to“ („Ich möchte lieber nicht“) wurde sprichwörtlich für die Macht des passiven Widerstands.
  • Beim zeitgenössischen Publikum fiel die Erzählung durch.
  • Melville war zu Lebzeiten ein gescheiterter Autor; erst nach seinem Tod setzte sein Ruhm ein.
  • Bartleby hat viele Philosophen und Autoren angeregt und wurde mehrfach verfilmt.
  • Zitat: „Nichts erbittert einen ernsthaften Menschen so sehr wie ein passiver Widerstand.“

Zusammenfassung

Die seltsame Spezies der Schreiber

Ein New Yorker Anwalt, der sich selbst als zutiefst bequemen Menschen ohne Ehrgeiz beschreibt und der sein Geld mit Wertpapieren und Grundstücksübertragungen verdient, hat im Lauf seiner 30-jährigen Berufszeit schon viele Schreiber kennen gelernt. Auch die beiden aktuellen Angestellten seiner Kanzlei, die inmitten schmutziger Hinterhöfe und Backsteinmauern an der Wall Street liegt, zählen zu dieser seltsamen Spezies. Der ältere mit dem Spitznamen Turkey, vormittags der fleißigste und sanftmütigste Mensch, wird am Nachmittag hitzig und flüchtig und verkleckert in seiner Ungeduld die Dokumente mit Tinte; der jüngere, Nippers, leidet unter krankhaftem Ehrgeiz und Verdauungsstörungen, die sich besonders am Vormittag in nervöser Gereiztheit äußern.

„Die Natur meiner seit dreißig Jahren ausgeübten Berufstätigkeit hat mich in ungewöhnlich enge Berührung mit einer, wie mir scheinen will, interessanten und etwas merkwürdigen Gattung von Menschen gebracht, über die aber bisher, soviel ich weiß, noch nie geschrieben worden ist – ich meine die Aktenkopisten oder Schreiber.“ (S. 9)

Zu einer Zeit, als die Geschäfte gut laufen und seine beiden Angestellten mit Arbeit ausgelastet sind, beschließt der Anwalt, einen weiteren Schreiber einzustellen. Er entscheidet sich für einen ruhigen, etwas blassen jungen Mann namens Bartleby, von dem er sich einen günstigen Einfluss auf die beiden anderen Kopisten erhofft. Bartleby, der ein durch einen grünen Wandschirm abgegrenztes Schreibpult im Zimmer des Anwalts zugewiesen bekommt, macht sich gleich eifrig an die Arbeit. Tag und Nacht schreibt er geradezu gierig Dokumente ab, mechanisch, stumm, ohne Pause.

„Ich möchte lieber nicht“

Als der Anwalt Bartleby einmal zu sich ruft und ihn bittet, mit ihm zusammen ein kurzes Schriftstück durchzusehen, lehnt der Schreiber ab, indem er sagt: „Ich möchte lieber nicht.“ Der Anwalt glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. Zwar ist das Korrekturlesen eine stumpfsinnige Tätigkeit, doch gehört es selbstverständlich zur Arbeit eines Kopisten. Auf eine erneute Aufforderung wiederholt Bartleby seine Antwort ruhig und bestimmt. Der Anwalt lässt die Sache zunächst auf sich beruhen, doch als Bartleby sich ein paar Tage darauf erneut weigert, ein Dokument auf Fehler zu überprüfen, verlangt er eine Erklärung. Zu seiner eigenen Überraschung redet er vernünftig auf den verschrobenen Kopisten ein, statt in Zorn auszubrechen und ihn hinauszuwerfen. Bartlebys Sanftmut entwaffnet und verwirrt ihn, und er beginnt an seinen eigenen Überzeugungen zu zweifeln.

„Ich bin ein Mann, der von Jugend auf zutiefst von der Überzeugung durchdrungen ist, dass die bequemste Lebensweise die beste darstellt.“ (S. 10)

Der Anwalt interessiert sich zunehmend für Bartleby und beobachtet ihn genau. Ihm fällt auf, dass der Schreiber seine Ecke im Büro nie verlässt, nicht einmal zum Essen. Hin und wieder lässt er sich vom Laufburschen Ginger Nut eine Handvoll Ingwernüsse bringen. Bei allem Befremden hat der Anwalt Mitleid mit dem Querkopf, ja er verspürt sogar eine gewisse Zuneigung. Es schmeichelt seinem Selbstbild und beruhigt sein Gewissen, dass er den offenkundig Geistesgestörten nicht einfach auf die Straße setzt und ihn dort seinem Schicksal überlässt. Dann aber reizt der stumme Mann hinter dem Wandschirm ihn wieder so sehr, dass der Anwalt sein Glück noch einmal versucht – ohne Erfolg: Wann immer er Bartleby um eine spezielle Arbeit bittet, lautet dessen Antwort: „Ich möchte lieber nicht.“ Dem Anwalt fällt es schwer, zu akzeptieren, dass einer seiner Angestellten solche Vorrechte für sich beansprucht. Doch allmählich gewöhnt er sich an den vertrauenswürdigen Kopisten, der von morgens bis abends still und fleißig Akten abschreibt, der immer da ist, keine Gefühlsschwankungen zeigt und nur manchmal, hinter seinem Wandschirm stehend, vor sich hin träumt.

Einsamkeit und Melancholie

Eines Sonntags schaut der Anwalt vor dem Kirchenbesuch in seiner Kanzlei vorbei und ist überrascht, dass der Schlüssel von innen steckt. Bartleby öffnet ihm im Morgenmantel die Tür und bedauert, ihn nicht einlassen zu können, da er gerade beschäftigt sei. Höflich, aber bestimmt bittet er seinen Vorgesetzten, noch ein paar Runden um die Häuserblocks zu drehen und dann wiederzukommen. Der Anwalt, von Bartlebys sanfter Art abermals entwaffnet, kommt dem Wunsch seines Angestellten nach. Als er zurückkehrt, ist dieser verschwunden. Einiges deutet jedoch daraufhin, dass Bartleby in der Kanzlei lebt und also auch dort übernachtet. Schwermut erfasst den Anwalt: Wie arm und einsam muss jemand sein, um selbst die Sonntage und Nächte in einem Büro der ausgestorbenen, menschenleeren Wall Street zu verbringen?

„Als ob er seit Langem nach etwas zum Kopieren hungerte, schien er sich an meinen Akten vollzufressen. Zum Verdauen machte er keine Pause.“ (über Bartleby, S. 22)

Die Melancholie und das Mitleid des Anwalts halten jedoch nicht lange an. Er erkennt, dass der junge Mann, der niemals das Büro verlässt, nicht essen geht, kein Bier, keinen Kaffee oder Tee trinkt, nur Ingwernüsse isst, keine Zeitung liest und höchstens manchmal aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Backsteinmauer starrt, unheilbar seelisch krank sein muss. Der Anwalt kommt zum Schluss, dass hier kein Mitleid hilft, sondern nur der gesunde Menschenverstand. Er beschließt, Bartleby zu seinen Lebensumständen zu befragen. Sollte er sich weigern, Auskunft zu geben, will er ihm zusätzlich zu seinem Lohn 20 $ zahlen und ihn freundlich auffordern, zu gehen.

Ansteckende Sanftmut

Am nächsten Tag ruft der Anwalt Bartleby zu sich. Auf die Aufforderung, doch bitte etwas über sein früheres Leben, seine Herkunft und die Ursachen für sein beharrliches Schweigen zu erzählen, antwortet der Schreiber wie üblich mit: „Ich möchte lieber nicht.“ Das undankbare Verhalten ärgert den Anwalt, doch sein Gewissen verbietet es ihm, seinen Plan auszuführen und diesen einsamen Menschen zu entlassen, ja ihn auch nur mit deutlichen Worten zur Rede zu stellen. Er sucht ihn hinter dem Wandschirm auf, setzt sich vertraulich zu ihm und bittet ihn als Freund, sich doch an die in der Kanzlei herrschenden Usancen zu halten, ihm hin und wieder bei der Durchsicht von Schriftstücken zu helfen, kurzum: vernünftig zu sein. Bartleby entgegnet sanft, im Augenblick wolle er das lieber nicht.

„Man stelle sich meine Überraschung, nein meine Bestürzung vor, als Bartleby, ohne sich aus seiner Abgeschiedenheit zu rühren, mit eigentümlich sanfter, entschiedner Stimme erwiderte: ‚Ich möchte lieber nicht.‘“ (S. 24)

Nippers, der in diesem Augenblick den Raum betritt, verspottet den Anwalt für seine Nachsicht und empfiehlt ihm, endlich ein Machtwort zu sprechen. Der aber fordert Nippers höflich auf, den Raum zu verlassen: „Ich möchte lieber, dass Sie sich vorerst zurückziehen.“ Erschrocken stellt er fest, dass Bartlebys Sanftmut eine ansteckende Wirkung hat – nicht nur auf ihn selbst: Auch Turkey und sogar der stets gereizte Nippers gebrauchen die Formulierung „möchte lieber“ nun immer öfter, und zwar ganz ohne Ironie. Der Anwalt fasst den Vorsatz, Bartleby zu entlassen, ehe das ganze Büro kopfsteht.

Die Kündigung

Tags darauf bemerkt der Anwalt, dass Bartleby nicht einmal mehr schreibt, sondern nur noch hinter seinem Wandschirm steht und durchs Fenster auf die gegenüberliegende Mauer starrt. Auf die Nachfrage des Anwalts erwidert er einsilbig, er habe beschlossen, nicht mehr zu schreiben, den Grund könne er selbst sehen. Tatsächlich erscheinen Bartlebys Augen bei näherer Betrachtung trüb und glasig. Der Anwalt fragt sich, ob das Kopieren im dämmrigen Licht der Sehkraft des Schreibers geschadet haben könnte. Besorgt rät er ihm, eine Pause zu machen und ins Freie zu gehen, doch Bartleby lehnt den Vorschlag ab. Auch als die Augen sich nach ein paar Tagen erholt zu haben scheinen, will er nicht schreiben. Er habe das Kopieren vollkommen aufgegeben, teilt der Kopist seinem erregten Arbeitgeber in gewohnt sanfter Manier mit.

„Es ist nicht selten der Fall, dass ein Mensch, wenn ihm auf eine noch nie da gewesene und krass der Vernunft widersprechende Weise entgegengetreten wird, in seiner eigenen, simpelsten Überzeugung zu schwanken beginnt.“ (S. 27)

Bartlebys Widerstand treibt den Anwalt an den Rand der Verzweiflung. Er empfindet die Anwesenheit des Angestellten, der bereits wie ein Möbelstück zum Büroinventar gehört, als quälend. Zugleich aber hat er immer noch Mitleid mit Bartleby, da dieser niemanden auf der Welt zu haben scheint. Doch die Arbeit hat Vorrang, und wieder einmal fasst er den Entschluss, Bartleby zu entlassen, diesmal endgültig. So schonend wie möglich teilt er dem Schreiber mit, er müsse in sechs Tagen die Kanzlei verlassen und sich eine neue Bleibe suchen. Er werde ihm beim Umzug behilflich sein und ihn auch finanziell unterstützen. Nach Ablauf der sechs Tage aber sitzt der störrische Schreiber reglos da und macht keinerlei Anstalten, seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Er möchte lieber nicht, sagt er, seinem Vorgesetzten den Rücken zugewandt, als dieser ihn freundlich an die Kündigung erinnert. Die 20 $, die der Anwalt ihm zusätzlich zu seinem Lohn überreichen will, nimmt er nicht an. Entschlossen fordert der Anwalt ihn nun auf, bis zum Abend die Kanzlei zu räumen. Falls er in Zukunft Hilfe brauche, könne er sich jederzeit an ihn wenden.

Zwischen Zorn und Nächstenliebe

In gehobener Stimmung geht der Anwalt nach Hause. Er ist stolz darauf, den Angestellten ruhig und elegant, ohne Einschüchterung, ohne laute Befehle oder Beleidigungen fortgeschickt zu haben – genau so, wie es sich für einen generösen Geist ziemt. Doch schon am nächsten Morgen ist seine Eitelkeit verflogen. Er beginnt daran zu zweifeln, dass Bartleby wirklich gegangen ist. Während der Anwalt geistesabwesend durch die Straßen New Yorks streift, drehen sich seine Gedanken nur darum. Selbst das Stadtgespräch über die bevorstehende Bürgermeisterwahl kann ihn nicht von der Frage ablenken, ob Bartleby noch im Büro ist.

„Nichts erbittert einen ernsthaften Menschen so sehr wie ein passiver Widerstand.“ (S. 30)

Zunächst scheint es, als sei der Schreiber tatsächlich verschwunden. In der Kanzlei ist alles still. Zuerst noch triumphierend, befällt den Anwalt schon bald eine gewisse Traurigkeit, doch dann hört er hinter der Tür eine Stimme. Er könne ihn noch nicht hereinlassen, er sei gerade beschäftigt, ruft Bartleby aus seinem Büro. Trotz seines Ärgers gehorcht der Anwalt dem Angestellten, der eine unerklärliche Gewalt über ihn ausübt, und geht auf die Straße hinaus. Was kann er jetzt noch tun? Bartleby mit Gewalt hinauszuschmeißen oder die Polizei zu rufen, hält er für unwürdig. Ihn einfach nicht zu beachten und so zu tun, als sei er Luft, würde nicht funktionieren. Es hilft nichts, er muss nochmals mit Bartleby reden.

„Tatsächlich war es vor allem seine merkwürdige Sanftmut, die mich nicht nur entwaffnete, sondern mich auch gewissermaßen meiner Männlichkeit beraubte.“ (über Bartleby, S. 36)

Wie erwartet, hat Bartleby jedoch kein Ohr für vernünftige Argumente. Der Hinweis, er zahle weder Miete noch Steuern für die Räume, prallt an ihm ab. Auf die Frage, ob er dann wenigstens seine Arbeit wieder aufnehmen wolle, zieht Bartleby sich wortlos in seine abgeschirmte Ecke zurück. Jetzt packt den Anwalt wirklich der Zorn, aber bevor er sich an Bartleby vergeht, ruft er sich das biblische Gebot, seinen Nächsten zu lieben, ins Gedächtnis. Nächstenliebe und Menschenfreundlichkeit, sagt er sich, bieten einen wirksamen Schutz vor unbedachten Taten, und so versucht er ruhig sich selbst davon zu überzeugen, dass Bartleby es nicht böse meine, dass er es schwer gehabt habe im Leben und dass man nachsichtig mit ihm sein müsse.

Die Macht der öffentlichen Meinung

Nach und nach findet sich der Anwalt mit der eigentlich unhaltbaren Situation ab. Dabei hilft ihm der Gedanke, dass eine weise göttliche Vorsehung ihn dazu bestimmt habe, seine Kanzleiräume mit Bartleby zu teilen. Während er selbst nun gut damit leben könnte, stellt die verständnislose Reaktion seiner Umwelt ein Problem dar: Klienten und Kollegen schütteln den Kopf, und der Anwalt fürchtet um seine Autorität, sein Ansehen, ja um seine Kanzlei. Er muss Bartleby loswerden, aber wie? Ihm bleibt nichts übrig, als selbst umzuziehen. Als er sich dazu durchringt und die Möbel aus der Kanzlei geräumt werden, rührt Bartleby sich immer noch nicht von der Stelle, bis zuletzt verharrt er hinter dem Wandschirm.

„Er blieb, was er immer gewesen war, ein Einrichtungsstück in meinem Zimmer.“ (über Bartleby, S. 47)

Im neuen Büro hört der Anwalt eine Weile nichts mehr von Bartleby. Eines Tages aber erscheint der Nachmieter und fordert ihn auf, sich um den Schreiber zu kümmern. Dieser weigere sich, die alte Kanzlei zu verlassen. Zunächst lehnt der Anwalt jede Verantwortung ab, doch das schlechte Gewissen treibt ihn schließlich zum ehemaligen Büro zurück. Bartleby, der vom neuen Mieter vor die Tür gesetzt wurde, streunt tagsüber in dem Gebäude herum und schläft nachts in der Eingangshalle. Als man dem Anwalt droht, die Sache öffentlich zu machen, gibt dieser nach und spricht mit dem Schreiber – vergeblich. Voller Wut ergreift er die Flucht und reist ein paar Tage umher. Bei seiner Rückkehr erfährt er, dass Bartleby als Vagabund ins Gefängnis gebracht worden ist.

Unzustellbare Wünsche und Hoffnungen

Als der Anwalt Bartleby im Gefängnis besucht, sitzt dieser im Garten und starrt auf eine Mauer. Obwohl er sich frei bewegen darf und dank der Fürsprache des Anwalts sogar besondere Mahlzeiten erhält, isst er nichts und verfällt zunehmend. Beim nächsten Besuch findet der Anwalt Bartleby im Hof an der Mauer liegend vor: Bartleby ist gestorben.

„Die Menschen haben Morde begangen aus Eifersucht und aus Zorn und aus Hass und aus Selbstsucht und aus geistigem Hochmut; aber noch nie habe ich gehört, dass jemals ein Mensch einen teuflischen Mord aus süßer Nächstenliebe begangen hat.“ (S. 55)

Ein paar Monate nach dem Tod des Schreibers kommen dem Anwalt Gerüchte zu Ohren. Bartleby soll als Angestellter im Washingtoner Dead Letter Office gearbeitet haben, wo unzustellbare Briefe an die Absender zurückgeschickt oder vernichtet werden. Die Beschäftigung mit unzustellbaren Wünschen und Botschaften könnte seine traurige Hoffnungslosigkeit erklären. Ob das Gerücht wahr ist, vermag der Anwalt nicht zu sagen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die kaum mehr als 70 Seiten lange Geschichte wird an einem Stück, ohne Unterteilungen, erzählt. Trotz einer etwas umständlichen Einleitung des Ich-Erzählers entfaltet der Text vom ersten Satz an eine starke Sogkraft, der man sich kaum entziehen kann. Der Erzähler ist der Anwalt, der sich gleich zu Beginn als zuverlässiges und angesehenes Mitglied der Gesellschaft vorstellt und als solches sofort das Vertrauen des Lesers gewinnt. Umso haarsträubender erscheinen die Begebenheiten, die er im lockeren Plauderton, aber nicht ohne Betroffenheit wiedergibt. Die nüchterne, mitunter ironische Erzählweise steht in scharfem Kontrast zu den absurden Ereignissen, von denen berichtet wird – mit umwerfend komischem Effekt. Melville verabschiedete sich mit Bartleby vom überbordenden Stil seiner früheren, teilweise wie im Rausch verfassten Romane. In dieser Kurzgeschichte gelingt es ihm, mit höchst sparsamen künstlerischen Mitteln eine unheimliche Atmosphäre zu erzeugen. Im Gegensatz zu früheren Werken erscheinen die Dialoge realistisch, dem wirklichen Leben abgelauscht.

Interpretationsansätze

  • In Bartleby, der Schreiber wird ein subversiver Angriff auf die Vernunft, wie der Anwalt sie verkörpert, geschildert. Einem ansteckenden Virus gleich dringt das Irrationale, Absurde in die geordnete Arbeitswelt der Kanzlei ein, zerstört die Büroroutine und bemächtigt sich schließlich der anderen Angestellten und des Chefs selbst.
  • Die leitmotivartige Höflichkeitsfloskel „Ich möchte lieber nicht“, im Original „I would prefer not to“, wurde sprichwörtlich für stille Verweigerung und die unbezwingbare Macht des passiven Widerstands.
  • Bartleby demonstriert mit seiner sanften Opposition, dass die Grenzen zwischen Macht und Unterordnung, Recht und Unrecht, oben und unten, Mein und Dein fließend sind und auf brüchigen gesellschaftlichen Konventionen beruhen.
  • Bartleby, der blasse Schreiber, der offenbar kein Zuhause und keine Freunde hat, repräsentiert den modernen, einsamen Großstadtmenschen. Die Erzählung führt vor, wie in Zeiten wachsender Isolation und Anonymität weder der Einzelne noch die Gesellschaft der Verantwortung gegenüber dem in Not geratenen Individuum gerecht werden kann.
  • Mit der Beschreibung der entseelten Wall Street übt Melville Kritik am Kapitalismus, den er in Konflikt mit christlichem Mitgefühl und Menschenliebe sah.
  • Manche Interpreten haben in der Backsteinmauer, die Bartleby unentwegt anstarrt, ebenso wie in der Gefängnismauer, vor der er sein Leben aushaucht, ein Symbol für die Aussichtslosigkeit des Lebens gesehen. Auch der Untertitel der Erzählung, Eine Geschichte aus der Wall Street, erhält damit eine tiefere Bedeutung.
  • Der Notar gerät durch Bartleby in ein christliches Dilemma: Einerseits fühlt er sich dem protestantischen Arbeitsethos verpflichtet, nach dem der Mensch seine Erlösung nur durch demütigen Fleiß erlangt. Die Aufgabe des Anwalts als Chef wäre es demnach, Bartleby zur Arbeit anzuhalten. Andererseits hat er Mitleid mit dem untätigen, offensichtlich depressiven Schreiber und will ihn schonen – auch das eine durchaus christliche Regung.

Historischer Hintergrund

New York zwischen Traum und Realität

Bereits Ende der 1840er Jahre war New York die amerikanische Stadt schlechthin. Sie zog nicht nur Intellektuelle, Künstler und Unternehmer aus dem In- und Ausland an; auch Arbeitslose vom Land und verarmte Einwanderer aus Europa strömten massenweise in den Moloch, um sich als billige Arbeitskräfte zu verdingen oder sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen. Trotz der teilweise bedrückenden Lebens- und Arbeitsbedingungen seiner Bewohner stand New York wie keine andere Stadt für die Vision des American Dream, wonach jeder ein „Selfmademan“ sein konnte, seines eigenen Glückes Schmied. Durch angeborenes Talent und Anstrengung, so lautete das Versprechen, konnte man es zu Wohlstand und gesellschaftlichem Ansehen bringen, ohne von sozialen Schranken blockiert zu werden. Zwischen 1840 und 1850 wuchs die Einwohnerzahl New Yorks von 400 000 auf rund 700 000 Bewohner. An der Südspitze Manhattans drängten sich die Menschen; die Mieten für die knappen Wohnungen und Pensionszimmer, die sich oftmals mehrere Bewohner teilten, schossen in die Höhe. Auf engstem Raum lebten hier Arm und Reich beisammen, nur wenige Blocks trennten elegante Geschäftsstraßen von heruntergekommenen, rattenverseuchten und schlammigen Slums.

Der amerikanische Traum wurde 1859 von Abraham Lincoln noch einmal prägnant zusammengefasst, als er Amerika als die Nation bezeichnete, in der der mittellose Neuling es aus eigener Kraft und durch eigene Ersparnisse zum Chef bringen konnte, der wiederum selbst Neulinge einstellte. Doch um die Mitte des 19. Jahrhunderts war längst Ernüchterung in die Büros und Unternehmen rund um die Wall Street eingekehrt. Die Zeiten, in denen Lehrlinge sich wie selbstverständlich in der Hierarchie hocharbeiten konnten, um schließlich als Kompagnons oder Nachfolger ihrer Herren die Geschäfte zu übernehmen, waren vorbei. Gerade rund um die Wall Street, die bereits seit 1800 das Finanzzentrum der USA war, herrschte ein gewaltiger Überschuss an Arbeitskräften, und der Markt für billige Schreiber florierte. In einer Zeit, die den Fotokopierer noch nicht kannte, waren kaufmännische Unternehmen und Kanzleien auf Kopisten angewiesen, die ihre nach Karl Marx’ Begriff „entfremdete Arbeit“ fleißig und klaglos verrichteten.

Entstehung

1851 veröffentlichte Melville seinen mäßig erfolgreichen Roman Moby Dick, ein Jahr später folgte der Roman Pierre über das Tabuthema Inzest, der von der Kritik einhellig verrissen wurde. Sein durch die frühen Südseeromane Typee und Omoo begründeter Ruhm war verflogen. Weder konnte Melville von seiner schriftstellerischen Tätigkeit leben noch war eine andere feste Einkommensquelle in Sicht. Nach gescheiterten Bemühungen um einen Diplomatenposten verpflichtete sich Melville, der eine Frau und vier Kinder ernähren sowie Hypothekenzinsen für seine Farm in Massachusetts zahlen musste, 1853 für Harper’s und Putnam’s Monthly Magazine regelmäßig Artikel und Erzählungen zu schreiben. Obwohl körperlich und seelisch ausgebrannt, machte er sich sogleich an die Arbeit. Im August und September 1853 verfasste er die Kurzgeschichte Bartleby, der Schreiber, die in den November- und Dezemberausgaben des noch jungen, aber schon sehr angesehenen Putnam’s Monthly Magazine anonym veröffentlicht wurde. 1856 erschien sie zusammen mit fünf weiteren Erzählungen Melvilles als Buch unter dem Titel The Piazza Tales.

Wirkungsgeschichte

Bartleby, der Schreiber bewirkte nach der ersten Veröffentlichung nur verhaltene Reaktionen. Die Piazza Tales erhielten zwar in der New York Times eine relativ gute Kritik, doch fügte der Rezensent die Mahnung an, Melville möge künftig Anspruchsvolleres schreiben als solche Zeitschriftenartikel. Erst in den 1920er Jahren, als der Autor von Moby Dick posthum zu einer Art Ikone wurde, erwachte neues Interesse an den Erzählungen. Unter ihnen ragt die Geschichte von Bartleby heraus, die in ihrer Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Groteske auf Franz Kafka und die moderne existenzialistische Literatur des 20. Jahrhunderts vorausweist.

1941 nahm der Argentinier Jorge Luis Borges das Werk in seine Anthologie Die Bibliothek von Babel auf, die fantastische Literatur aus drei Jahrhunderten versammelt. In den 1990er Jahren widmeten zwei Philosophen, der Franzose Gilles Deleuze und der Italiener Giorgio Agamben, dem Antihelden Bartleby und seiner berühmten Verweigerungsformel „Ich möchte lieber nicht“ jeweils einen eigenen Essay. Der katalanische Autor Enrique Vila-Matas schrieb 2001 einen Roman über das „Bartleby-Syndrom“, den Schriftsteller, der nicht schreibt. Bartleby, der Schreiber wurde mehrfach verfilmt, zuletzt von dem amerikanischen Regisseur Jonathan Parker im Jahr 2001. Eine Opernfassung, die 1964 uraufgeführt wurde, stammt vom deutschen Komponisten Walter Aschaffenburg.

Über den Autor

Herman Melville wird am 1. August 1819 als drittes von acht Kindern einer großbürgerlichen Kaufmannsfamilie in New York geboren. Nach dem Konkurs des elterlichen Importunternehmens und dem frühen Tod des Vaters zieht die Mutter mit den Kindern nach Albany. 1935 verlässt Melville vorzeitig die Schule und nimmt verschiedene Jobs an, u. a. als Lehrer, Bankangestellter und Kabinensteward auf einem Postschiff. Anfang 1941 fährt er auf dem Walfangschiff „Acushnet“ in die Südsee, verlässt es jedoch nach 18 Monaten wegen der unzumutbaren Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord wieder. Auf den Marquesas-Inseln lebt er zusammen mit einem Freund eine Zeit lang als Gefangener unter Polynesiern. Nach seiner missglückten Flucht landet er auf Tahiti im Gefängnis, aus dem er abermals flieht. Zurück in der Heimat beginnt er, seine Erlebnisse in der Südsee literarisch zu verarbeiten. Sein erster Roman Typee (1846) wird mit einer Mischung aus Enthusiasmus und Abscheu aufgenommen, die nachfolgenden Werke stoßen nur noch auf laue Kritik. 1847 heiratet Melville, dem später immer wieder homosexuelle Neigungen nachgesagt werden, Elizabeth Shaw und lässt sich als Schriftsteller in New York nieder. Auch die Romane Moby Dick (1851) und Pierre (1853) erzielen nicht den erhofften Erfolg. Enttäuscht zieht sich Melville in den folgenden Jahren immer mehr zurück. Eine längere Europatour 1856 zeugt von dem Versuch, seinen Gemütszustand zu verbessern. Um finanzielle Sicherheit zu erlangen, bewirbt sich der Vater von vier Kindern 1861 um einen Regierungsposten und bei der Armee – vergeblich. Schließlich erhält er 1866 einen Job als Zollinspektor im New Yorker Hafen, den er fast 20 Jahre ausübt. Der tragische Tod seiner beiden Söhne – der ältere erschießt sich 1867 in seinem Zimmer – stürzt ihn in eine tiefe Krise. Wenige Monate nach Vollendung seines späten Meisterwerks Billy Budd, das erst 1924 veröffentlicht wird, stirbt Melville am 18. September 1891. Sein Tod ist der New York Times lediglich eine Kurzmeldung wert.

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