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Sonnenfinsternis

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Sonnenfinsternis

Elsinor,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Wenn der Zweck alle Mittel heiligt, wird es dunkel im Land.

Literatur­klassiker

  • Politischer Roman
  • Moderne

Worum es geht

Das antikommunistische Manifest

„Ich komme mir vor wie eine Figur in dem Roman Sonnenfinsternis“, klagte US-Präsident Bill Clinton zu Beginn der Lewinsky-Affäre 1998: Er fühle sich einer tyrannischen Macht ausgeliefert, die eine Lüge über ihn erfinde. Natürlich hinkte der Vergleich gewaltig: Der Protagonist in Arthur Koestlers Meisterwerk gesteht am Ende Verbrechen, die er nicht begangen hat, während Clinton leugnete, was er getan hatte. Schuldig waren beide auf ihre Art, doch Clintons scheinheilige Bemerkung macht deutlich: Die 1940 veröffentlichte Abrechnung mit dem Stalinismus ist sinnbildlich für totalitären Machtmissbrauch geworden. Und sie bleibt gerade in vermeintlich ruhigen Zeiten relevant: Der Exkommunist Koestler warnte schon vor den Gefahren des Terrors, als die europäische Linke von Sartre bis Brecht Stalin noch als Friedensengel verherrlichte. Neutralismus war für Koestler „die raffinierteste Form des intellektuellen Betrugs“ – eine Position, die heute genauso aufrüttelt wie damals.

Take-aways

  • Sonnenfinsternis machte Arthur Koestler 1940 zum umstrittensten Intellektuellen seiner Zeit.
  • Inhalt: Der ehemalige Volkskommissar Rubaschow wird eines Morgens verhaftet und in eine Einzelzelle gesperrt. Hier setzt er sich mit Fragen der politischen Moral und der individuellen Schuld auseinander. Der Zweck des Kommunismus, findet er, darf nicht alle Mittel heiligen. Seine Skepsis den neuen Parteiführern gegenüber hält ihn aber nicht davon ab, absurde Verbrechen zuzugeben, die ihm diese vorwerfen. Schließlich wird er erschossen.
  • Arthur Koestler war 1938 aus der kommunistischen Partei ausgetreten, bevor er den allegorischen Roman über die stalinistischen Schauprozesse zu schreiben begann.
  • Mit seiner „Rubaschow-Theorie der Geständnisse“ versuchte er, das Verhalten einiger Angeklagter zu erklären.
  • Koestler hatte der Partei jahrelang als Propagandist gedient und kannte einige Gefängnisse von innen.
  • Rubaschow ist in dem Roman zugleich Opfer und Täter, sein Schicksal die logische Konsequenz der eigenen Verbrechen.
  • Koestler beschreibt einen Kommunismus, der den konkreten Menschen einer abstrakten Menschheit opfert.
  • Der beklemmende Stil des Romans macht den stalinistischen Terror eindringlich erlebbar.
  • Die französischen Kommunisten kauften 1946 aus Protest alle Exemplare des Romans auf und vernichteten sie – was nur für neue Auflagerekorde sorgte.
  • Zitat: „Wer Unrecht hat, muss bezahlen; wer Recht behält, wird freigesprochen. Dies ist das Gesetz des historischen Kredits; dies war unser Gesetz.“

Zusammenfassung

Der Albtraum ohne Erwachen

Als die Beamten gegen Rubaschows Wohnungstür hämmern, um ihn festzunehmen, träumt er gerade den wiederkehrenden Albtraum von seiner Verhaftung im Feindesland. Doch anders als sonst bringt das Erwachen keine Erleichterung. Aus dem Traum ist Wirklichkeit geworden. In einem brandneuen amerikanischen Wagen fährt er über holprige Lehmwege an Holzbarackensiedlungen vorbei zum Gefängnis, wo er in eine Einzelzelle gesperrt wird. Nach unzähligen Genossen vor ihm muss nun auch er, ehemaliger Volkskommissar und siegreicher Partisanenführer im Bürgerkrieg, daran glauben. Nummer Eins wird nicht ruhen, bis die alte Garde ausgelöscht ist. Rubaschow beginnt, mit seinem Zellennachbarn No. 402 per Klopfalphabet zu kommunizieren. Der Mann – ein offenbar sexuell ausgehungerter Monarchist – möchte von ihm die Details seines letzten Zusammenseins mit einer Frau erfahren. Rubaschow versucht sich im Offiziersjargon und klopft erst „Brüste wie Äpfelchen“, dann „Schenkel wie eine wilde Stute“. Sein Nachbar scheint rasend vor Lust und verlangt per Klopfzeichen nach mehr.

Als Unbarmherzigkeit Prinzip wurde

Die erotische Unterhaltung erinnert Rubaschow an eines seiner Opfer, den deutschen Genossen Richard. 1933 hatte er sich mit ihm in einer Gemäldegalerie verabredet, in der Bilder flämischer Meister ausgestellt waren. Richards Frau war am Abend zuvor verhaftet worden, die Bewegung lag am Boden. Während der kränklich und gehetzt wirkende Mann Bericht erstattete, schaute Rubaschow auf die zum Himmel gestreckten Hände der Jungfrau Maria in einer Pietà-Darstellung. Dann stellte er Richard wegen der Verbreitung unautorisierter Flugblätter zur Rede, Pamphlete, die Panik erzeugt und die Bewegung geschwächt hätten. Richards Verteidigung, dass niemand die offiziellen Weiter-so-Parolen der Partei mehr ernst genommen habe, ließ Rubaschow nicht gelten. Bei seiner Abreise flehte der junge Mann ein letztes Mal, ihn nicht aus der Partei auszuschließen. Der Taxifahrer hörte das letzte Wort „Genosse“, gab sich als Parteigänger zu erkennen und bot Rubaschow an, Richard zu helfen. Im Zug träumte Rubaschow davon, dass Richard und der Taxifahrer ihn verfolgten, weil er sie um ihr Fahrgeld betrogen hatte. Eine Woche darauf wurde Rubaschow in Deutschland verhaftet.

„Er war jetzt endlich völlig wach – aber das Hämmern an seiner Tür hielt an.“ (über Rubaschow, S. 10)

Vom Zellenfenster aus sieht Rubaschow im Gefängnishof einen Mann mit Hasenscharte, der ständig zu ihm hinaufblickt. Auf die Frage, wer das sei, klopft No. 402: „Ein Politischer.“ Und fügt hinzu: Hasenscharte sei am Vortag gefoltert worden und lasse Rubaschow grüßen. Diesen quälen Zahnschmerzen. Er ahnt, dass er für seine Taten bezahlen wird.

Der gewohnte Gang wird zum Verhängnis

Im deutschen Zuchthaus hatte man Rubaschow trotz Folterungen nichts nachweisen können, und er war unter dem Jubel der Massen in seine Heimat zurückgekehrt. Die Hälfte seiner Kameraden war damals bereits ausgeschaltet worden, überall ging die Angst um. Rubaschow bat Nummer Eins um eine neue Auslandsmission. Kurz darauf reiste er in eine belgische Hafenstadt, wo er vom kleinen Löwy, dem Leiter der Dockarbeitersektion der Partei, freundlich empfangen wurde. Was dieser nicht wusste: Der Wirtschaftsboykott gegen das „Land der Diktatur“, den die Hafenarbeiter begeistert unterstützt hatten, war abgesagt worden. Denn nun wollte das „Land der Revolution“ Treibstoff für den Afrikakrieg des „südlichen Diktaturstaats“ exportieren. Der Tanker war bereits unterwegs, und Rubaschow musste die Hafensektion davon überzeugen, die Fracht zu löschen. Seine Argumente klangen vernünftig: Wenn sie den Treibstoff nicht lieferten, täten es andere – und würden so der Bewegung noch größeren Schaden zufügen. Vergeblich. Die Genossen widersetzten sich. Alles ging seinen gewohnten Gang: Parteiausschluss und Denunziation Löwys als Agent Provocateur, schließlich dessen Selbstmord durch Erhängen.

Das erste Verhör: der falsche Kuhhandel

Nach mehrtätiger Haft wird Rubaschow dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Hinter dem Schreibtisch sitzt sein Studienfreund und späterer Bataillonskommandeur Iwanoff, dem er einst das Leben gerettet hat. Rubaschow glaubt nicht an dessen Beteuerungen, ihm helfen zu wollen, und lässt seinem Unmut über den Verrat an der Revolution freien Lauf. Sein Gegenüber hört ruhig zu und fragt ihn dann, seit wann er der organisierten Opposition angehöre. Die Antwort darauf kenne Iwanoff genauso gut wie er, entgegnet Rubaschow schroff. Dann hält dieser ihm die Loyalitätserklärungen an die Partei und das Schicksal verratener Genossen unter die Nase. Wozu das alles, wenn es Rubaschow nur darum gegangen sei, den eigenen Kopf zu retten? Wäre es nicht die logische revolutionäre Konsequenz gewesen, den Überzeugungen auch Taten folgen zu lassen? Iwanoff möchte ihn dazu bringen, kleinere Vergehen zu gestehen, damit er ihn dann vom gröbsten Anklagepunkt des geplanten Attentats auf Nummer Eins freisprechen kann. Er gewährt 14 Tage Bedenkzeit.

Den Schmerzen ausgeliefert

Begleitet von Tagträumen und Zahnschmerzen meldet sich nun immer lauter eine innere Stimme Rubaschows, die all die Jahre geschwiegen hat. So ist es auch mit seinen Erinnerungen an die Beziehung zur dicken Arlowa, seiner Privatsekretärin in der Handelsvertretung, in der er nach der Geschichte mit Löwy als Chefdiplomat arbeitete. Arlowa hatte eine ruhige, schläfrige Art, und ihr träger Körper strömte einen schwesterlichen Wohlgeruch aus. Sie siezten sich auch dann noch, als sie jede Nacht miteinander verbrachten. Zu Beginn der zweiten großen Prozesswelle in der Heimat bekam es das Botschaftspersonal sichtlich mit der Angst zu tun. Man ernannte Arlowa zur Bibliothekarin, die oppositionelle Schriften beseitigen und die „richtigen“ Bücher in die Regale stellen sollte – um ihr dann Untätigkeit vorzuwerfen. Arlowa wartete stumm darauf, dass Rubaschow sie entlastete. Er tat es nicht, und seine Geliebte wurde nach Moskau zurückgerufen. Ihr Name wurde nie wieder erwähnt.

Die Realität holt jeden Gefangenen ein

Ein neuer Nachbar in Zelle No. 406 klopft immer wieder das gleiche Revolutionslied gegen die Zellenwand. Genosse Rip van Winkle, wie No. 402 ihn nennt, habe die vergangenen 20 Jahre in einem Gefängnis seiner südosteuropäischen Heimat verbracht und sei nach seiner Freilassung schnurstracks in die Heimat der Revolution gereist – um dort unverzüglich eingesperrt zu werden. Auf einem Ausgang im Gefängnishof steckt Rip Rubaschow einen Zettel zu mit einer von ihm gezeichneten exakten geografischen Landkarte des revolutionären Vaterlandes. Er erklärt, man habe ihn in den falschen Zug gesetzt. Ob Rubaschow dasselbe passiert sei? Jedenfalls dürfe man die Hoffnung nicht verlieren – irgendwann kämen sie vielleicht doch noch dorthin.

„Der heiße, atmende Leib der Partei erschien ihm von Geschwüren überzogen, eiternden Geschwüren, blutenden Stigmen, aus denen die rostigen Nägel hervorragten.“ (über Rubaschow, S. 51)

Drei Tage vor Ablauf der Frist herrscht eine unnatürliche Stille im Gefängnistrakt. No. 402 gibt per Klopfzeichen die Informationen durch: Politischer Prozess, Urteil wird verlesen, der Angeklagte schreit um Hilfe. Rubaschow fragt nach dem Namen. Die Antwort: Bogrow. Sein tapferer Freund, Träger des ersten revolutionären Ordens, Kommandeur der östlichen Kriegsflotte. Auf ein Signal hin trommeln alle Gefangenen gegen ihre Zellentüren. Bogrow wird vor Schmerzen wimmernd, steif wie eine Wachspuppe, an seiner Zelle vorbeigeschleift. Am Ende des Korridors brüllt er zweimal Rubaschows Namen. Dann ist alles still.

Das zweite Verhör: der letzte Widerstand

Iwanoff besucht Rubaschow mit Kognak und Zigaretten in der Zelle. Rubaschow begrüßt ihn feindselig, überzeugt, dass der andere die Szene mit Bogrow inszeniert hat, um ihn mürbe zu machen. Doch Iwanoff schiebt die Schuld auf den Kollegen Gletkin, der sich von Anfang an für eine härtere Gangart gegen Rubaschow ausgesprochen habe. Er selbst, Iwanoff, wolle ihn nicht zermürben, sondern von der logischen Notwendigkeit der Kapitulation überzeugen. Seiner Ansicht nach hat die Geschichte kein Gewissen, der Zweck heiligt jedes Mittel, und das Individuum muss sich dem Kollektivziel unterordnen. Rein theoretisch stimmt Rubaschow ihm zu. Doch er rechnet auch die Folgen dieser Ethik vor: 5 Millionen verhungerte Bauern, um das Land gerechter zu verteilen, 10 Millionen Zwangsarbeiter, um die Ketten der Lohnarbeit zu sprengen, und eine um ein Viertel kürzere Lebensdauer der Menschen, um das Leben der künftigen Generationen zu verlängern. Diese „Vivisektionsmoral“ habe einer ganzen Generation die Haut vom Leib gerissen. Iwanoff ergänzt unbeirrt: Damit man ihr eine neue annähe.

Das dritte Verhör: die neue Garde

Rubaschow schreibt in sein Tagebuch, der Oppositionelle habe neben einer Palastrevolution und dem einsamen Märtyrertod noch eine dritte Möglichkeit, nämlich seine Überzeugung zu leugnen, um der Partei weiter nützlich zu sein. Dann teilt er dem entsetzten No. 402 mit, dass er kapitulieren werde. Sein in der Haft verfasstes Manuskript schickt er mit einer entsprechenden Erklärung an den Staatsanwalt. Nach tagelanger zermürbender Wartezeit wird er nicht Iwanoff, sondern Gletkin vorgeführt. Es ist mitten in der Nacht. Das grelle Licht einer Metalllampe hinter Gletkins Rücken brennt in Rubaschows Augen. Es dämmert ihm, dass er es mit der neuen Revolutionsgarde zu tun hat. Monoton wie ein Mensch, der erst als Erwachsener lesen gelernt hat, liest Gletkin die Anklageschrift vor. Die darin aufgelisteten Verbrechen sind absurd. Rubaschow will nur gestehen, dass er eine objektiv schädliche Gesinnung verfolgt, diese aber nicht in Taten umgesetzt habe. Vergeblich. Gletkin verwickelt ihn in Widersprüche und entlarvt ihn als Opportunisten, der Unschuldige wie die Arlowa ans Messer lieferte.

„Es gab kein ,Ich‘ außerhalb des ,Wir‘ der Partei; das Individuum war nichts, die Partei alles; der Ast, der sich vom Baume brach, musste verdorren.“ (S. 70)

Dann wird ihm Hasenscharte, dessen Verletzung an der Oberlippe vom Foltern herrührt, als Zeuge für das geplante Attentat gegen Nummer Eins vorgeführt. Nur mit großer Mühe erkennt Rubaschow in dem blassen Häufchen Elend den Sohn des befreundeten Professors Kieffer. Rubaschow hatte sich früher einmal während eines Gesprächs mit diesem abschätzig über Nummer Eins geäußert. War es möglich, dass der junge Mann dies als Anstiftung zum Mord missverstanden hat? Zerschlagen vor Müdigkeit unterschreibt Rubaschow das Geständnis.

Gedemütigt als Opferlamm und Sündenbock

Nach nur einer Stunde Schlaf wird Rubaschow wieder zum Verhör geführt. Ein dichter Nebelschleier legt sich über seine Erinnerung, er ist unfähig, Tag und Nacht voneinander zu unterscheiden. Jeder Gang zur Toilette wird zu einem Akt der Demütigung, und einmal fällt er ohnmächtig vom Stuhl. Vereinzelt reicht die Kraft noch zur Gegenwehr, und er versucht, seinem Peiniger etwas entgegenzuhalten: Warum die Partei für alle Schwierigkeiten im Land Sündenböcke erfinden und liquidieren müsse, wenn die wahren Ursachen doch allen bekannt seien? Weil die Menschheit einfache Antworten brauche und nur wahr sei, was ihr nütze, entgegnet Gletkin. Dann bemerkt er beiläufig, Iwanoff sei in der Nacht zuvor erschossen worden. Schließlich fragt Gletkin nach den Motiven für die Verbrechen. Rubaschow reagiert gereizt, Gletkin kenne sie nur zu gut. Doch diesen interessieren keine subjektiven Gründe. Für ihn ist das Land die Bastei der Revolution – alles, was zur Erhaltung der Festung beitrage, sei richtig. Um der Partei einen letzten Dienst zu erweisen und keine Sympathie zu erwecken, müsse Rubaschow sich öffentlich im Dreck wälzen und niedrigste Motive gestehen. Gletkins einziges Versprechen: Irgendwann einmal, nach dem Endsieg, werde die Menschheit die Wahrheit über dieses Schauspiel erfahren.

„Die Massen sind wieder stumm und taub geworden, das große schweigende X der Geschichte, gleichgültig wie das Meer, das die Schiffe trägt.“ (Rubaschow zu Iwanoff, S. 73)

Vera, die Tochter des Portiers Wassilij, der unter Rubaschow als Partisan gekämpft hat und ihn noch immer verehrt, liest ihrem Vater voller Schadenfreude den Prozessbericht aus der Zeitung vor: Das provozierende und schamlose Benehmen Rubaschows habe im Publikum einen Sturm der Entrüstung losgelöst. Wassilij murmelt halblaut Bibelverse und gibt kaum Widerworte. Vera hat es darauf abgesehen, mit ihrem Verlobten in die Portiersloge einzuziehen, und da ist ihr der alte Vater im Weg. Er fürchtet das Schlimmste.

Die grammatikalische Fiktion: Ich

Rubaschow verbringt seine letzten Stunden allein in der Zelle und klopft zum ersten Mal das Wörtchen „Ich“, jene „grammatikalische Fiktion“, die er getreu der Parteivorgabe bislang vermieden hat. All die Jahre hat er den Menschen in der ersten Person Einzahl negiert und geglaubt, damit der Menschheit zu dienen. Doch die Rechnung ging nicht auf. Das Individuum ist mehr als die Masse von einer Million dividiert durch eine Million. Was ihm bleibt, ist die Hoffnung, dass in ferner Zukunft eine neue Rechenart auf der Basis der Multiplikation entstehen und eine Million Individuen zu einer neuen Einheit verschmelzen werden. No. 402 versucht, ihn zu trösten, kurz bevor er abgeholt wird: Er selbst habe noch 6530 Nächte ohne Frauen vor sich – das sei schlimmer als der Tod. Rubaschow wird in den Keller hinuntergeführt, wo sich ein langer Korridor vor ihm auftut. Hinter ihm läuft der Uniformierte mit dem Revolver. Ein Schuss, dann ein zweiter, und es wird still um ihn. Er fühlt, wie ihn eine Welle auf das unendliche Meer hinausträgt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Sonnenfinsternis ist in vier Teile gegliedert: „Das erste Verhör“, „Das zweite Verhör“, „Das dritte Verhör“ plus „Die grammatikalische Fiktion“. Das Buch beginnt mit einem kafkaesken Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt: Rubaschow träumt, dass er verhaftet wird, und wird anschließend tatsächlich verhaftet. Genau wie der Hauptfigur wird auch dem Leser die Erleichterung verwehrt, dass alles nur ein Traum gewesen sei. Im Rest des Buches wird, durch Rückblenden unterbrochen, der entwürdigende Horror einer Einzelhaft geschildert, furchtbarer als der schlimmste Albtraum: quälender Durst und pochender Zahnschmerz, dazu die Gewissensbisse des Inhaftierten. Indem Koestler den Leser mit messerscharfer Beobachtungsgabe in den malträtierten Körper des alternden Revolutionärs hineinzwingt, löst er Ekel und Beklemmung aus. Man zählt mit Rubaschow die Schritte auf dem Gefängniskorridor, hört gleichsam die Klopfzeichen des Zellennachbarn, riecht den beißenden Gestank des Abortkübels, blickt in den bleiernen Himmel und spürt die Erschöpfung während des letzten Verhörs in den Gliedern.

Interpretationsansätze

  • Der Roman geht der Frage auf den Grund, was gestandene, sogar foltererprobte Männer dazu bringt, die absurdesten Verbrechen zu gestehen – wie geschehen im Fall vieler Parteifunktionäre während der Moskauer Prozesse zwischen 1936 und 1938. Koestler beantwortete die Frage mit der „Rubaschow-Theorie der Geständnisse“: Sie besagt, dass die Geständigen glauben, der Revolution und der Partei einen letzten Dienst auf dem Weg zum kommunistischen Paradies zu erweisen. Als die näheren Umstände der Prozesse publik wurden, sollte sich herausstellen, dass Koestler mit seiner Theorie ins Schwarze getroffen hatte.
  • „Nummer Eins“ ist eine Chiffre für Stalin, der Schauplatz ist offensichtlich die Sowjetunion, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt wird. Die Traumsequenz von Rubaschows Festnahme im faschistischen Deutschland, die nahtlos in die kommunistische Realität übergeht, macht aber von Anfang an klar: Totalitäre Systeme funktionieren alle gleich, egal ob Kommunisten oder Nazis an ihrer Spitze stehen.
  • Das „Ich“ ist in diesen Systemen nur eine „grammatikalische Fiktion“: Das Individuum wird Teil einer großen historischen Rechenoperation, die keine Moral kennt und deren Zweck alle Mittel heiligt. Rubaschow erkennt, dass die Gleichung nicht aufgeht. Die Zweckethik hat Monster wie Gletkin geboren – und er selbst hat durch seine Taten dazu beigetragen, sie großzuziehen.
  • Im Roman steht der bohrende Zahnschmerz, der jeden Anflug von Gewissensbissen begleitet, für die trotz allem nicht ausrottbare Moral. Die Revolutionäre haben versucht, einander die moralischen Skrupel mit knallharten Dogmen auszutreiben – und doch blieben sie wie eine entzündete Wurzel im Zahnfleisch stecken.
  • Die Hölle, das sind die anderen Genossen: Wer ist Freund, wer Feind? Wird die Tochter den Vater für eine Portiersloge opfern? In diesem Klima der Paranoia und des Zerfalls aller Werte entwickelt Rubaschow ausgerechnet zu einem Klassenfeind, dem Monarchisten in der Nachbarzelle, eine menschliche Beziehung: ein kleiner Lichtstrahl Hoffnung in der Finsternis.

Historischer Hintergrund

Der Große Terror

Drei Männer sitzen im Gefängnis und fragen einander nach dem Grund ihrer Verhaftung. Der erste antwortet: „Weil ich Karl Radek kritisiert habe.“ Der zweite darauf verwundert: „Und ich, weil ich ihn gelobt habe!“ Der dritte schweigt zunächst und sagt dann: „Ich bin Karl Radek.“ Dieser zeitgenössische Witz bringt die Verhältnisse während der Moskauer Schauprozesse zwischen 1936 und 1938 auf den Punkt: Auf der Anklagebank saß die Elite, die Helden der Revolution, denen man absurde Geständnisse abpresste. Doch sie waren nur die Spitze des Eisbergs. Die Botschaft an das Volk lautete: Niemand ist vor Stalin sicher. Untergebene denunzierten ihre Vorgesetzten, Eltern ihre Kinder, Schüler ihre Lehrer – und jede Region musste eine von Moskau vorgeschriebene Vernichtungsquote erfüllen.

Während der durch Stalins Zwangskollektivierungen ausgelösten Hungersnot waren 1932/33 5 bis 10 Millionen Menschen umgekommen. Auf dem 17. Parteitag der Kommunistischen Partei 1934 befürchtete Stalin deshalb Meuterei. Unter Verschluss gehaltene Dokumente offenbarten später, dass in der geheimen Wahl 292 Delegierte gegen ihn stimmten, aber nur drei gegen seinen populären Rivalen Sergei Kirow. Wenige Monate später wurde dieser ermordet. Stalin, der das Attentat möglicherweise selbst in Auftrag gegeben hatte, nahm es zum Vorwand, die gesamte alte Garde von Bolschewiken, Bürgerkriegsveteranen und Mitstreitern Lenins zu beseitigen. Auch viele seiner engsten Weggefährten und fast die gesamte Führungsriege der Roten Armee ließ er liquidieren. Die Bilanz der „Säuberungen“: Zwischen 1935 und 1940 wurden knapp 20 Millionen Sowjetbürger verhaftet, mehr als jeder dritte von ihnen starb in Zwangslagern und Gefängnissen. Fünf Jahre nach dem 17. Parteitag war weit weniger als die Hälfte der 1225 stimmberechtigten Genossen noch am Leben.

Entstehung

Sieben Jahre hatte Arthur Koestler der Kommunistischen Partei mit jugendlichem Eifer gedient – und kehrte ihr 1938 unter dem Eindruck der Moskauer Prozesse den Rücken. Das darauf folgende Gefühl der Hoffnungslosigkeit bekämpfte er, indem er schrieb: Circulus Vitiosus lautete der Arbeitstitel für den späteren Roman Sonnenfinsternis. Als Hauptperson schwebte ihm eine Mischung aus dem Revolutionär Leo Trotzki und den in den Prozessen verurteilten Parteifunktionären Nikolai Bucharin und Karl Radek vor. Letztere kannte er persönlich. In die Biografie Rubaschows ließ der Autor auch eigene Erlebnisse und Bekanntschaften mit einfließen. „Ich zerbrach mir nicht den Kopf, was in dem Buch weiter geschehen sollte; ich wartete mit Furcht und Neugier darauf, dass es geschehe“, so Koestler in seiner Autobiografie. Die Geschichte schrieb sich also fast von selbst. Nach Kriegsausbruch 1939 wurde Koestler in Paris verhaftet und für vier Monate in einem französischen Konzentrationslager inhaftiert, wo er weiter an dem Roman schrieb. Das ursprüngliche deutsche Manuskript ging bei einer neuerlichen Verhaftung 1940 verloren – doch seine Geliebte, die englische Bildhauerin Daphne Hardy, hatte es zuvor ins Englische übersetzt. Zehn Tage vor dem deutschen Einmarsch in Frankreich schickte Koestler die Übersetzung nach London und machte sich dann selbst auf die Flucht. Als Darkness at Noon 1940 erschien, saß er unter dem Vorwurf der illegalen Einwanderung in einer Zelle in London. Später fertigte Koestler selbst eine Rückübersetzung des Romans ins Deutsche an; sie erschien 1946.

Wirkungsgeschichte

In England wurde der Roman kaum beachtet. In Frankreich hingegen brach die Übersetzung im Jahr 1946 mit 400 000 verkauften Exemplaren alle Auflagerekorde der Vorkriegszeit. Wie war das möglich? Für die stalintreuen Kommunisten im Land, die in der chaotischen Nachkriegszeit an Einfluss gewonnen hatten, war das Buch ein Affront. Sie kauften alle Lagerbestände auf, um das Buch aus dem Verkehr zu ziehen – und erreichten damit das Gegenteil, denn so wurde es nur noch begehrter. Als die Wähler im Mai 1946 den kommunistischen Vorschlag zur künftigen französischen Verfassung mehrheitlich ablehnten, gab die europäische Linke Koestlers „klassenfeindlicher Propaganda“ die Schuld. Dieser konnte sich natürlich keinen größeren Triumph vorstellen, und die Episode tröstete ihn zeitlebens „in häufigen Stunden der Depression und Selbstverneinung.“

Koestlers wichtigster Verbündeter war George Orwell. Dieser sah in Sonnenfinsternis einen brillanten Roman, der von einem tiefen Verständnis totalitärer Methoden zeuge. Auf dem Zenit seines Ruhms war Koestler einer der einflussreichsten und meistgehassten Intellektuellen seiner Zeit. Mitte der 1950er-Jahre zog er sich aus der politischen Debatte zurück. 15 Jahre nach seinem Freitod 1983 sorgte eine Enthüllungsbiografie für Aufsehen: David Cesarani brandmarkte den Autor darin als Vergewaltiger, ohne jedoch hieb- und stichfeste Beweise zu liefern. Trotz dieser Vorwürfe gilt Koestler heute als einer der größten politischen Autoren des 20. Jahrhundert.

Über den Autor

Arthur Koestler wird am 5. September 1905 als einziges Kind großbürgerlicher, jüdischer Eltern in Budapest geboren. Zu Hause spricht man überwiegend Deutsch. 1919 flieht die Familie vor antisemitischen Ausschreitungen nach Wien. Koestler studiert Maschinenbau, wird zum glühenden Zionisten und reist 1926 nach Palästina, wo er zunächst in einem Kibbuz, dann als Zitronenverkäufer und Journalist arbeitet. 1929 kehrt er nach Europa zurück und tritt zwei Jahre später in die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ein. Während einer Reise durch die Sowjetunion erlebt er 1932 den ersten Schauprozess und trifft die Bolschewisten Karl Radek und Nikolai Bucharin, die später den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fallen werden. Nach dem Berliner Reichstagsbrand ist er mehrere Jahre als Propagandist im Auftrag der Partei unterwegs. Während des Spanischen Bürgerkriegs wird er 1937 von Francos Truppen verhaftet und sitzt vier Monate in der Todeszelle, bevor er auf Druck der Engländer entlassen wird. Seine Erfahrungen verarbeitet er im selben Jahr in dem Buch Spanish Testament (Ein spanisches Testament). Angewidert von den Moskauer Prozessen tritt er 1938 der Partei aus und beendet den Spartacus-Roman The Gladiators (Die Gladiatoren, 1939). Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird Koestler in Paris verhaftet und als verdächtiger Ausländer im Lager Le Vernet interniert, wo er an dem Roman Darkness at Noon (Sonnenfinsternis, 1940) weiterarbeitet. Nach seiner Freilassung 1940 flüchtet er über Casablanca und Lissabon nach England und wird dort abermals inhaftiert. Ab 1941 schreibt er nur noch auf Englisch und pflegt den Ruf eines trinkfesten Lebemannes und Frauenhelden. Seine Promiskuität beschränkt sich aber nicht auf das andere Geschlecht: Als „Casanova of causes“ (Koestler) kämpft er gegen die Todesstrafe in Großbritannien und für die Euthanasie, bestreitet die Abstammung der europäischen Juden von den Israeliten, wird Atheist und Anhänger der Parapsychologie. 1976 erkrankt er an Parkinson und später an Leukämie. Anfang März 1983 nimmt sich der 77-Jährige gemeinsam mit seiner dritten, 22 Jahre jüngeren Ehefrau Cynthia das Leben.

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