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Das Weltbild des Kindes

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Das Weltbild des Kindes

Klett-Cotta,

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10 take-aways
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What's inside?

Jean Piagets bahnbrechendes Werk über das Denken des Kindes, seine Vorstellungen von der Natur und seine magischen Rituale.


Literatur­klassiker

  • Psychologie
  • Moderne

Worum es geht

Kinder denken anders

Bevor Jean Piaget sich der Psychologie zuwandte, hatte er Biologie studiert und eine Dissertation über Mollusken geschrieben. Den naturwissenschaftlichen Ansatz bewahrte er sich auch als Entwicklungspsychologe. Für sein 1926 erschienenes Buch Das Weltbild des Kindes befragte er Hunderte von Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren: Wo findet Denken statt? Was geschieht, wenn wir träumen? Wie sind Sonne, Mond und Wolken entstanden? Im Unterschied zu den Verfechtern standardisierter Intelligenztests interessierte sich Piaget mehr für die falschen als für die richtigen Antworten. Sie führten ihn zu der Erkenntnis, dass Kinder eine ganz eigene, von der Logik der Erwachsenen völlig verschiedene Denkweise haben. Aufgrund ihrer natürlichen Egozentrizität glauben sie, an allem in der Welt teilzuhaben. Alle Dinge sind für sie lebendig und bewusst – und daher auch vom Menschen beeinflussbar. Piagets Werk stellt einen wichtigen Beitrag in der Erforschung kindlichen Denkens dar.

Take-aways

  • Jean Piagets Abhandlung Das Weltbild des Kindes zählt zu den wichtigsten Werken der Entwicklungspsychologie.
  • Inhalt: Kinder unterscheiden nicht klar zwischen Ich und Außenwelt, Psychischem und Physischem. Aufgrund ihres natürlichen Egozentrismus halten sie Gegenstände und natürliche Phänomene für belebt und glauben, alles sei vom Menschen hergestellt. Um die Wirklichkeit zu beeinflussen, entwickeln sie magische Praktiken und Rituale.
  • In seiner Forschung verband Jean Piaget Biologie und Psychologie.
  • Statt der üblichen standardisierten Intelligenztests für Kinder empfahl Piaget eine Mischung aus offenen Fragen und Beobachtung.
  • Die Annahme, kleine Kinder verfügten noch nicht über ein Selbstbewusstsein, übernahm er vom amerikanischen Entwicklungspsychologen James Mark Baldwin.
  • Wie andere Forscher vor ihm zog Piaget Parallelen zwischen dem kindlichen Denken und dem Weltbild „primitiver“ Naturvölker.
  • Unter der Egozentrizität des Kindes verstand er dessen Unfähigkeit, sich als von seiner Umwelt verschiedenes Subjekt zu begreifen und andere Standpunkte einzunehmen.
  • Piaget belegt seine Thesen mit Hunderten wörtlich zitierter Passagen aus zahlreichen Interviews, die er mit Genfer Kindern führte.
  • Kritiker warfen ihm später vor, er unterschätze das logische Denkvermögen von Vorschulkindern.
  • Zitat: „Das Denken ist realistisch, und der Fortschritt besteht darin, dass es sich von diesem ursprünglichen Realismus befreit.“

Zusammenfassung

Die Methode der klinischen Untersuchung

Will man das Weltbild des Kindes erforschen, kommt man mit den bisher üblichen Tests nicht weit. Deren Fragen sind allzu suggestiv und bilden deshalb das wirklich unverfälschte Denken der Kinder nicht ab. Auch die reine Beobachtung reicht nicht aus, denn sie liefert keine Erkenntnisse darüber, was Kinder stillschweigend voraussetzen, aber nicht von sich aus aussprechen. Den größten Erfolg verspricht die bereits in der pathologischen Psychologie bewährte Methode der klinischen Untersuchung, die Tests und Beobachtung verbindet. Hier bedarf es einer langjährigen Erfahrung des Forschers, der das Kind beobachten und es sprechen lassen sollte, ohne dessen spontanen Redefluss in eine bestimmte Richtung zu lenken, wobei er diesen aber gleichzeitig gemäß seiner Theorie systematisieren muss.

„Der Grundsatz, an den wir uns halten wollen, besteht somit darin, dass wir das Kind nicht als ein rein nachahmendes Wesen betrachten, sondern als einen Organismus, der die Dinge an sich assimiliert, sie seiner eigenen Struktur entsprechend auswählt und verarbeitet.“ (S. 53)

Die Schwierigkeit besteht darin, suggerierte Überzeugungen von spontanen zu unterscheiden. Letztere sind am interessantesten, da sie widerspiegeln, was das Kind schon vorher über eine Frage gedacht hat. Während suggerierte Überzeugungen, an denen ein Kind auf Nachfragen nie lange festhält, keinen Wert haben, sind die sogenannten ausgelösten Überzeugungen, bei denen das Denken des Kindes durch die Art der Fragestellung in eine bestimmte Richtung gelenkt wird, doch sehr aufschlussreich, denn sie enthüllen die vorbewusste geistige Haltung, der sie entspringen. Immer wieder muss man auch darauf achten, inwieweit die Kinder selbst glauben, was sie erzählen, oder wo sie anfangen, zu fabulieren oder die Erwachsenen zum Besten zu halten.

„Der Realismus hingegen besteht darin, dass man nicht weiß, dass es ein Ich gibt, und deshalb die eigene Betrachtungsweise für unmittelbar objektiv und absolut hält.“ (S. 57 f.)

Das anfangs noch unlogische kindliche Denken passt sich schrittweise dem erwachsenen Denken an. Es handelt sich dabei jedoch nicht um reine Nachahmung. Das Kind sucht sich Elemente des Erwachsenendenkens aus, fügt sie in seine geistigen Strukturen ein, kombiniert sie und formt daraus eigene Vorstellungen. Dass es sich um originelle, nicht einfach nachgeplapperte, suggerierte oder fabulierte Überzeugungen handelt, erkennt man daran, dass sie jeweils bei Kindern einer bestimmten Altersstufe einheitlich verbreitet sind.

Der Realismus des Denkens

Das Denken des Kindes unterscheidet nicht zwischen Subjekt und Objekt. Es ist realistisch in dem Sinne, dass sich das Kind seines Ichs noch nicht bewusst ist und daher die eigene Sicht für absolut hält. Eine Trennung von Denken und Dingen, Innen und Außen existiert für das Kind nicht. Es projiziert sein eigenes Denken und Fühlen in die Dinge. Auf die Frage, womit man eigentlich denkt, antworten fast alle Kinder bis zum Alter von sechs Jahren: mit dem Mund; oder: mit den Ohren. Erst mit etwa acht Jahren geben die meisten Kinder den Kopf als Sitz des Denkens an – darin kommt der Einfluss der Erwachsenen zum Ausdruck. Aber auch Achtjährige stellen sich Denken noch als etwas Materielles vor, als eine Luftbewegung oder eine Stimme im Kopf, die Wörter artikuliert und damit auf die Dinge, die diese bezeichnen, unmittelbar einwirkt.

„Stellen wir uns ein Wesen vor, dem die Unterscheidung zwischen dem Denken und den Körpern völlig fremd ist.“ (S. 61)

Kinder bis zu einem Alter von etwa zehn Jahren unterscheiden nicht zwischen Zeichen und bezeichneten Dingen. Siebenjährige glauben noch, der Name gehöre zum Wesen des Dings, er sei eine unsichtbare Eigenschaft desselben. Der Name „Sonne“ etwa beinhaltet die Wärme, Form und Farbe der Sonne. Mit sieben, acht Jahren meinen sie dann, die ersten Menschen (oder auch Gott) hätten die Namen der Dinge zusammen mit den Dingen selbst hergestellt, also die Sonne zusammen mit dem Wort „Sonne“. Mit ungefähr zehn Jahren sagen viele Kinder, die Dinge seien zuerst dagewesen, dann hätten Menschen ihnen Namen gegeben und diese an nachfolgende Generationen weitergereicht. Erst in diesem Alter begreifen sie auch, dass Namen austauschbar sind, das ein Tisch auch „Stuhl“ heißen könnte.

„Wir stoßen zweifellos bei jedem Schritt auf Analogien zwischen dem Kind und dem Primitiven; wir finden diese aber nicht, indem wir sie suchen, sondern indem wir das Kind für sich selbst, ohne irgendwelche Voraussetzungen, studieren.“ (S. 116)

Träume stellen für jüngere Kinder von außen kommende Bilder dar, die ihnen vor Augen geführt werden. Sie wissen zwar, dass Träume trügerisch sind, halten sie aber für etwas Reales, das sich außerhalb von ihnen befindet und mit den Dingen oder Personen in Verbindung steht, von denen man träumt. Bild und Abgebildetes werden nicht getrennt. Selbst wenn Kinder mit etwa sechs Jahren erkennen, dass Träume dem eigenen Kopf entspringen, glauben sie daran, dass diese als etwas Materielles zum Beispiel in ihrem Zimmer existieren. Erst im Alter von elf Jahren erkennen Kinder von selbst oder durch Belehrung, dass Träume nichts Reales, Materielles, sondern lediglich Gedanken sind.

Der Glaube an Partizipation und magische Praktiken

Da das Kind nichts von seiner Subjektivität weiß, sich selbst für den Mittelpunkt der Welt hält und nicht zwischen Ich und Außenwelt trennt, ist es überzeugt, an allem teilzuhaben und auf alles einwirken zu können. Während Erwachsene in Wörtern und Bildern bloße Symbole erkennen, die auf Dinge verweisen, haben Wörter und Bilder aus kindlicher Perspektive wirklich an den Dingen teil. Daher glauben Kinder, durch Gedanken, Handlungen, Worte oder Blicke direkten Einfluss auf das Wirkliche nehmen zu können, und sie entwickeln zu diesem Zweck eine Vielfalt geheimer magischer Praktiken und Rituale. Eine verbreitete Praxis, durch die Kinder das Schicksal zu beeinflussen suchen, besteht etwa darin, auf dem Bürgersteig nicht auf die Rillen zwischen den Platten zu treten. Auch Abzählen oder rhythmische Handlungen, etwa in bestimmter Folge Mauersteine zu berühren, dienen dazu, ein Unglück abzuwenden oder Erwünschtes zu verwirklichen. Da das Kind Psychisches und Physisches noch vermengt, unterstellt es allen physischen Phänomenen eine Absicht, einen wohlgesinnten oder aber feindseligen Willen, den es durch Rituale zu seinen Gunsten lenken kann. Mit fortschreitender Entwicklung löst sich das Kind von diesem ursprünglichen Realismus und Partizipationsglauben.

Der kindliche Animismus

Zahlreiche Körper und Gegenstände, die Erwachsene für leblos halten, sind aus Sicht des Kindes lebendig und verfügen über ein Bewusstsein. Jüngere Kinder schreiben ganz selbstverständlich allen Dingen einen Willen und bewusste Aktivität zu. Sie meinen, das Auto schlafe, der Stein habe Angst, die Mauer habe sie geschlagen und die Sonne wolle uns wärmen. Bis zum Alter von sechs, sieben Jahren glauben viele Kinder, dass Steine und Tische Schmerzen spüren oder dass Sonne und Mond ihnen folgen. Später knüpfen sie Bewusstsein immer stärker an Eigenbewegung und sprechen es immerhin noch Wolken, Wind und Sternen, schließlich, mit etwa elf Jahren, nur noch Tieren und Pflanzen zu.

„Für das Kind sind Gedanken, Bilder, Wörter zwar teilweise von den Dingen verschieden, aber sie werden in die Dinge verlegt.“ (S. 155)

Die Sprache der Erwachsenen fördert oft den ursprünglichen kindlichen Animismus. Sprachliche Personifizierungen („Die Sonne geht unter“, „Der Wind bläst“ oder „Die Wärme bringt das Wasser zum Kochen“) wie auch Metaphern nimmt das Kind noch wortwörtlich. Was bei Naturvölkern beobachtet wurde, trifft auch auf das kindliche Denken zu: Das Denken formt die Sprache, doch die Sprache beeinflusst ihrerseits wieder das Denken. Allerdings hat der kindliche Animismus Grenzen: Die Dinge sind nicht wie Personen, sie besitzen stets nur so viel Bewusstsein, wie sie brauchen, um ein bestimmtes nützliches Ziel zu erfüllen. So glaubt das siebenjährige Kind nicht mehr, dass die Sonne uns in unserem Zimmer sieht, wohl aber, dass sie es herausfindet, wenn wir hinausgehen, und uns dann folgt, um uns zu wärmen. Die Dinge sind also nicht Naturgesetzen, sondern stets moralischen Regeln unterworfen. Insofern sie einen freien Willen haben, können sie nach Belieben handeln, doch da sie das Wohl des Menschen im Blick haben, handeln sie meist zu seinem Nutzen.

„Für einen Geist, der nicht oder kaum zwischen dem Ich und der Außenwelt unterscheidet, partizipiert somit alles an allem und kann alles auf alles einwirken.“ (S. 184)

Die für das Alter von drei bis sieben Jahren typischen Warum-Fragen sind keineswegs kausal zu verstehen. Sie zielen nicht auf die physikalische Ursache eines Phänomens ab – warum beispielsweise der Fluss fließt oder die Sonne scheint –, sondern auf die Intention. Kinder gehen davon aus, dass alles einen Sinn hat und einem für den Menschen nützlichen Plan folgt. Die Erkenntnis, dass die Natur weder für uns sorgt noch uns bewusst Schaden zufügt, sondern allein dem Prinzip des Zufalls und der Trägheit folgt, ist kleinen Kindern noch nicht zu vermitteln. Dazu müssen sie im Gedankenaustausch mit anderen Individuen erst ihren ursprünglichen Subjektivismus und ihre angeborene Egozentrik überwinden und durch fortschreitende Selbsterkenntnis zu einer objektiven Betrachtung der Dinge gelangen.

Der kindliche Artifizialismus

Kinder haben die Neigung, alle Dinge als künstlich hergestellt zu betrachten. Während die Kleineren noch glauben, Sterne seien vom Menschen oder von Gott gemacht, vermischt sich bei den etwas Älteren die Vorstellung von natürlicher Entstehung und künstlicher Fabrikation. Die Sterne etwa sind aus der Kondensation von Wolken hervorgegangen, die ihrerseits aus dem Rauch der Kamine entstanden sind. Dagegen suchen Elf- bis Zwölfjährige physikalische Erklärungen für die Entstehung der Gestirne. Wenn die Jüngeren aufgefordert werden, ihre Vorstellungen zu formulieren, erfinden sie oft Mythen und Fabeln, wie die Menschen Dinge hergestellt haben, zum Beispiel die Sonne durch Entzünden eines Streichholzes. Dass sie die fabrizierte Sonne zugleich für beseelt und mit Bewusstsein ausgestattet halten, ist kein Widerspruch. Animistische und artifizialistische Tendenzen im kindlichen Denken schließen sich nicht aus – vielmehr sind sie komplementäre geistige Haltungen, die auf das ursprüngliche Gefühl zurückgehen, die Menschen hätten an den Dingen teil.

„Das Denken ist realistisch, und der Fortschritt besteht darin, dass es sich von diesem ursprünglichen Realismus befreit.“ (S. 199)

Bis zu einem Alter von sechs Jahren erscheint der Himmel vielen Kindern als eine Art Gewölbe aus Stein oder Erde, von dem sie glauben, die Menschen oder Gott hätten es hergestellt. Erst später setzt sich unter dem Einfluss der Erwachsenen die Vorstellung durch, der Himmel bestehe aus Luft oder Wolken. Zugleich glauben Kleinkinder, es werde Nacht, damit man ins Bett gehen und schlafen könne – ein typisches Beispiel für ihre vollkommen zweckfixierte und anthropozentrische Betrachtungsweise der Dinge. Ältere Kinder führen die Nacht nicht mehr unmittelbar auf das Einwirken des Menschen zurück, sondern nur insofern, als die schwarzen Wolken, die den Himmel verdunkeln, durch den Rauch aus den Häusern entstanden sind. Die Erkenntnis, dass die Nacht das Verschwinden der Sonne und nicht eine eigene Substanz ist, bedeutet einen großen Entwicklungsschritt im kindlichen Denken, der sich nicht auf einmal, sondern mit vielen Zwischenetappen vollzieht.

„Von der Kausalität her gesehen, wird das ganze Universum so betrachtet, als bilde es eine Gemeinschaft mit dem Ich und als gehorche es dem Ich.“ (S. 199)

Am Beispiel der Wolken lassen sich die Etappen dieses tief verankerten kindlichen Artifizialismus gut nachvollziehen. Mit fünf bis sechs Jahren halten Kinder Wolken für etwas Festes, von Gott oder den Menschen aus Stein oder Erde Hergestelltes und dennoch Lebendiges, Beseeltes. Zwischen sechs und neun Jahren führen sie Wolken auf die Rauchbildung der Schornsteine und damit indirekt auf menschliche Tätigkeit zurück. Der Artifizialismus ist jetzt abgemildert, eine animistische Tendenz aber immer noch vorhanden. Ab einem Alter von neun bis zehn Jahren schließlich erkennen sie unter dem Einfluss des Schulunterrichts, dass Wolken auf völlig natürliche Weise durch kondensierte Feuchtigkeit entstehen. Die Vorstellung einer direkten oder indirekten künstlichen Herstellung ist somit überwunden, doch trotz ihrer Schulkenntnisse betrachten einige Kinder die Wolken auch noch in dieser Phase als lebendige und beseelte Wesen.

Der Mensch als Seinsgrund aller Dinge

Man könnte meinen, die Vorstellung, der Mensch habe alles gemacht, sei durch Erziehung oder alltägliche Beobachtungen, etwa von Baggern, die ein Flussbett ausheben, beeinflusst. Doch aufgrund der weiten Verbreitung, der Gleichförmigkeit und der Hartnäckigkeit des kindlichen Artifizialismus ist davon auszugehen, dass ein spontanes und tief sitzendes Interesse des Kindes an allem Künstlichen besteht. Es betrachtet alles, auch die natürlichen Dinge, aus einer nutzenorientierten Perspektive. Alles, was in der Welt existiert, hat einen Seinsgrund und eine Pflicht gegenüber dem Menschen. Gott als Erklärung führen die meisten Kinder nur an, wenn ihnen nichts anderes mehr einfällt, und religiöse Vorstellungen, wie sie im Religionsunterricht vermittelt werden, sind ihrem Denken eher fremd. Sie glauben zunächst an die Allmacht der Menschen und insbesondere ihrer Eltern und übertragen diese später nur unter Umständen auf Gott.

„Das Neugeborene wird gleichzeitig als fabriziert und als lebendig aufgefasst, und das Kind hat deshalb die Tendenz, alles als lebendig und fabriziert zugleich anzusehen.“ (S. 414)

Aufgrund der frühen Erfahrung, dass die Eltern für ihre Nahrung, ihr Wohlbefinden, ihre Bekleidung und ihre Wohnung sorgen, gehen Kleinkinder davon aus, dass die ganze Natur zweckmäßig auf sie selbst ausgerichtet ist. Sie vergöttern ihre Eltern, halten sie für allwissend und allgegenwärtig und schreiben ihnen außerordentliche Fähigkeiten zu. Bis zur skeptizistischen Krise ungefähr im sechsten Lebensjahr erscheint ihnen die Welt als harmonisches, von den Menschen organisiertes Ganzes, in dem Zufälle ausgeschlossen sind. Animismus und Artifizialismus verschwinden auch nicht durch noch so vernünftige Erklärungen der Erwachsenen. Die ganze geistige Haltung des Kindes verändert sich vielmehr durch die schrittweise Loslösung von den Eltern und von dem eigenen Ich, sobald es sich selbst nicht mehr absolut setzt.

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Aufbau und Stil

Das Weltbild des Kindes gliedert sich in drei Teile: Der erste behandelt den kindlichen Realismus, der zweite den Animismus und der dritte den Artifizialismus. Trotz dieser klaren Gliederung überschneiden und wiederholen sich Piagets grundlegende Thesen und Aussagen vielfach. In kurzen Zusammenfassungen am Ende fast jeden Kapitels zieht der Autor jeweils ein Resümee. Piagets Sprache ist wissenschaftlich und nüchtern, er setzt beim Leser einiges an philosophischem und psychologischem Fachwissen voraus, wenn er beiläufig Aristoteles, Parmenides oder Freud erwähnt. Um seine Aussagen zu untermauern, führt Piaget Hunderte wörtlich zitierter Passagen aus Interviews mit Kindern an, aber auch Kindheitserinnerungen seiner Mitarbeiter, die er systematisch einordnet und kommentiert. Die langen, manchmal sehr plastischen und fantasievollen Erzählungen von Kindern machen den großen Reiz dieses Buches aus. Auf jeder Seite spürt man, dass Piaget selbst kleine oder geistig zurückgebliebene Kinder als Gesprächspartner ernst nimmt, auf sie eingeht und sie niemals korrigiert.

Interpretationsansätze

  • Jean Piaget beschreibt die Entwicklung des Kindes mit den aus der Biologie entlehnten Begriffen der Assimilation und Akkommodation: Kinder sind der Auffassung, ein Berg sei aus Steinen entstanden, die gewachsen seien. Sie übertragen also das Konzept des Wachstums auf den Berg, sie assimilieren ein neues Phänomen einem bekannten Schema. Wenn sie später ihren Irrtum bemerken, beginnen sie, tote Materie von belebter zu unterscheiden, und passen ihr Schema dementsprechend an, akkommodieren es also.
  • Piaget postuliert verschiedene Phasen der kindlichen Entwicklung, ähnlich wie Jean-Jacques Rousseau im 18. und der amerikanische Psychologe James Mark Baldwin im 19. Jahrhundert. Von Letzterem übernahm er unter anderem das Konzept des fehlenden kindlichen Selbstbewusstseins. Im Unterschied zu den beiden Vorläufern sieht Piaget aber nicht starre, altersgebundene Stufen, sondern lässt fließende Übergänge und individuelle Abweichungen zu.
  • Den Begriff der Partizipation übernahm Piaget vom französischen Philosophen und Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl, der damit die „primitive“ Mentalität charakterisierte: Bestimmte Unterscheidungen, die im westlichen Denken essenziell sind, etwa zwischen Traum und Wirklichkeit, Gegenwart und Vergangenheit, existieren im Denken vieler Naturvölker nicht.
  • Unter Egozentrizität versteht Piaget nicht die Egozentrik eines Erwachsenen, der immer im Mittelpunkt stehen muss. Er meint damit vielmehr die aus der unvollkommenen Trennung zwischen Ich und Umwelt resultierende strukturelle Unfähigkeit des Kindes, den Standpunkt eines anderen einzunehmen – eine Art von angeborenem Autismus, den es im Lauf seiner Entwicklung überwindet.
  • Piaget erkennt im kindlichen Animismus zwar eine gewisse Ähnlichkeit zu Sigmund Freuds Begriff der Projektion. Zugleich aber grenzt er sich klar von diesem ab: Die Vorstellung, man könne Inhalte des Bewusstseins auf die Außenwelt übertragen, beruhe auf einer im Hinblick auf das kindliche Denken unzulässigen Trennung von Innen und Außen. Wenn ein Kind, das sich gestoßen hat, glaubt, die böse Mauer habe es geschlagen, sei das nicht Projektion, sondern Introjektion – eine Folge seiner noch nicht überwundenen Egozentrik, durch die es allem, was sich dem Ich entgegenstellt, Böswilligkeit unterstellt.

Historischer Hintergrund

Die Entdeckung des kindlichen Denkens

Bereits 1762 hatte sich Jean-Jacques Rousseau in seinem Roman Emile oder Von der Erziehung intensiv mit Fragen der kindlichen Entwicklung beschäftigt. Nach seiner Auffassung war die Entwicklung des Menschen von Natur aus vorprogrammiert und verlief in fünf Stufen.

Bis zu den ersten systematischen empirischen Studien sollte allerdings noch ein Jahrhundert vergehen. Einer der Pioniere auf diesem Gebiet war der deutsch-englische Physiologe William Thierry Preyer, der 1882 in seinem Buch Die Seele des Kindes die Entwicklung seines Sohnes von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr nachzeichnete.

Von großem Einfluss war auch der amerikanische Psychologe James Mark Baldwin, der die wahre Erziehung in der Selbsterziehung des Kindes sah, das sich seiner Umwelt anpasse und so den Fortschritt der Zivilisation sichere. Auf ihn geht auch die Annahme zurück, Kleinkinder unterschieden nicht zwischen Ich und Außenwelt.

Weitere wichtige Impulse kamen vom amerikanischen Psychologen Stanley Hall, der als Erster eigene Fragebögen zur Erforschung des kindlichen Denkens entwarf. Obgleich er bestritt, dass jedes Kind individuell die Entwicklung der Menschheit noch einmal durchläuft, zog er viele Parallelen zwischen dem kindlichen Verhalten und demjenigen „primitiver“ Völker. Mit seinem evolutionär-psychologischen Ansatz fasste er Kinder als eine Art eigene Spezies auf, die sich fundamental von den Erwachsenen unterscheide und der mit erwachsener Vernunft nicht beizukommen sei.

Um die Jahrhundertwende erlebte die Entwicklungspsychologie – unter anderem bedingt durch die Ausdehnung der staatlichen Schulpflicht, die Fragen nach dem Zusammenwirken von Entwicklung und Erziehung aufwarf – einen wahren Boom. In Amerika, Großbritannien und Deutschland entstanden vor dem Ersten Weltkrieg zahlreiche psychologische Laboratorien und Forschungszentren. Kongresse und Fachzeitschriften wurden ins Leben gerufen. Aus dieser Zeit stammen auch grundlegende Werke wie das Standardwerk von Clara und William Sterns, Psychologie der frühen Kindheit (1914), in dem das Ehepaar die Entwicklung seiner drei Kinder über einen Zeitraum von 18 Jahren minutiös dokumentierte.

Einen bedeutenden Schritt auf dem Weg der Entwicklungspsychologie hin zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin stellte der von Alfred Binet und Théodore Simon konzipierte standardisierte Intelligenztest dar.

Entstehung

Nach der Aufnahme des Psychologiestudiums in Zürich reiste Jean Piaget 1919 nach Paris, wo er im berühmten Laboratorium von Alfred Binet arbeitete, dessen Intelligenztest er bei Pariser Kindern standardisieren sollte. Piaget erledigte diese Aufgabe zwar gewissenhaft, hatte aber das Gefühl, nicht zu den eigentlich wichtigen psychologischen Fragen vorzudringen. Solche standardisierten Tests beschrieben seiner Meinung nach kindliches Denken ausschließlich aus der Erwachsenenperspektive. Piaget dagegen interessierten mehr die falschen Antworten als die richtigen sowie die Ursachen für die Fehler, da sie die eigene, von der erwachsenen Logik vollkommen verschiedene Wirklichkeitsauffassung der Kinder aufdeckten.

1921 folgte Piaget dem Ruf an das Genfer Institut Jean-Jacques Rousseau, das als Vorreiter auf dem Gebiet der modernen Kinderpsychologie und Reformpädagogik galt. Zur Erforschung der kindlichen Logik interviewte er viele Kinder in der dem Institut zugehörigen Schule und an Genfer Primarschulen. Nachdem er sich in seinen Büchern Sprechen und Denken des Kindes und Urteil und Denkprozess des Kindes mit den formalen Mustern kindlichen Denkens befasst hatte, wandte sich Piaget inhaltlichen Fragen zu. Er befragte Hunderte von Kindern zu ihren Vorstellungen von Denken und Natur sowie zu ihren Träumen. Die Technik des offenen Gesprächs statt festgelegter Fragen war zwar nicht neu. Indem aber Piaget die logischen Widersprüche in den Antworten der Kinder nicht als falsch abtat, gelangte er zu neuen, überraschenden Einsichten in die kindliche Entwicklung. Das Weltbild des Kindes erschien 1926 in Paris.

Wirkungsgeschichte

Das Buch stieß in der Fachwelt auf positive Resonanz und wurde in den 20er-Jahren und nach dem Zweiten Weltkrieg in den 50er-Jahren viel diskutiert. Schon bald wurde indes Kritik an Piagets Strukturmodell laut, das der Vielfalt menschlichen Denkens nicht gerecht werde und zu schematisch sei. Während Piagets Pädagogik vor allem in den USA in den 70er- und 80er-Jahren Hochkonjunktur erlebte, verlor seine Entwicklungspsychologie nach seinem Tod weiter an Bedeutung. Aus Sicht der heutigen Wissenschaft unterschätzte Piaget das kausale Denkvermögen von Vorschulkindern, die – sofern sie nur das nötige Wissen besitzen – durchaus zu logischen Schlussfolgerungen in der Lage sind.

Über den Autor

Jean Piaget wird am 9. August 1896 als erstes Kind des Literaturprofessors Arthur Piaget und der Französin Rebecca Jackson im schweizerischen Neuchâtel geboren. Er wächst in einem protestantisch-liberal geprägten Milieu auf. Nach dem Abitur 1915 studiert Piaget Biologie an der Universität Neuchâtel. 1918 promoviert er mit einer Arbeit über Weichtiere. Die intensive Beschäftigung mit psychologischen und erkenntnistheoretischen Fragen führt ihn nach Zürich, wo er unter anderem bei C. G. Jung und Eugen Bleuler studiert. Von 1919 bis 1921 lebt Piaget in Paris, ehe er einem Ruf an das Institut Jean-Jacques Rousseau in Genf folgt. 1923 heiratet er seine Assistentin Valentine Châtenay, mit der er drei Kinder bekommt. 1925 wird Piaget Professor für Psychologie in Neuchâtel, ab 1929 ist er als Professor für Geschichte der Wissenschaften in Genf und als Direktor des dortigen Bureau International d’Éducation tätig. 1940 erhält er den Lehrstuhl für experimentelle Psychologie in Genf und wird Präsident der Schweizer Gesellschaft für Psychologie. Im Lauf der Jahre wird er mit zahlreichen Ehrendoktorwürden ausgezeichnet, unter anderem von der Harvard-Universität und der Pariser Sorbonne. Aus einer Vorlesungsreihe, die er im von den Nazis besetzten Frankreich am Collège de France hält, entsteht sein Buch Psychologie der Intelligenz (La psychologie de l’intelligence, 1947). Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Piaget zum Präsidenten der Schweizer Unesco-Kommission bestimmt. 1952 geht er als Professor an die Sorbonne, drei Jahre später gründet er in Genf das International Center for Genetic Epistemology, das er bis zu seinem Tod als Direktor leitet. Bis ins hohe Alter setzt er seine Forschungstätigkeit fort. Im Lauf seiner langen wissenschaftlichen Karriere verfasst er insgesamt über 60 Bücher sowie mehrere Hundert Aufsätze. Jean Piaget stirbt am 16. September 1980 in Genf.

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