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Hand an sich legen

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Hand an sich legen

Diskurs über den Freitod

Klett-Cotta,

15 min read
10 take-aways
Text available

What's inside?

Ein Klassiker über den Suizid – Pessimismus in letzter Konsequenz.

Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Ein Buch für niemanden – oder jeden

Ein „Untrostbuch“ nannte Günter Kunert das Buch seines Schriftstellerkollegen Jean Améry. Hand an sich legen geht eigentlich niemanden an – bloß seinen Autor. Wer sich als Leser selbst „vor dem Absprung“ befindet, ist gewöhnlich über alle Philosophie hinaus, und wer am Leben hängt, wird sich kaum in jene paradoxale Düsternis fallen lassen, in die Amérys Gedankenketten führen. Der Autor fasst Wittgensteins „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ als willkürliche Anweisung auf, die durch mutigen Ungehorsam auch hintergangen werden könne. Und so sucht er nach Worten für das Unsagbare, ja, er zeigt sich als Meister des Wortes und führt diese Stärke angesichts des Themas mit befremdlicher Vitalität vor. Améry will über den Freitod sprechen, besser noch: über den Freitod aus der Sicht des Betroffenen, um jeden Preis. Es schmerzt, ihm dabei zuzuhören. Dennoch ist das Buch, auch wenn es scheinbar niemanden betrifft außer seinen Autor, lesenswert: Es lotet eine spezifisch menschliche Möglichkeit aus, die letztlich doch jeden betrifft.

Take-aways

  • Hand an sich legen ist das persönlichste und zugleich das erfolgreichste Werk des österreichischen Schriftstellers Jean Améry.
  • Inhalt: Jeder Mensch hat das Recht auf einen frei gewählten Tod. Und da wir ohnehin alle sterben müssen, kann man jenem Selbstbetrug, den wir Leben nennen, genauso gut vorzeitig ein Ende machen.
  • Mit Hand an sich legen setzte sich Améry von seinem Vorbild Sartre ab, dessen Pessimismus stets vor der Konsequenz des Freitods Halt gemacht hatte.
  • Amérys kunstvoller, essayistischer Stil steht in seltsamem Kontrast zum Ernst des Themas.
  • Der Autor schrieb aus eigener Erfahrung: Zwei Jahre zuvor hatte er einen Selbstmordversuch unternommen.
  • Einen weiteren Versuch, zwei Jahre nach dem Erscheinen des Buches, überlebte er nicht: Améry starb 1978 in einem Hotelzimmer an einer Überdosis Schlaftabletten.//
  • Hand an sich legen// löste eine heftige öffentliche Debatte aus. Kritiker warfen dem Autor eine Romantisierung des Themas Freitod vor.
  • Améry, als Hans Mayer in Wien geboren, wurde aufgrund seiner jüdischen Abstammung und seiner Aktivitäten im kommunistischen Widerstand von den Nazis verhaftet, gefoltert und nach Auschwitz gebracht.
  • Nach dem Krieg wurde Améry zur Gallionsfigur der bundesdeutschen Aufarbeitungsdebatte und zur moralischen Instanz.
  • Zitat: „Der Freitod ist ein Privileg des Humanen.“

Zusammenfassung

Innenperspektive statt Objektivierung

Das Phänomen des Suizids ist bislang nur unzureichend erforscht. Zwar gibt es eine unübersehbare Menge wissenschaftlicher Abhandlungen zum Thema, doch dem Kern der Sache ist mit den Werkzeugen der Psychologie, Soziologie, Medizin und Statistik, kurz der objektivierenden Wissenschaften, nicht beizukommen. Der Suizid ist wesentlich subjektiv, seine Bedingungen sind daher nur „von innen“, d. h. aus der Perspektive des Einzelnen zu verstehen. Was einen Menschen an jene Schwelle gebracht hat, an der er den Plan fasst, sich das Leben zu nehmen, ist die Summe seines gelebten Lebens und ist in seiner Ganzheit völlig einzigartig und unvergleichbar. Nicht nur entzieht sich das Phänomen des Suizids jeder objektivierenden Herangehensweise, auch bringt uns der Versuch, überhaupt etwas Sinnvolles, Allgemeinverständliches über die entsprechenden seelischen Vorgänge auszusagen, an die Grenzen der Sprache. Hier gilt, könnte man denken, Wittgensteins Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Tatsächlich aber muss über den Tod und speziell über den Freitod geredet werden; wenn unsere Sprache als Instrument logisch stringenter Wirklichkeitsabbildung vor dem Rätsel des Todes versagt, so gilt es eben, sich so gut es geht zu behelfen.

Lebenslogik und Todeslogik

Es gibt durchaus eine Logik, wenn der Einzelne sich für seinen Tod entscheidet, nur steht diese Logik jener der anderen unvereinbar entgegen: der Logik des Lebens. Diese beruht auf dem Imperativ „Lebe!“. Sie ist die Logik der Mehrheit. Wer in seinem Nachdenken über das Phänomen des Freitods der Logik des Lebens verhaftet bleibt, verkennt die Gültigkeit der Todeslogik. Für ihn ist die „condition suicidaire“ eine krankhafte Abweichung, Verrücktheit, ja barer Unsinn; für ihn gibt es hier schlicht und einfach nichts zu verstehen. Diese Sichtweise liegt der Mehrzahl der bisherigen wissenschaftlichen Erklärungsansätze zugrunde, was sich schon darin zeigt, dass hier fast überall von „Selbstmord“ die Rede ist, also von einer unnatürlichen, kriminellen und somit zu bekämpfenden Handlung. Doch die Grenzen zwischen unnatürlichem und natürlichem Sterben sind nicht so klar gezogen wie gemeinhin angenommen; je nach Perspektive ist jeder Tod natürlich und unnatürlich zugleich. Ist nicht das passive Warten auf das eigene Lebensende eine Kapitulation vor der Absurdität des Todes? Ist nicht, mit dem „Lebe!“ im Rücken, jedoch dem sicheren Ende vor Augen, der Mensch in einen unerträglichen Widerspruch verstrickt? Und ist nicht das gewaltsame Durchhauen des Knotens die eigentlich natürliche Reaktion?

Suizid und Gesellschaft

Die allermeisten Menschen arrangieren sich irgendwie mit dem Unerträglichen. Damit handeln sie, wie es die Gesellschaft dem Einzelnen vorschreibt. Wem es aber nicht gelingen will, sich mit dem Unerträglichen zu arrangieren, wer daher Erlösung im Freitod sucht, der erteilt jenem Eigentumsanspruch der Gesellschaft eine Absage. Indem er sich tötet, stellt er fest: Ich gehöre letztlich allein mir. Suizidant und Gesellschaft befinden sich somit in einem Interessenkonflikt. Die objektivierenden Wissenschaften stehen in diesem Konflikt aufseiten der Gesellschaft. Dies erklärt den breiten Konsens über die einschlägigen Fragen, etwa darüber, Seelenlagen wie Melancholie oder Depression als Krankheit zu betrachten. Letzterem muss widersprochen werden. Gewiss, wenn ein Mensch die Realität bis zu dem Grad verkennt, dass er Dinge wahrnimmt, die nicht existieren, und sich in Wahnvorstellungen verliert, ist er als verrückt zu bezeichnen. Der Depressive jedoch teilt die Wahrnehmungen seiner Mitmenschen durchaus, er interpretiert sie nur anders. Für ihn gibt es auch keine eigentliche Heilung; höchstens, dass er auf dem Weg irgendeiner Therapie sich selbst entfremdet wird, denn diese kann ja nur darin bestehen, dass man ihm einbläut, er habe Unrecht. Die in Wirklichkeit berechtigte Sichtweise des Einzelnen wird gewaltsam dem gesellschaftlichen Konsens unterworfen.

„Ich habe versucht, den Freitod nicht von außen zu sehen, aus der Welt der Lebenden oder der Überlebenden, sondern aus dem Inneren derer, die ich die Suizidäre oder Suizidanten nenne.“ (S. 10)

Besonders drastisch zeigt sich das in der vermeintlichen Rettung von Suizidanten: Die Vehemenz, mit der die Gesellschaft, hier in Gestalt moderner Apparatemedizin, einen zum Sterben bereiten Menschen in ein Leben zurückzerrt, aus dem er sich doch mit gutem Grund verabschiedet hat, steht in krassem Gegensatz zu ihrem sonstigen Desinteresse. Ebenso übertrieben scheint der Verweis auf das Leid, das der Suizidant seinen Mitmenschen durch seine Handlung zufügt. Im Allgemeinen werden doch die Dahingeschiedenen von den Überlebenden recht schnell vergessen; es muss ja weitergehen, die Lebenslogik duldet es nicht anders.

Motive

Die Psychoanalyse sieht im Suizid nach innen gewendete Aggression, als Folge einer Libidoumkehrung: Libido, die zuvor auf ein äußeres Objekt fokussiert war, richtet sich bei dessen Verlust in Form von Aggression gegen das Ich. Doch tatsächlich verfehlt der Begriff der Aggression das Wesen des Suizids, da diese stets ein Moment der aktiven Selbstbehauptung gegen äußere Widrigkeiten enthält.

„Ein ziemlich langes Leben intimen Umgangs mit dem Tod im Allgemeinen, dem Freitod im Besonderen, Gespräche mit kenntnisreichen Freunden, lebensentscheidende, individuelle Erfahrungen gaben mir jene Selbst-Legitimation, die Bedingung des Schreibens ist.“ (S. 11)

Eine weitere Theorie erklärt die Selbsttötung eines Menschen zur Folge einer „narzisstischen Krise“. Zu einer solchen kommt es, wenn zwischen der Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung durch andere eine allzu große, die Selbstliebe dieses Menschen kränkende Kluft entsteht. Hier meint der Mensch, der vernichtenden Wahrheit, der Zerstörung seiner Illusionen über sich selbst auf keinem anderen Weg mehr entkommen zu können. Doch selbst wenn jene Kluft weit geringer ist, ja selbst wenn uns die Gesichter der anderen nichts als Wohlwollen und Hochachtung spiegeln, nehmen wir die Schmeichelei vielleicht dankbar an und finden uns dennoch nicht in den Spiegelungen wieder: Wir werden nicht erkannt, können gar nicht erkannt werden. Dieses Wissen um die grundsätzliche Kluft zwischen uns und den anderen macht uns radikal einsam. Der einzige Weg aus dieser Einsamkeit ist dann die Selbsttötung.

„Mitreden darf nur, wer da eingetreten ist in die Finsternis. Er wird nichts herausfördern, was im Lichte draußen als nützlich erscheint. Es wird ihm das aus der Tiefe hervorgeholte im Tage zwischen den Fingern durchlaufen wie feiner Sand.“ (S. 22)

Auch ein anderes Motiv spielt eine Rolle: der Todestrieb, über den schon Freud spekuliert hat. Der Begriff ist umstritten. In der modernen Psychologie hat er keinen Platz mehr; und Freud selber war sich unsicher. Dennoch enthält die Theorie Wahres. Vielleicht sollte man jedoch eher von Todesneigung sprechen, im Sinn einer im Lauf des Lebens allmählich anwachsenden Schwerkraft, gegen die erfolgreich anzukämpfen nicht jedermann befähigt ist. Es lässt sich sogar spekulieren, ob nicht eine solche Neigung als Ursache hinter so manchem Tod steckt, den man ansonsten als natürlichen einordnen würde: hinter dem passiven Sich-gehen-Lassen alter Menschen oder der schleichenden Selbstzerstörung eines Alkoholikers etwa.

Widersprüche

Obwohl jeder konkrete Suizid seine ganz eigene Geschichte, sein unverwechselbares Gesicht hat, gibt es doch ein Gemeinsames: die „Situation vor dem Absprung“. Sie ist gewissermaßen das Nadelöhr, durch das jeder Suizidant hindurchmuss. Hier treten alle Unterschiede zurück, hier weist die Gesamtheit aller Suizidanten unisono die Forderungen der Lebenslogik ab und erklärt die Gültigkeit der Todeslogik, hier verdrängt das „Prinzip Nihil“ das „Prinzip Hoffnung“, wenn auch nicht vollständig. Denn paradoxerweise ist es ja doch so etwas wie Hoffnung, was den Suizidanten bewegt. Hoffnung auf Frieden etwa, auf Erlösung. Doch im Tod hat niemand Frieden, im Tod ist bloß Vernichtung, das Subjekt wird ausgelöscht, und es ist niemand mehr da, die Früchte jenes hoffnungsgetriebenen Handelns zu ernten. Ähnlich widersprüchlich verhält es sich mit dem Appellcharakter des Suizids: Wo einer sich tötet, ist fast immer auch der Wunsch im Spiel, den Mitmenschen, sei es den Angehörigen, sei es der Welt als Ganzes, etwas mitzuteilen. Mitteilung aber ist eine soziale Kategorie, und dem Sozialen, der Gesellschaft, der Verbundenheit mit seinen Mitmenschen, hat sich der Suizidant durch seine Handlung ja radikal entzogen. Das letzte Gefecht kämpft das „Prinzip Hoffnung“ dann auf biologisch-körperlicher Ebene: Es ist der physische Todeskampf, das Zucken und Aufbäumen des Leibes, der durchaus der Lebenslogik verpflichtet ist.

Phasen des Suizids

Wie kann sich der Lebensweg des Einzelnen derartig verengen, dass er sich vor jenem Nadelöhr wiederfindet? Der Grund ist immer ein „Echec“ (französisch für „Scheitern“, „Niederlage“), in welcher Form auch immer: eine Situation, in der für den Einzelnen unwiderruflich feststeht, dass sich seine Lage nicht mehr bessern, eine Wunde nicht mehr heilen, dass er etwas, dessen er unbedingt bedarf, nicht bekommen, etwas, an dem er mit seinem ganzen Wesen hing, nicht wiedererlangen wird. Was genau die Situation des Echecs ausmacht, empfindet jeder anders: Für einige ist es der Verlust ihrer Ehre, für andere eine hoffnungslose Liebe, für wieder andere ist es berufliches Scheitern, das Fortschreiten einer unheilbaren Krankheit oder der Tod eines geliebten Menschen. Und allein die Tatsache unserer Sterblichkeit ist schon immer ein zureichender Grund. Warum leben, wenn es ja doch jeden Augenblick schnöde enden kann?

„Wer den Freitod sucht, bricht aus (...) aus der Logik des Lebens.“ (S. 24)

Indem ein Mensch nicht weiterweiß, wird er zum Suizidär, zu einem, der den Plan gefasst hat, sich zu töten. Der Entschluss verändert ihn. Der Suizidär zieht sich aus der sozialen Wirklichkeit zurück, wird zum einsamen und ganz und gar ichbezogenen Ich. Ihm wird bewusst, dass sein Leben aus abgelaufener Zeit besteht, die sich erst jetzt in ihrer gnadenlosen Unumkehrbarkeit zeigt. Es ist der Augenblick der höchsten Verdichtung seines Lebensgefühls. Auch die Zeit, die ihm noch bis zur Ausführung des Suizids verbleibt, gewinnt außerordentliche Bedeutung, die verrinnenden Sekunden werden zu etwas höchst Konkretem.

„Der Hang zum Freitod ist keine Krankheit, von der man geheilt werden muss wie von den Masern.“ (S. 42 f.)

Mit der Nähe zum Ende wächst die Selbstliebe des Suizidanten. Sie richtet sich vor allem auf seinen Körper, angesichts dessen drohender Verdinglichung. Die Art und Weise, wie der Suizidär seinen aufgegebenen Leib noch einmal zärtlich befühlt, ähnelt dem Masturbieren. In dieser Phase droht der Suizidär, den Versuchungen zum Weiterleben zu erliegen, doch der Echec würde durch die Schmach eines gescheiterten Ausbruchsversuchs nur verschlimmert. Es gilt also, dem nun einsetzenden „Trennungsschmerz“, dem Horror Vacui und der kreatürlichen Todesangst standzuhalten. Möglicherweise hilft dem Suizidär dabei auch ein gewisses Glücksgefühl, das seinen Ursprung in der Hoffnung auf Ruhe, auf Erlösung aus dem Echec hat.

Der Weg ins Freie

Noch dieser letzte Impuls des Suizidanten speist sich jedoch aus der Lebenslogik: Er wird ja nie in den Genuss jener Ruhe kommen, die er sich von seiner Handlung verspricht. Treffender ist der Begriff der Freiheit. Das Leben kann als ständiges Streben nach Befreiung aufgefasst werden, wobei diesem Streben immer auch ein zerstörerisches Moment innewohnt: Ketten werden gesprengt, Barrieren durchbrochen, Zwänge abgeschüttelt, Vergangenheit überwunden. So auch im Fall des Freitods. Hier macht sich der Einzelne frei von der Last des Lebens, die ihn unerträglich drückt. In diesem Sinn erlangt er jedoch lediglich von, nicht aber Freiheit zu etwas. Freiheit im Sinn von Möglichkeit endet ja notwendig mit dem Tod. So mag zwar der Entschluss zum Freitod eine Befreiung sein, der eigentliche Akt jedoch, das nackte Sterben ist logisch widersprüchlich und sinnlos. Denn was immer der Suizidant mit seiner Handlung bezweckt, er verfehlt es. Schon der Begriff des Zwecks entstammt der Lebenslogik und verliert im Tod alle Bedeutung. Das eigentlich Freie liegt in der Tatsache, dass der Suizidant sich mit seinem Akt über alle Fragen nach Sinn oder Unsinn hinwegsetzt. Er erklärt sich unabhängig vom Lebenselixier Sinn. Jenes allzu menschliche Festklammern an der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, obwohl doch feststeht, dass es für die Katz ist, ekelt ihn an. Er macht Schluss mit jener Lüge, die uns befähigt, entgegen aller Einsicht in die Absurdität des Lebens dennoch weiter so zu tun, als seien wir unsterblich. So gesehen ist der Freitod die größtmögliche Wahrhaftigkeit. Darin liegt seine Würde.

Suizid als Menschenrecht

Die große Mehrheit, die weiterlebt, die dem lebenslogischen Imperativ gehorcht, der Todesneigung widersteht, die Absurdität des Lebens verdrängt – sie hat Recht. Sie „verwirklicht die Natur“. Zu viel spricht gegen den Freitod. Es ist hier auch keine Apologie des Freitods oder gar eine Aufforderung dazu beabsichtigt. Lediglich ein Appell: Dem Suizidanten gebührt Respekt. Er verwirklicht menschliche Werte wie Würde, Humanität, Freiheit, Tapferkeit, indem er den Anspruch darauf erhebt, sich selbst zu gehören. Es ist sein Leben, ihm gebührt das letzte Wort. Daher sind alle Versuche der Gesellschaft zurückzuweisen, den Freitod als asozial, feige, rücksichtslos oder schändlich zu verfemen. Im Gegenteil: Die Entscheidung über das eigene Sterben müsste zum „unveräußerlichen Menschenrecht“ erklärt werden. Letztlich sind es ja dieselben Werte, die den einen dazu befähigen, sein Leben gegen alle Widerstände zu leben, und die den anderen dazu bringen, gegen alle Widersprüche Hand an sich zu legen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Hand an sich legen besteht aus fünf Kapiteln. Jedes ist formal wie inhaltlich eigenständig und kann als in sich geschlossener Essay gelesen werden. Dennoch führt ein roter Faden durch das Buch; in kreisender Bewegung nähert sich Améry dem Zentrum seines Gegenstands mehr und mehr an. Der Untertitel „Diskurs über den Freitod“ trifft diese Vorgehensweise recht genau: Der Diskurs, als philosophisches Genre vor allem von Descartes geprägt, ist eine Art philosophisches Selbstgespräch, eine fragende, vermutende, abwägende Klärung eines Themas. Améry vollzieht in Hand an sich legen eine solche Klärung mit hoher stilistischer Finesse. Im Umgang mit der deutschen Sprache zeigt er höchste Präzision und Kunstfertigkeit. Eine Besonderheit des Exilanten Jean Améry sind die zahlreichen Wortneuschöpfungen bzw. Eindeutschungen aus dem Französischen und Englischen („violent“, „Debatter“, „Oxygen“), doch auch ohne diese schöpft Améry aus einem enormen Vokabular. Seine Formulierungen sind lebendig und emotional. Bei aller Kunstfertigkeit des Stils hat der Leser stets das Gefühl: Hier spricht ein Mensch. An mancher Stelle allerdings bekommt der kunstvolle Stil als solcher, als L’art pour l’art, mehr Gewicht als der Inhalt. Améry scheint sich hier von seiner Virtuosität mitreißen zu lassen, was zu einigen inhaltlich eher dünnen Passagen führt, in denen der Autor seinen Gegenstand vorwiegend auf sprachlicher Ebene durchzudeklinieren scheint.

Interpretationsansätze

  • 1974 unternahm Améry seinen zweiten Suizidversuch, wurde jedoch gegen seinen Willen ins Leben zurückgeholt. 1978 versuchte er es erneut, diesmal mit Erfolg. Hand an sich legen (1976) kann somit zugleich als Aufarbeitung wie auch als Vorbereitung von Suizidversuchen gelesen werden. Diese Interpretation hat jedoch auch Widerspruch hervorgerufen: Trotz aller biografischen Bezüge, trotz aller Direktheit des Stils ist Hand an sich legen gemäß der Améry-Forscherin Irene Heidelberger-Leonard nicht als „unmittelbares autobiografisches Dokument zu lesen“. Vielmehr handle es sich um „Selbststilisierung“ und „Konstruktion“.
  • Améry geht weiter als sein großes Vorbild Jean-Paul Sartre, indem er den Selbstmord als logische Konsequenz aus einem Übermaß an Lebensekel rechtfertigt. Sartre, bei aller Düsternis und allem Pessimismus seiner Philosophie, lehnte den Suizid ab.
  • Améry setzt sich auch ausdrücklich in Widerspruch zu Ludwig Wittgenstein, seinem österreichischen Landsmann, dessen Sprachskepsis seinerzeit großen Einfluss auf ihn ausübte, insofern Améry in Hand an sich legen darauf besteht, die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten.
  • Obwohl Améry sich immer wieder gegen eine Interpretation des Werks als Überredung zum Suizid verwahrte, läuft Hand an sich legen genau darauf hinaus, wenn er argumentiert, dass der Einzelne, im Leben stets gezwungen, sich über die letztendliche Sinnlosigkeit des Daseins zu belügen, erst im Augenblick „vor dem Absprung“ frei, wahrhaftig und authentisch werde.

Historischer Hintergrund

Der Suizid in der Geistesgeschichte

Die philosophische Auseinandersetzung mit dem Problem der Selbsttötung hat eine lange Geschichte. Platon etwa lässt seinen Sokrates im Kerker mit Gefolgsleuten über die Rechtmäßigkeit eines selbst gewählten Todes disputieren und kommt zu dem Schluss, der Einzelne gehöre den Göttern und dürfe keinesfalls selbst über seinen Tod bestimmen. Aristoteles sah im Suizid gar ein Verbrechen gegen den Staat. Die stoischen Philosophen hingegen nahmen eine billigende Haltung zum Freitod ein. Hiervon beeinflusst erhielt dieser in den römischen Moralvorstellungen eine oft ehrenvolle Bedeutung. Die katholische Kirche wiederum griff auf Platon und Aristoteles zurück, berief sich in ihrer Verdammung des Suizids zusätzlich auf Augustinus und später auf Thomas von Aquin, der den Suizid als dreifaches Vergehen gegen die Eigenliebe des Menschen, die Nächstenliebe und die Liebe Gottes sah. Selbstmördern wurde das kirchliche Begräbnis verwehrt, vielfach vollzog man an ihren Leichen eine Art nachträgliche Hinrichtung.

Erst während der Renaissance, mit Denkern wie Michel de Montaigne oder Thomas Morus, wurde eine Wende in Richtung Toleranz eingeleitet. Morus stellte Aristoteles’ Aussagen auf den Kopf: Er bezeichnete den Suizidanten als Wohltäter am Gemeinwesen, da sein Tod den Staat entlaste. Die Philosophen der Aufklärung waren uneins: Während etwa Immanuel Kants Pflichtethik den Suizidanten als Drückeberger verurteilte, wurde er von David Hume entlastet, indem dieser darauf verwies, dass, wie alle menschlichen Möglichkeiten, auch der Suizid, gottgegeben sei. Spätere Apologeten waren Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, wobei Letzterer den Freitod als heroischen Akt der Selbstermächtigung darstellte. Bis heute scheiden sich beim Thema Suizid die Geister; die moralische, religiöse und juristische Einordnung des Phänomens ist alles andere als abgeschlossen.

Entstehung

Bei Jean Améry sind Leben und Schreiben vielfach verknüpft. In Hand an sich legen hat er literarisch entwickelt, was er wenig später in die Tat umsetzte: seinen Freitod. Insofern fällt die Entstehungsgeschichte des Werks großenteils mit Amérys Lebensgeschichte zusammen, also mit den biografischen Ursachen jener Ausweglosigkeit, der Améry nicht anders als durch Selbsttötung entkommen zu können glaubte. Schon als Kind fand Améry, dass ein selbst gewählter Tod anderen, aufgezwungenen Todesarten vorzuziehen sei. In mehreren Werken taucht das Suizidthema auf, etwa in Die Eingemauerten oder in Die Selbstmörder. Und natürlich muss Über das Altern als direkter Vorläufer zu Hand an sich legen gesehen werden. Dieser Essay erschien 1968, in einem Jahr, in dem Améry schwere Depressionen zusetzten, die ihn einen Suizidversuch unternehmen ließen. Die Ursachen jener Depressionen: zunächst das Erlebnis der Folter durch die Nazis, dann die Verschleppung nach Auschwitz, seit 1949 wiederholt auftretende Herzanfälle sowie die Enttäuschung über den ausbleibenden Erfolg als Romancier. Auch litt er zunehmend darunter, auf seine Rolle als „Berufs-Auschwitzer“ festgelegt zu werden. Noch einen zweiten Suizidversuch 1974 überlebte er, doch die Reanimation nach 30-stündigem Koma empfand Améry als Vergewaltigung. Von hier rührt wohl die Heftigkeit, mit der er in Hand an sich legen die „Freiheit zum Freitod als unveräußerliches Menschenrecht“ einklagte.

Wirkungsgeschichte

Die Essaysammlung Hand an sich legen erschien 1976. Kurz vorher wurde sie im Süddeutschen Rundfunk als fünfteiliger Radioessay gesendet. Mit Jenseits von Schuld und Sühne hatte sich Améry längst als zentrale moralische Instanz im bundesdeutschen Diskurs über die Aufarbeitung des Holocaust etabliert. Auch seinen Rang als philosophischer Denker hatte er mit existenzialistischen Betrachtungen wie Über das Altern unter Beweis gestellt. Entsprechend groß war das Interesse an Amérys neustem Werk. Binnen sechs Wochen ging Hand an sich legen 9000 Mal über den Ladentisch. Eine intensive öffentliche Diskussion folgte, ausgetragen zumeist im Feuilleton. Besonders Amérys These, im Suizid erreiche das Individuum ein Höchstmaß an Wirklichkeit, erregte die Gemüter. Kritiker warfen dem Werk Einseitigkeit und Subjektivismus vor, sprachen ihm jede Allgemeingültigkeit ab; andere, wie etwa Gabriele Wohlmann im Spiegel, verwahrten sich beinahe wütend gegen den pessimistischen Weltentwurf Amérys. Selbst wohlmeinende Rezensenten hatten einiges auszusetzen. So monierte der Schriftsteller Günter Kunert in der Frankfurter Rundschau Amérys unterschiedslose Verurteilung der positiven Wissenschaften. Strittig war auch die Frage, ob Hand an sich legen seinem Wesen nach ein aufklärerisches, emanzipatorisches Werk sei oder doch eher einer Romantisierung und Mythisierung des Themas Vorschub leiste. So oder so wurde Amérys persönlichstes Buch auch sein erfolgreichstes. Bis heute ist es in 14 Auflagen erschienen. Aufgrund seiner Radikalität und Originalität wurde es zum Klassiker der „Suizidologie“.

Über den Autor

Jean Améry wird am 31. Oktober 1912 als Hans Chaim Mayer in Wien geboren. Sein Vater stirbt 1917. Die zarte Gesundheit des Jungen macht einen Umzug aufs Land nötig. Die Mutter pachtet ein Wirtshaus in Bad Ischl, Hans besucht das Gymnasium, das er aber nach anderthalb Jahren wieder verlässt. 1926 zieht er mit der Mutter zurück nach Wien. Hier vervollständigt er seine Bildung auf eigene Faust und schreibt nebenbei Prosa und Lyrik. An der Volkshochschule, damals ein intellektueller Hotspot, besucht er u. a. Vorlesungen von Elias Canetti und Robert Musil. 1938 flieht er vor den Nazis nach Belgien, das 1940 von deutschen Truppen besetzt wird. Mayer schließt sich dem Widerstand an, wird 1943 verhaftet und gefoltert und schließlich im KZ Auschwitz-Monowitz interniert. Nach Kriegsende kehrt er nach Brüssel zurück. Als Brotberuf wählt er den Journalismus und erweist sich hier als überaus produktiv. Verschiedene Arbeiten erscheinen in Buchform, etwa sein viel gelesenes Karrieren und Köpfe (1955). Doch als eigentliches Thema tritt bald die Zerrissenheit zwischen seiner Rolle als Jude und Holocaustopfer und derjenigen des auf ein deutsches Publikum zielenden Schriftstellers hervor. Diesen Zwiespalt verarbeitet Mayer, der sich jetzt Jean Améry nennt, während der 60er und 70er Jahre in zahlreichen Essays. Er erhebt seine Stimme gegen die kollektive Verdrängung der Nazigräuel und wird bald zur Gallionsfigur der Aufarbeitungsdebatte, die zum Leitmotiv des deutschen Geisteslebens werden soll. Alfred Andersch bezeichnet die Essaysammlung Jenseits von Schuld und Sühne (1966) als „eines der Grunddokumente unserer Zeit“. Doch alle Anerkennung (u. a. der Deutsche Kritikerpreis 1970, der Preis der Stadt Wien für Publizistik 1977) vermag nichts gegen die Wunden, die durch Verfolgung, Folter und KZ in Amérys Seele entstanden sind. Am 17. Oktober 1978 nimmt er sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.

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    A. vor 1 Jahrzehnt
    Als Thomas Bernhard im ersten Teil seiner Autobiographie (Die Ursache. Eine Andeutung) Salzburg als Selbstmörderstadt abstempelte, widersprach ihm Jean Améry: Salzburg sei keine blosse Selbstmörderstadt, Salzburg hätte noch wesentlich mehr zu bieten! Zwei Wochen später brachte sich Jean Améry um – in Salzburg.

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