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Vita activa

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Vita activa

oder Vom tätigen Leben

Piper,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Demokratie lebt vom Mitmachen – doch die Verherrlichung von Arbeit und Konsum steht dem entgegen.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Verherrlichung der Arbeit

Was tun wir eigentlich, wenn wir tätig sind? Wie kommt es, dass Arbeit – in der Antike noch verachtet und bevorzugt Sklaven überlassen – in unserer modernen Gesellschaft zur höchsten Tätigkeit aufsteigen konnte? Das sind die Fragen, die im Mittelpunkt von Hannah Arendts 1958 erschienenem Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben stehen. Arendt kritisiert die neuzeitliche Tendenz, Arbeit zu verherrlichen, politisches Handeln dagegen als sinnlos und überflüssig zu betrachten. Die Konsequenz einer solchen Haltung ist, dass der Mensch nicht mehr in seiner Welt beheimatet ist, der technischen Entwicklung nicht folgen kann und sich willenlos in den ewigen Kreislauf von Arbeiten und Konsumieren einfügt. Doch Arendt zeichnet die Situation nicht als ausweglos. Im gemeinsamen, öffentlichen Handeln erkennt sie die Chance des Menschen, seine Entfremdung von der Welt zu überwinden. Statt sich in private Hobbys oder Konsum zu flüchten, müsse er politisch aktiv werden und immer wieder einen Neuanfang setzen. Mitunter wirkt das Buch wie elitäre Kulturkritik. Doch Arendts scharfe Analyse der „Jobholdergesellschaft“, in der das Individuum funktionieren muss, um sich zu erhalten, ist bis heute hochaktuell.

Take-aways

  • Vita activa oder Vom tätigen Leben ist das philosophische Hauptwerk der Philosophin und Politologin Hannah Arendt.
  • Inhalt: Wurde Arbeit in der Antike noch gering geschätzt, so hat sie sich in der Neuzeit zur höchsten Tätigkeit entwickelt. Politisches Handeln dagegen hat an Bedeutung verloren. Wenn die Menschen ihre Funktionsorientierung und ihre Weltentfremdung überwinden wollen, müssen sie gemeinsam politisch aktiv werden.
  • Arendt folgt Aristoteles und seinem Ideal der antiken Polis mit ihrer Pluralität und der Kommunikation freier Bürger im öffentlichen Raum.
  • Der bürgerlichen Gesellschaft der Neuzeit wie auch dem Marxismus wirft sie eine Verherrlichung der Arbeit und eine Abwertung des Politischen vor.
  • In ihrer Kritik an der modernen Massen- und Konsumgesellschaft folgt Arendt ihrem Lehrer Martin Heidegger.
  • Entgegen dessen Vorstellung vom isolierten Denken als einzig wahrhaftiger Existenz betont sie aber das Miteinandersprechen und -handeln der Menschen.
  • Vita activa ist unter dem Eindruck des Kalten Krieges und der Bedrohung durch die Atombombe geschrieben.
  • Hannah Arendts Stil ist nüchtern, klar und direkt, die Sätze sind aber oft lang und verschlungen.
  • Ihr Begriff der Vita activa spielte in der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung eine Rolle.
  • Zitat: „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“

Zusammenfassung

Die Zerstörung des öffentlichen und des privaten Raums

Zur Zeit des Sokrates und des antiken Stadtstaates hatte der Begriff der Vita activa noch eine politische Bedeutung. Bereits Platon und Aristoteles, besonders aber das christliche Mittelalter mit seinem Glauben an ein Leben nach dem Tod, werteten Tätigkeiten jeder Art, auch politisches Handeln und Denken, gegenüber Ruhe und einer kontemplativen Lebensweise ab. Das in antiken Religionen verankerte Streben nach Unsterblichkeit durch herausragende Leistungen galt im christlichen Denken als eitel und überflüssig. Politisch aktiv zu sein, bedeutete in der antiken Polis: reden und handeln. Alles Politische wurde mit Worten geregelt, nicht mit Zwang und Gewalt. Der Bereich des Politischen, in dem die Bürger frei und gleich waren, war von demjenigen des Familienhaushalts streng geschieden, wo die Notwendigkeit, das Überleben zu sichern, Gewalt und Zwangsherrschaft durch das Familienoberhaupt rechtfertigte. Die Polis beruhte auf Freiheit und Pluralität der Bürger, der Haushalt auf Unterordnung.

„Die Menschen, die Welt, die Erde und das All – davon ist in diesem Buch ausdrücklich nicht die Rede.“ (S. 7)

In der Neuzeit verschwand die Kluft zwischen Polis und Haushalt, zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Mit der Ausbreitung des Christentums und dessen Abwertung von allem Weltlichen und damit allem Politischen starb der öffentliche Raum ab, der in der Antike dem Einzelnen – durch die Einbettung in überindividuelle Zusammenhänge – eine Art Schutz vor der Vergänglichkeit alles Irdischen gewährt hatte. Dafür entstand der Raum des Gesellschaftlichen, in dem sich die Sphären der Familie und der Politik vermischten. Das Regieren wurde als ein Haushalten über eine ganze Nation verstanden; an die Stelle einer von Personen ausgeübten Herrschaft trat eine unpersönliche Verwaltungsbürokratie. Unsterblicher Ruhm, in der Antike der Antrieb für politische Aktivität, wurde durch Geld und flüchtige öffentliche Anerkennung ersetzt.

„Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind.“ (S. 11)

Den Gegensatz zu diesem gesellschaftlichen Bereich, in dem – wie einst in der Familie – ein Zwang zum Konformismus herrschte, bildete nun das Private. Die moderne Massengesellschaft hat aber nicht nur den öffentlichen, sondern nach und nach auch den einstmals dunklen, verborgenen privaten Raum absorbiert. Dieser Prozess setzte historisch mit der Enteignung der unteren Klassen und der Akkumulation des Kapitals in den Händen der Besitzenden ein. Die Bürger kümmerten sich nur noch um die Vermehrung ihres Besitzes und delegierten die Regierungsarbeit an den Monarchen, der die Interessen der besitzenden Klassen und die Entwicklung einer freien Wirtschaft gewährleistete. Nach der Zerstörung des Privatraums flüchtete sich der moderne Mensch in die Intimität und Subjektivität seines Inneren.

Die moderne Gesellschaft als Arbeits- und Konsumgesellschaft

Die klassische Antike verachtete jede Form von Arbeit, die der nackten Notwendigkeit des Lebensunterhalts entsprang, und überließ sie bevorzugt den Sklaven. Politik als eine Tätigkeit freier Männer, die nicht allein dem privaten Fortkommen, sondern dem Gemeinwesen diente, war dagegen hoch angesehen. Das Christentum, das die Kontemplation über das Tätigsein stellte, machte später keinen Unterschied mehr zwischen Arbeit und politischer Aktivität – beides galt als weltlich und somit als eines wahren Christenmenschen unwürdig. In der Neuzeit dagegen setzte mit John Locke und Adam Smith die Verherrlichung der Arbeit als Quelle allen Eigentums und als einzig ernst zu nehmende Tätigkeit ein. Der Staat galt ihnen nur noch als notwendiges Übel; Ziel und Zweck der menschlichen Tätigkeit war allein wachsender Wohlstand für möglichst viele Menschen. Karl Marx, der Arbeit als Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur betrachtete, in dem sich die Gattung Mensch erst selbst erzeugt, definierte den Menschen gar als „Animal laborans“. Die Arbeiterklasse wurde zwar vom Joch der Ausbeutung befreit, aber dafür vollständig der Notwendigkeit zur Arbeit unterworfen. Was nicht dem Lebensunterhalt diente, wurde zum privaten Hobby – das Engagement für das Gemeinwesen starb aus.

„Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“ (S. 13)

Nur als Jobinhaber hat der moderne Mensch teil am ewigen Kreislauf der Natur. Er erschöpft und erholt sich, müht sich ab und konsumiert, wechselt zwischen Unlust und Lust. Gerät dieser Kreislauf zwischen Erzeugen und Konsumieren, zwischen Mühsal und Genuss des Verzehrens aus dem Takt, wird also beispielsweise Erschöpfung zum Dauerzustand oder erfährt der Mensch Langeweile durch Überfluss, so verliert er seine Vitalität. Denn nur wer Mühe und Last des Lebens auf sich nimmt, bleibt lebendig. Um nun die begrenzte Konsumkraft und die prinzipiell unbegrenzte Arbeitskraft in unserer modernen Wirtschaft in Einklang zu bringen, müssen wir immer mehr und immer schneller Dinge produzieren und verbrauchen. Gegenstände, die einst auf Dauer ausgerichtet waren, wie Häuser, Möbel, Autos, müssen so rasch wie möglich konsumiert werden und neuen Produkten Platz machen. An die Stelle von Haltbarkeit und Bestand, den Idealen des mittelalterlichen Handwerkers, der mit seinen Händen eine Welt aus Dingen um sich herum erschuf, ist in der modernen Massengesellschaft der Überfluss getreten – begleitet von einem allgemeinen Unbehagen.

Der Homo faber und das Animal laborans

Der vormoderne Mensch richtete sich die Welt mit dauerhaften Gegenständen ein, die seiner irdischen Heimat eine gewisse Stabilität verliehen und die über sein eigenes, begrenztes Leben hinaus existierten. Diese Dinge nutzten sich mit der Zeit durch Gebrauch zwar ab, sie wurden aber nicht verbraucht, also konsumiert. Im Unterschied zum modernen Menschen, der nur mechanisierte Arbeit verrichtet und im Takt der Maschinen endlos Konsumgüter produziert, war der mittelalterliche Homo faber mit dem Werkzeug in der Hand der Schöpfer seiner eigenen Vorstellungen und Herr seiner selbst. Das fertige Produkt, der Zweck und Nutzen seiner Tätigkeit, erfüllte ihn mit Stolz und Selbstbewusstsein. Anders als das Animal laborans kannte der Handwerker älteren Schlages auch einen öffentlich-weltlichen Raum, nämlich den Tauschmarkt, auf dem er seine Leistung zur Schau stellte. In der modernen Arbeitsgesellschaft, wo allein die eitle Zurschaustellung dessen, was man sich an Konsumgütern leisten kann, maßgeblich ist, verschwinden Wetteifer und Handwerkerstolz.

Handeln und Sprechen als Grundlage von Politik

Handeln und Sprechen übersteigen jedes Produzieren. Sprechend und handelnd zeigt sich jeder Mensch als einmaliges und unverwechselbares Individuum. Handeln und Sprechen bedürfen einer Mitwelt: Ohne Bezug zu anderen Menschen kann es nicht sinnvoll sein. Handeln und Sprechen finden in der Öffentlichkeit statt, ja stellen überhaupt erst einen öffentlichen, also politischen Raum her. Nur im menschlichen Zusammensein kann eine politische Organisationsform, die auf der Macht der vielen beruht, entstehen. Ohne dieses aufeinander bezogene Handeln und Sprechen der Menschen bliebe die schön und funktional gestaltete Welt ein Haufen isolierter Dinge. Und ohne die Gestaltung der Welt zu einem lebenswerten, Generationen überdauernden Ort bliebe alles Tun und Treiben der Menschen vergeblich und sinnlos.

„Mit dem Wort Vita activa sollen im Folgenden drei menschliche Grundtätigkeiten zusammengefasst werden: Arbeiten, Herstellen und Handeln.“ (S. 16)

Schon bei Platon findet sich die Vorstellung, ein Regent müsse, ähnlich einem Handwerker, kunstvollen Regeln und Maßstäben folgen, die jede persönliche Autorität überflüssig machten. Erst das spätere politische Denken versuchte, das Handeln und Sprechen der vielen, das als unproduktiv galt, durch das Herstellen zu ersetzen und damit letztlich eine demokratische Öffentlichkeit abzuschaffen. Die Monarchie in ihren verschiedenen Ausprägungen sollte die menschlichen Angelegenheiten sichern und die gesellschaftliche Produktivität steigern. Das aber bedeutete das Ende der Politik. Sie wurde zu einem Mittel degradiert, mit dem ein jenseits des Politischen gelegener, höherer Zweck erreicht werden sollte – sei es nun die Erlangung des Seelenheils im Mittelalter oder ungebremste Produktivität in der modernen Gesellschaft.

Die Veränderung des menschlichen Denkens

Mit der Entdeckung Amerikas, der Reformation und der Entdeckung des Teleskops, durch das unser geozentrisches Weltbild erschüttert wurde, begann die Neuzeit. Doch Martin Luther und Galileo Galilei waren noch der alten Tradition verhaftet. Erst mit Descartes setzte im 17. Jahrhundert die Moderne ein, die von einem vorher nicht gekannten „Pathos des Neuen“ getragen wurde und in der Französischen Revolution kulminierte. Durch Erfindungen wie die Eisenbahn und das Flugzeug ist die Erde geschrumpft, riesige Entfernungen lassen sich heute mühelos überwinden – allerdings um den Preis, dass der Mensch sich von seiner irdischen Heimat entfremdet hat. Er hat den Glauben an ein Jenseits verloren, er orientiert sich aber auch nicht am Diesseits, an der ihm gegebenen Welt. Vielmehr ist er auf sich zurückgeworfen und interessiert sich nur noch für sein Innenleben. Wir erleben heute die Ausbreitung der modernen Gesellschaft bis in den letzten Winkel unserer Erde.

„Die Massengesellschaft zeigt den Sieg der Gesellschaft überhaupt an; sie ist das Stadium, in dem es außerhalb der Gesellschaft stehende Gruppen schlechterdings nicht mehr gibt.“ (S. 52)

Wir leben in einer Welt, die von Wissenschaft und Technik beherrscht ist und in der wir sogar den Weltraum mit Gestirnen, den Satelliten, gestalten – was früher ein göttliches Vorrecht war. Im Laufe weniger Jahre erleben wir Veränderungen von einem Ausmaß, für die es früher vieler Jahrhunderte bedurft hätte. Der Mensch vermag heute mithilfe der Atomtechnologie die Erde zu vernichten, er strebt ins Weltall und versucht mittels künstlicher Reproduktionsverfahren Leben zu erzeugen. Er schafft sich seine Lebensbedingungen somit selbst. Doch das, was er durch neue technische Mittel und mathematische Formeln an Erkenntnis gewinnt, kann er gedanklich und sprachlich nicht mehr nachvollziehen. Wenn sich aber Erkennen und Denken in Zukunft weiter auseinanderentwickeln, droht die Gefahr, dass wir zu Sklaven unserer eigenen Erkenntnismöglichkeiten und der von uns ersonnenen Apparate werden.

„Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur noch in der Vielfalt ihrer Perspektiven.“ (S. 73)

Die Philosophie der Neuzeit begann mit Descartes’ radikalem Skeptizismus. Das alte Vertrauen des Menschen in seine Sinne und seine Vernunft, der Glaube an Wirklichkeit und Wahrheit begannen zu schwanken. Das Interesse richtete sich fortan auf das Innere des Menschen, auf sein Erkenntnisvermögen und sein Bewusstsein. Selbstreflexion trat an die Stelle von Gemeinsinn. Zugleich setzte sich die Vorstellung durch, dass der Mensch zwar nicht in der Lage ist, eine sich offenbarende göttliche Wahrheit zu erkennen, wohl aber das, was er selbst hervorgebracht hat. Das sorgte für den rasanten Aufschwung der modernen Wissenschaften, die ja ohne jede sinnlich wahrnehmbare Grundlage und allein durch mathematische Modelle Phänomene und Prozesse selbst konstruieren. Die traditionelle Rangordnung von Vita contemplativa und Vita activa, von Betrachten und Tun, von Theorie und Praxis wurde so auf den Kopf gestellt. Durch theoretische Betrachtungen gelangte man nämlich zur Notwendigkeit praktischer Beweise. Die Idee gewann Raum, dass sich Wahrheit nicht durch bloßes Betrachten und Zusehen, sondern nur durch Zugreifen, durch ein Selbst-in-die-Hand-Nehmen erschließt. Damit setzte sich ein wissenschaftlicher Wahrheitsbegriff durch, der mit dem alten, philosophischen nichts mehr gemein hat.

Der Siegeszug des Animal laborans

Die Umkehrung der Rangordnung von Vita contemplativa und Vita activa in der Neuzeit bedeutet nun nicht, dass das Handeln an die Stelle der einstmals hochgeschätzten, heute aber als sinnlos betrachteten Kontemplation getreten ist. Vielmehr hat sich innerhalb der Vita activa selbst die Hierarchie umgekehrt, und statt des einst hochgeschätzten politischen Handelns nimmt das für den Homo faber kennzeichnende Machen und Fabrizieren den ersten Platz ein. Produktivität und Kreativität sind die Ideale des neuzeitlichen Menschen. Überall regiert das Nützlichkeitsprinzip. In unserer modernen Zeit haben sich nach dem Siegeszug des Animal laborans die Produktionsprozesse zunehmend verselbstständigt. Der Maßstab ist nicht mehr Nützlichkeit, sondern das Wohlbefinden, das man im Produzieren und Konsumieren erfährt. Das Animal laborans verwechselt die Abwesenheit von Schmerz und Unlust mit Glück, das es nicht in einer Welt erfährt, die allen Menschen gemeinsam ist, sondern nur im Rückzug in sich selbst.

„Erst eine Gesellschaft von Arbeitern oder Jobinhabern wird sich für nichts anderes interessieren als für die drohende Knappheit oder den möglichen Überfluss dessen, was das Leben für sein Lebendigsein braucht.“ (S. 135)

Da wir die Realität der Außenwelt anzweifeln, bleibt uns nur noch die ständige Selbstreflexion. Derweil sind wir zerrissen zwischen unserem rationalen Verstand und irrationalen Gefühlen. Kontemplation gilt als überflüssig, Denken erscheint als eine reine Hirnfunktion, es wird von elektronischen Rechenmaschinen ohnehin besser und schneller erledigt. Wir leben in einer Gesellschaft von Jobinhabern, die ihre Individualität aufgeben und ihre Gefühle betäuben müssen, um zu funktionieren. Fatal wird es, wenn der Arbeitsgesellschaft einmal die Arbeit ausgehen wird. Das reine Denken, unter allen Tätigkeiten die Tätigkeit par excellence, bleibt wie eh und je nur wenigen vorbehalten.

Zum Text

Aufbau und Stil

Hannah Arendts Werk Vita activa, das aus Vorlesungen der damaligen Professorin am New Yorker Brooklyn College entstanden ist, gliedert sich in sechs große Kapitel, die ihrerseits in mehrere Unterkapitel unterteilt sind. Dabei überschneiden sich die einzelnen Themen und Epochen; es gibt keine chronologische Struktur: War die Autorin eben noch bei der antiken Polis, ist sie im nächsten Moment beim christlichen Mittelalter und einen Satz weiter im Atomzeitalter. Hannah Arendts Stil ist vernunftbetont und nüchtern, klar und direkt. Sie bevorzugt lange, verschlungene Sätze, häufig durchsetzt mit Zitaten von Philosophen wie Aristoteles, Locke, Platon oder Marx, deren Lehren sie jedoch eher flüchtig und auf einen Gedanken hin zuspitzend behandelt. Arendts Rückgriffe auf Geschichte und Mythologie, die stets dem Beweis ihrer Prämissen dienen, kreisen um wenige ausgewählte Ereignisse – Achilles’ Taten, Perikles’ Reden, Sokrates’ Hinrichtung –, ohne dass langfristige strukturgeschichtliche Entwicklungen, etwa die Entstehung wirtschaftlicher Systeme und Weltanschauungen, behandelt würden.

Interpretationsansätze

• Hannah Arendt sieht Freiheit als eine Grundbestimmung des Menschen, der man nur nachkommen kann, indem man sich sprechend miteinander austauscht und gemeinsam Handlungsstrategien entwirft. Ihr politisches Ideal ist die attische Polis mit ihrer Pluralität und der Kommunikation der freien Bürger im öffentlichen Raum. • Das Buch setzt sich mit dem Marxismus auseinander. An Marx kritisiert Arendt, er habe Arbeit, die in der Antike nur dem Lebensnotwendigen diente, mit handwerklicher Herstellung gleichgesetzt und so zu ihrer Verherrlichung beigetragen. Wie Marx verachtet Arendt die Bourgeoisie, sie sieht jedoch im Proletariat keine Alternative. • Arendt entwirft die Vorstellung eines meritokratischen Republikanismus, der Zugang zur Politik nicht aufgrund von Geburt, sondern allein durch aktive Teilhabe gewährt. Politik, so Arendt, sollte sich ausschließlich um das Politische, nicht um das Ökonomische und die soziale Frage kümmern. • In Vita activa setzt sich Arendt indirekt auch mit ihrem Lehrer Martin Heidegger und dessen Ideal einer Vita contemplativa, eines selbstvergessenen, isolierten Denkens, auseinander. Im Unterschied zu Heidegger unterstreicht Arendt das Zusammensein des Menschen mit anderen Menschen in der Welt. Hier wird der Einfluss ihres zweiten großen Lehrers Karl Jaspers deutlich, nach dessen Auffassung sich die menschliche Existenz erst in der Kommunikation mit anderen verwirklicht. • Bezug nehmend auf Heidegger stellt Arendt fest, dass die Welt dem Menschen fremd geworden sei, weil sie nur noch als Material für Produkte betrachtet werde. Der Begriff der Weltentfremdung bezeichnet bei ihr einerseits die Flucht des Menschen in Innerlichkeit und Selbstbespiegelung, andererseits aber auch seine Flucht von der Erde, wo er sich nicht mehr heimisch sieht, in den Weltraum. • Zentral bei Hannah Arendt ist der Begriff der Natalität, der „Gebürtlichkeit“, den sie in Abgrenzung von Heideggers Idee der Bedingtheit allen menschlichen Daseins durch die Sterblichkeit entwickelt. Entgegen Heideggers fatalistischem Konzept vom Sein als einer „Geworfenheit“ in die Welt betont sie die Vorstellung des Selbstentwurfs: Jeder Mensch setze durch seine Geburt einen Neuanfang gegen die bestehenden Verhältnisse. Sprechend und handelnd erlebe der Mensch eine Art zweite Geburt, indem er ohne jede Überlebensnotwendigkeit und Zweckausrichtung die Initiative ergreife und etwas Neues in Bewegung setze.

Historischer Hintergrund

Die Massen- und Konsumgesellschaft der 50er-Jahre

Die 1950er-Jahre waren von einer rasanten technologischen Entwicklung und einem fast utopischen Fortschrittsglauben, aber auch von Angst vor einem möglichen Atomkrieg zwischen den beiden Supermächten USA und UdSSR geprägt. Im Koreakrieg Anfang der 50er-Jahre erlebte der Kalte Krieg einen ersten Höhepunkt. Durch den Volksaufstand in Ungarn gegen die kommunistische Regierung und die sowjetische Besatzungsmacht im Jahr 1956 drohte eine weitere Eskalation des Konflikts. Als es der Sowjetunion 1957 gelang, mit dem Sputnik den ersten Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schießen, bedeutete das für den Westen einen Schock. Man sah darin den Beweis, dass die vermeintlich rückständige Sowjetunion den Amerikanern in technologischer Hinsicht ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen war und dass sie zudem im Besitz von Interkontinentalraketen war.

In einer Zeit politischer Tumulte und wachsender Unsicherheit boten materieller Wohlstand und Konsum ein Gefühl der Sicherheit. Nach der traumatischen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs orientierten sich weite Teile der amerikanischen Bevölkerung an konservativen, bürgerlichen Werten. Die Kleinfamilie und ein Eigenheim in den gleichförmigen Vorstädten, den „Suburbs“, gehörten zu den Lebenszielen vieler Menschen. Mit der zunehmenden Verbreitung von Autos, Telefonen und Fernsehgeräten hielt der technische Fortschritt Einzug in den Alltag der Amerikaner. Auch in Deutschland setzte nach den Verheerungen des Krieges ein rasanter wirtschaftlicher Aufschwung ein. Die Deutschen investierten fleißig in Gebrauchsgegenstände wie Autos, Möbel und elektronische Geräte. Die Jugend protestierte zwar gegen den Wohlstandsmief, allerdings keineswegs durch Konsumverzicht. Coca-Cola, Petticoat und Jeans verkörperten Freiheit und den ungezwungenen Lebensstil, den man mit Amerika verband.

Kritik an der modernen Konsum- und Massengesellschaft regte sich nicht erst in den 50er-Jahren, sondern hatte bereits eine längere Tradition, die bis zu Gustave Le Bon, José Ortega y Gasset oder Friedrich Nietzsche zurückreichte. 1927 hatte Martin Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit die bildungsbürgerliche Zivilisationskritik auf den Punkt gebracht. Er äußerte darin seine Verachtung der Massengesellschaft, die wesentliche Dinge wie Tod und Vergänglichkeit verdränge, sich selbst im Alltäglichen verliere und in einer uneigentlichen Welt der Entfremdung lebe.

Entstehung

Nach Abschluss ihres Buches Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft 1951, das sich mit dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus auseinandersetzte, plante Hannah Arendt ein Buch über die totalitären Elemente des Marxismus. Während sie es ablehnte, den Nationalsozialismus ideengeschichtlich zu untersuchen und ihn damit aufzuwerten, befand sie den Marxismus als ehrbaren Ansatz und die philosophische Auseinandersetzung damit als lohnenswert. Karl Marx für den Stalinismus in die Verantwortung zu nehmen, erschien ihr abwegig – eine in den damaligen USA heikle Position. Im Lauf ihrer Studien zu Marx’ Theorie der Arbeit stieß Arendt dann auf das weitere Themenfeld der Unterscheidung zwischen Vita activa und Vita contemplativa, die auf Aristoteles zurückgeht. Die ursprünglich geplante Untersuchung über Marx und seinen Arbeitsbegriff weitete sich zu einer komplexen Analyse der Vita activa aus.

Zugleich setzte sie sich mit der Philosophie ihres Lehrers Martin Heidegger auseinander, obgleich dessen Name im Buch an keiner Stelle fällt. Heideggers Rückzug in den unpolitischen Elfenbeinturm betrachtete Arendt nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und nach ihrem Exil in den USA als verfehlt. Arendt selbst, die nach 1933 vor allem praktisch, politisch und sozial gearbeitet hatte – in Paris bei jüdischen Hilfsorganisationen; als linke, zionistische Publizistin in den USA –, begriff sich stets als politische Theoretikerin. Als Vita activa erschien, schrieb Arendt in einem Brief an Heidegger, das Buch schulde ihm alles und sie müsste es ihm widmen, wäre zwischen ihnen alles normal verlaufen – womit sie auf seine vorübergehende Unterstützung des Nationalsozialismus anspielte. Das Werk wurde 1958 in Chicago unter dem Titel The Human Condition herausgegeben und erschien 1960 erstmals in deutscher Übersetzung unter dem Titel Vita activa oder Vom tätigen Leben.

Wirkungsgeschichte

Vita activa stieß auf geteilte Meinungen. Kritiker warfen Arendt vor, ihre scharfe Trennung zwischen einer politischen und einer privaten Sphäre sei in Zeiten einer engen Verflechtung von Staat und Gesellschaft überholt. Ihr prominentester Schüler, Richard Sennett, wandte sich gegen Arendts düstere Verfallsgeschichte des Kapitalismus und plädierte für Erneuerung – nicht aber durch politisches Handeln, sondern durch eine stärkere handwerkliche Orientierung des Menschen. Die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung berief sich auch auf Arendts Begriff der Vita activa im Sinne einer politischen Partizipation.

Über die Autorin

Hannah Arendt wird am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover geboren. Ihre Eltern sind assimilierte Juden. Nach dem Abitur studiert sie 1924 in Marburg Philosophie bei Martin Heidegger, mit dem sie eine Liebesbeziehung eingeht. Die Affäre zwischen dem 35-jähigen, verheirateten Professor und seiner 18-jährigen Studentin endet mit Arendts Umzug nach Heidelberg, wo sie 1928 bei Karl Jaspers mit einer Arbeit über den Liebesbegriff bei Augustinus promoviert wird. Ein Jahr später zieht sie nach Berlin und heiratet den Philosophen Günter Anders. Nach kurzer Inhaftierung 1933 flieht Hannah Arendt aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Paris. Dort arbeitet sie bei zionistischen Organisationen als Sozialarbeiterin. Sie entkommt nach mehrwöchiger Internierung dem südfranzösischen Lager Gurs und emigriert 1941 mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher – die erste Ehe wurde 1937 geschieden – und ihrer Mutter in die USA. In New York ist Arendt zunächst als Publizistin für die deutschjüdische Wochenzeitschrift Aufbau tätig. Nach einem Zwischenspiel als Lektorin im jüdischen Schocken-Verlag wird sie 1948 Direktorin der Jewish Cultural Reconstruction Corporation, einer Organisation zur Rettung jüdischen Kulturguts. Mit ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (The Origins of Totalitarianism, 1951), das die strukturelle Ähnlichkeit von Faschismus und Stalinismus untersucht, festigt sie ihren Ruf als herausragende Politikwissenschaftlerin. 1953 erhält Arendt, inzwischen amerikanische Staatsbürgerin, eine Professur am Brooklyn College in New York. 1958 erscheint ihr philosophisches Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben (The Human Condition). Als Reporterin für den New Yorker beobachtet sie 1961 in Jerusalem den Prozess gegen den Naziverbrecher Adolf Eichmann. Aus ihren Reportagen geht das Buch Eichmann in Jerusalem (1963) hervor, das kontrovers diskutiert wird. In den folgenden Jahren ist Arendt vor allem essayistisch tätig und erhält viele Preise, darunter 1967 den renommierten Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Hannah Arendt stirbt am 4. Dezember 1975 in New York an einem Herzinfarkt.

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