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Neues Organon

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Neues Organon

oder Die wahre Anleitung zur Interpretation der Natur

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What's inside?

Bacons bahnbrechendes Werk über die Wissenschaften beendete das Mittelalter und läutete die Neuzeit ein.

Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Frühe Neuzeit

Worum es geht

Die Begründung der modernen Wissenschaften

Francis Bacon war ein großer Philosoph und Staatsmann der Renaissance, der zum Wegbereiter der modernen wissenschaftlichen Methodik wurde. Die Wissenschaft seiner Zeit (oder besser die Naturphilosophie, denn Wissenschaft im heutigen Sinn gab es noch nicht) war stark beherrscht von Vorstellungen, die sich noch aus der Antike und dem Mittelalter hinübergerettet hatten. Die Lehren des Aristoteles wurden eifrig gelesen und gedeutet; Argumentieren ohne Faktenkenntnis war gang und gäbe; in der Medizin galt Galens „Vier-Säfte-Lehre“; kultische und magische Lehren und die Alchemie waren weit verbreitet. Zugleich aber war es eine Zeit großer Erfindungen und Umwälzungen: Der Buchdruck, die Entdeckungen der Seefahrer, die Reformation sowie die Behauptung des Kopernikus, die Erde sei nicht der Mittelpunkt des Universums, beeinflussten das Weltbild zunehmend. Dieser Widerspruch fiel schon dem jungen Bacon auf, der in einer Art frühem Erweckungserlebnis die Eingebung hatte, die Suche nach Erkenntnis auf eine neue Grundlage zu stellen. Von diesem Sendungsbewusstsein ist sein Werk durchdrungen. Mit sprachlicher Verve und argumentativem Scharfsinn erklärt Bacon das meiste, was an Naturwissen von der Antike übernommen wurde, für untauglich und fordert systematischere Wege zur Erkenntnis.

Take-aways

  • Francis Bacon war eine schillernde Figur: Politiker, Schriftsteller, Philosoph, Schöngeist und zeitweise einer der mächtigsten Männer Englands.
  • Bacon wollte der mittelalterlichen Scholastik eine neue Art von Wissenschaft entgegensetzen. Sein Neues Organon sollte das Organon des Aristoteles ablösen.
  • Das Neue Organon bildet das wissenschaftstheoretische Fundament der Neuzeit und beeinflusste u. a. Descartes und Newton.
  • Herzstück von Bacons wissenschaftlicher Methode ist das systematische Sammeln aller verfügbaren Fakten sowie deren Auswertung mittels Induktion (d. h. er schließt vom Speziellen auf das Allgemeine).
  • Was die Erkenntnis am stärksten behindert, sind die so genannten Idole: Vorurteile und Halbwahrheiten, denen der Mensch aus verschiedenen Gründen anhängt.
  • Bacon unterscheidet vier Arten von Idolen: allgemein menschliche, persönlich-individuelle, durch Sprachschlamperei erzeugte und durch geistige Moden hervorgerufene.
  • Bacon überwand das Spekulieren, das bis dahin die Naturphilosophie bestimmte, und forderte einen systematischen Weg zur Naturerkenntnis.
  • Er propagierte die Aneignung von Wissen nicht um ihrer selbst willen oder zur Erkenntnis Gottes, sondern mit dem Ziel, die Natur zu beherrschen und zu nutzen.
  • Er war ein Prophet der Machbarkeit. Sein berühmtester Satz (den er allerdings wörtlich so nicht gesagt hat) lautet: „Wissen ist Macht.“
  • Unmittelbare praktische Fortschritte hat Bacon in der Wissenschaft aber nicht erzielt.
  • Die Rolle der Mathematik für die wissenschaftliche Erkenntnis hat er unterschätzt.
  • Manche halten Bacon für den wahren Autor der Werke William Shakespeares.

Zusammenfassung

Der Stand der Wissenschaft und die Notwendigkeit der Erneuerung

Der Zustand von Philosophie und Naturwissenschaft ist erbärmlich. Die Wissenschaften sind viel zu sehr gefesselt von dem Denken der antiken Griechen und haben es bisher nicht vermocht, sich davon zu lösen. So kann es keine Erkenntnis und keinen Fortschritt mehr geben. Es ist nötig, sich von diesem alten Denken zu befreien. Die „mechanischen Künste“ dagegen, also die Technik, stellen sich uns kraftstrotzend und voller Lust auf Neuerungen dar und zeigen einen permanenten Fortschritt. Freilich genügt es nicht, das Alte einfach niederzureißen und an seiner Stelle etwas völlig Neues zu errichten, wie es manchmal von kühnen Geistern gefordert wird. Denn auch dieses Vorgehen führt nicht zum Erfolg, da es nicht versucht, die Philosophie und das Wissen durch neue Werke zu erweitern, sondern nur die herrschende Meinung durch eine andere zu ersetzen. Das soll nun nicht heißen, dass in den vergangenen Jahrhunderten gar nichts zustande gebracht worden wäre. Aber so wie die Seefahrt, solange sie sich nach nichts als den Sternen richten konnte, weitgehend auf die Küsten beschränkt blieb und erst mit dem Kompass zu den großen Entdeckungen aufbrechen konnte, so eröffnet uns die Technik ganz neue Möglichkeiten der Erkenntnis.

Die Gefährlichkeit von Vorurteilen

Der Mensch hat ein enges Verhältnis zu Dingen, die er einmal für richtig erkannt hat oder an die er glaubt, weil es Mode ist oder weil sie ihm einleuchtend erscheinen. Er liebt sie sogar. Das ist trügerisch, birgt diese Haltung doch die Gefahr, dass er alles weitere hauptsächlich unter Gesichtspunkten wahrnimmt, die das ursprüngliche Bild bestätigen. Sogar wenn die dem Bild widersprechenden Fakten zahlreicher und bedeutender sind, wird er sie leugnen, ausblenden, wegdiskutieren, nur damit seine Vorstellung unangetastet bleibt. Wie verderblich diese Geisteshaltung bei der Suche nach Erkenntnis ist, zeigt etwa die Anekdote von dem Mann, dem man in einem Tempel eine Reihe von Dankestafeln zeigte, die die Überlebenden eines Schiffbruchs gestiftet hatten, weil ihre Stoßgebete erhört worden waren. Als man den Mann fragte, ob diese wundersame Rettung ihn nicht von der Existenz Gottes überzeuge, antwortete er: „Wo sind denn jene aufgeschrieben, die trotz ihrer feierlich abgelegten Gelübde ertrunken sind?“

Andere Formen der selektiven Wahrnehmung

Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu wahrer Erkenntnis ist die Sehnsucht nach Ordnung in der Natur. Der Mensch hat ein starkes Bedürfnis danach, Gesetzmäßigkeiten und Gleichförmigkeit zu entdecken. Deshalb fügt er oft etwas hinzu, was es nicht gibt, oder nimmt etwas weg, was sehr wohl existiert, sodass die Wirklichkeit seinem Schema angepasst wird. Auf diese Weise kommen solche Torheiten zustande wie die Meinung, die Himmelskörper müssten sich auf perfekten Kreisbahnen bewegen, oder die Einführung des Feuers als Element, damit sich zusammen mit Erde, Wasser und Luft eine Vierheit ergibt, der man die sinnlichen Wahrnehmungen zuordnen kann.

„Zur Frage der Nützlichkeit muss man offen gestehen, dass jene Weisheit, die wir besonders den Griechen verdanken, der Kinderstube der Wissenschaft angehört und teilweise das Eigentümliche der Kinder an sich hat.“ (S. 15)

Überdies ist der menschliche Verstand kein reines Instrument, sondern auf vielfältigen und oft kaum bemerkten Wegen von Gefühlen durchdrungen. Der Mensch glaubt Dinge eher, wenn er sie gefühlsmäßig für wahr hält. Deshalb fehlt ihm oft die Geduld oder der Wille, schwierige Nachforschungen anzustellen, unangenehme Tatsachen zu überprüfen oder ganz allgemein mit der gebotenen Nüchternheit und Verstandeskälte zu Werke zu gehen.

„Die Feinheit der Natur übertrifft die der Sinne und des Verstandes um ein Vielfaches; jene schönen Erwägungen, Spekulationen und Begründungen der Menschen sind deshalb ungesunde Fundamente; niemand ist leider da, der das bemerkt.“ (S. 85)

Die größte Beschränkung der Erkenntnis aber – und der bedeutendste Anlass zum Irrtum – ergibt sich aus den Unzulänglichkeiten der menschlichen Sinne. Was sinnlich wahrnehmbar ist, überwiegt bei Weitem alles andere, auch wenn dieses andere bedeutender ist. Mit dem bloßen Anblick hört oft die Betrachtung der Dinge auf, obwohl das Unsichtbare vielleicht viel wichtiger ist. So ist etwa über das Wesen der Luft fast nichts bekannt; auch bleiben alle großen Veränderungen verborgen, die sich vielleicht nur in winzigen Bewegungen äußern. Denn die menschlichen Sinne allein sind schwach und fehlerbehaftet. Folglich darf bei der richtigen Vorgehensweise der Sinn nur die Art und Weise des Experiments bestimmen. Über das Wesen der Natur entscheidet das Experiment selbst.

Die Rolle der Idole bei der Behinderung der Erkenntnis

Idole sind trügerische Vorstellungen, denen sich der Mensch aus verschiedenen Gründen hingibt. Sie halten seinen Geist besetzt und hindern ihn an der wahren Erkenntnis. Es gibt vier Arten solcher Idole:

  1. Die Idole des Stammes sind diejenigen, die in der Natur des Menschenstammes begründet liegen. Der Mensch nimmt selbstverständlich an, er und seine Wahrnehmung seien das Maß der Dinge. Aber das ist Unsinn: Er kann die Welt nur mit seinen Sinnesorganen wahrnehmen, und deshalb vermischt er seine eigene Natur mit der der Dinge.
  2. Die Idole der Höhle sind die Vorurteile des Einzelnen, sozusagen der blinde Fleck seiner Wahrnehmung. Jeder Mensch hat seine eigene Art und Weise, die Dinge wahrzunehmen und zu verzerren; jeder unterliegt anderen Einflüssen durch Erziehung und Kultur, durch die Bücher, die er liest, durch die Menschen, die er bewundert; und jeder hat seine eigene Art, diese Einflüsse zu verarbeiten. Deshalb gibt es keinen allgemein menschlichen Geist, jeder ist verschieden.
  3. Die Idole des Marktes sind Missverständnisse und Fehlurteile, die auf den sorglosen Gebrauch der Sprache zurückgehen. Die Sprache ist das, wodurch die Menschen miteinander verkehren; die Wörter bekommen ihre gebräuchliche Bedeutung durch einen unausgesprochenen Mehrheitsbeschluss – eben dadurch, wie die Menge sie, meist unbewusst und selbstverständlich, verwendet. Und eine solche, oft törichte Zuordnung knebelt den Geist, führt zu Streit und unsinnigen Schlussfolgerungen.
  4. Die Idole des Theaters schließlich sind diejenigen, die von geistigen Moden herrühren. Wie auf einer Bühne treten immer wieder Philosophen und Denker, Sektenführer und Scharlatane auf, verwirren uns mit ihren Reden und Theorien, erklären uns stets aufs Neue die Welt und bezeichnen ihre Meinung als die einzig wahre. Diese Leute haben teilweise beträchtlichen Einfluss, nicht nur auf das gegenwärtige Denken, sondern auch auf die Wahrnehmung der Vergangenheit.

Anleitung zur Interpretation der Natur

Die neue Methode, die wir brauchen, ist im Grunde ganz einfach, sie ist aber nicht immer leicht anzuwenden. Im Prinzip geht es darum, zunächst systematisch und umfassend Klarheit über den Wissensstand zu erlangen, auf dem man sich befindet, also die faktische Basis für die Erkenntnis zu legen. Dabei ist es wichtig, die Erkenntnis an die sinnliche Wahrnehmung anzubinden. Die reine Spekulation, die häufig auf die sinnliche Wahrnehmung folgt, ist zu verwerfen, denn sie führt oft zu reiner dialektischer Gedankenspielerei und ebnet eher neuen Irrtümern den Weg als der Wahrheit.

„Der menschliche Geist setzt vermöge seiner Natur leichthin in den Dingen eine größere Ordnung und Gleichförmigkeit voraus, als er darin findet; und obgleich vieles in der Natur einzeln und voller Ungleichheit ist, so fügt der Verstand dennoch Gleichlaufendes, Übereinstimmendes und Bezügliches hinzu, was es in Wirklichkeit nicht gibt.“ (S. 105)

Es wird in Zukunft zwei Arten geben, Wissenschaft zu betreiben. Diese sollten sich nicht feindlich gegenüberstehen, sondern einander ergänzen. Die eine Art wird das bestehende Wissen pflegen und in kleineren Aspekten ergänzen, die andere wird zu wahrhaft neuen Erkenntnissen vorstoßen. Wer wegen seiner Neigung oder Veranlagung nur zur ersten Art taugt, der soll mit ihr glücklich werden. Wer aber nicht beim einmal Erreichten stehen bleiben möchte, sondern zu echtem Erkennen gelangen will, ist ein wahrer Wissenschaftler.

„Die Menschen lieben einzelne Wissenschaften und Betrachtungen besonders, entweder weil sie sich für ihre Urheber und Erfinder halten oder weil sie sich recht viel darum gemüht und sich daran gewöhnt haben.“ (S. 117)

Gänzlich neuartige Erkenntnis kann man nur erreichen, wenn man sich auch auf neue Wege begibt. Es wäre vermessen und obendrein unlogisch zu erwarten, dass man etwas erreichen kann, was noch nie zuvor erreicht worden ist, ohne Methoden anzuwenden, die noch nie angewandt wurden.

Neue Wege zur Erkenntnis

Die große Zahl der Fakten und Einzelbeobachtungen auf jeglichem Gebiet macht es notwendig, diese so vollständig wie möglich zu sammeln und in Übersichten zu ordnen. Die Übersichten über alle bekannten Fakten müssen sinnvoll gegliedert sein, sodass sie zur weiterführenden Erkenntnis geeignet sind. An diese Tafeln, sofern sie alle Fakten enthalten und wohlgeordnet sind, muss der forschende Geist sich halten.

„Aber das bei Weitem beste Beweismittel ist die Erfahrung, wenn sie beim Versuch selbst verharrt.“ (S. 147)

Notwendig ist auch eine neue Methode der Induktion, also der Herleitung allgemeiner Regeln aus Einzelfällen. Das Grundübel bei der Anwendung der Induktion in der Naturphilosophie besteht darin, dass man von Einzelbeobachtungen völlig planlos zu allgemeinen Sätzen und Prinzipien hinüberspringt und dadurch abstrakte Gedankenkonstruktionen erzeugt, die völlig unzuverlässig und nichtssagend sind. Es gibt erst dann Hoffnung für die Wissenschaft, wenn man wie auf einer Leiter auf regelmäßigen Stufen allmählich höhersteigen kann: von den Einzeltatsachen zu den unteren Grundsätzen, dann zu den mittleren und schließlich zu den allgemeinsten. Denn die allgemeinsten Sätze sind nichts wert, wenn sie nicht auf den gut begründeten mittleren ruhen und durch sie an das unmittelbar Erfahrbare der unteren Stufen angebunden sind.

„Die Weisheit der Griechen war aber Professorenweisheit, die sich in Disputationen erging. Diese Art ist der Erforschung der Wahrheit ganz und gar entgegen.“ (S. 151)

An diese neue Form der Induktion müssen mehrere Forderungen gestellt werden. Zum einen gilt es zu prüfen, ob ein mittels Induktion aufgestellter Satz nur für die Summe der Einzelfälle gilt, aus denen er abgeleitet wurde, oder ob er auch darüber hinausreicht. Ist dies der Fall, muss geklärt werden, ob der erweiterte Umfang durch neue Tatsachen unterstützt oder gleichsam aufgefüllt werden kann.

Anwendung der Methode: Tafel der bejahenden und verneinenden Fälle

Als Beispiel für die Methode der systematischen Faktensammlung sei eine Untersuchung über das Phänomen der Wärme angeführt. Man sammle ohne vorheriges Urteil alle Phänomene, denen Wärme zukommt, und führe sie in einer langen Liste auf, also z. B. Sonnenstrahlen, Flammen, heiße Quellen, erhitzte Flüssigkeiten, heiße Winde, Funken, alles Haarige und Pelzige, jeder stark geriebene Körper, gepresstes feuchtes Gras, gelöschter Kalk, frischer Pferdemist, das Brennen von Essig auf der Haut, das Brennen von scharfem Frost usw. Hat man eine solche Faktensammlung, stellt man genauso systematisch die Verneinungen zusammen, d. h. man überprüft für jeden Fall, ob das betreffende Objekt auch ohne die untersuchte Eigenschaft vorkommen kann. Im Falle der Sonnenstrahlen wären z. B. das Leuchten des Mondes, der Sterne oder der Kometen zu untersuchen, die bekanntlich nicht als warm empfunden werden. Eine Flamme hingegen ist in keinem Fall nicht auch heiß.

Tafel der Vergleichung

Sobald dies geleistet ist, stellt man eine „Tafel der Grade oder der Vergleichung“ her, auf der jene Fälle auftauchen, bei denen die Eigenschaft in verschiedenem Grade auftritt. Flammen und glühende Körper etwa haben sehr unterschiedliche Wärmegrade, während feste Körper von sich aus keine Wärme haben; sie muss ihnen von außen zugeführt werden. Dem menschlichen Gefühl wiederum ist die Wärme etwas Relatives: Laues Wasser kann uns kalt oder warm erscheinen. Bei allen diesen Phänomenen ist zu beachten, dass wir es hier mit zahlreichen Fällen zu tun haben, denen viel Unsicherheit anhaftet. Dies zeigt nur, wie nötig eine systematische Wissenschaft ist.

Ausschließung der nicht dazugehörenden Fälle

Im nächsten Schritt muss man alle Fälle von der Liste ausschließen, die nicht zur Eigenschaft des Warmen gehören. So weist z. B. etwas, was von Sonnenstrahlen beschienen wird, nicht die Eigenschaft von Wärme auf. Denn das Ding selbst ist nicht warm, wenn es nicht beschienen wird. Auch die Wärme von Körpern, die durch Reibung erzeugt wird, kann keine originäre Eigenschaft dieser Körper sein. Und so wie mit der Wärme sollte man auch mit allen anderen Phänomenen der Natur verfahren: Farbe, Bewegung, Gewicht, Körperlichkeit, Magnetismus usw.

Zum Text

Aufbau und Stil

Das Neue Organon, im Original auf Latein, ist in zweierlei Hinsicht bruchstückhaft. Zum einen hatte Bacon ursprünglich ein umfassendes Werk geplant, das mit allen überkommenen Vorurteilen und Irrtümern in der Naturphilosophie aufräumen und die Suche nach Erkenntnis auf eine solide Basis stellen sollte. Diese Instauratio Magna, zu Deutsch „Große Erneuerung“ (der Wissenschaften), war auf sechs Teile angelegt. Nur der zweite und der sechste Teil wurden nahezu vollständig ausgeführt und bilden nun das Neue Organon. Schon diese beiden Teile allein gelten als ein Hauptwerk der Wissenschaftstheorie. Der zweite Aspekt des Fragmentarischen betrifft Stil und Aufbau des Werks. Es besteht durchgehend aus Aphorismen, die zwischen wenigen Zeilen und mehreren Seiten lang sind. Es ist anzunehmen, dass der dadurch entstehende mosaikartige Charakter des Textes symbolischen Gehalt hat: Die vielen Partikel stünden demnach für die Vielzahl von Einzelwahrnehmungen der beobachtbaren Welt, aus denen sich ein schlüssiges Gesamtbild ergibt. Das Neue Organon ist zuweilen von einer recht deutlichen Sprache, vor allem dort, wo die Schwächen der überkommenen Naturphilosophie kritisiert werden. Ein deutliches Zeichen von Bacons Selbstbewusstsein ist die Art und Weise, wie er sich als unerschrockenen und unermüdlichen Kämpfer gegen Unwissenheit und Vorurteile stilisiert. Seine Sprache bekommt dann einen Zug, der seine Bemühungen geradezu als Schlacht inszeniert.

Interpretationsansätze

  • Bacons Auffassung von Wissen gipfelt in einem Satz, der sich zwar wörtlich so nicht bei ihm findet, der ihm aber zugeschrieben wird: „Wissen ist Macht.“ Gemeint ist nicht die politische Macht, sondern die Machbarkeit, d. h. das Wissen über die Natur macht es möglich, sie zu beherrschen und zu nutzen. Diese Haltung steht im Gegensatz zum an der Antike orientierten Erkenntnisstreben, dem es darum ging, im Wesen der Natur Gott zu erfassen.
  • Einer der genialsten und modernsten Gedanken von Bacons Wissenschaftskonzeption ist der, dass eine gültige Theorie gerade auch die Abweichungen vom Normalfall erklären muss. Seit Aristoteles wurden Fakten, die nicht zur Grundannahme passten, oft geleugnet oder vernachlässigt.
  • Zu den Dingen, die Bacon am stärksten anprangert, gehören die Vorurteile. Immer wieder beschreibt er, wie Vorurteile für die objektive Wahrnehmung hinderlich sind, und erfasst damit das, was wir heute als „selektive Wahrnehmung“ bezeichnen.
  • Das Neue Organon ist auch das Dokument einer grandiosen Selbstinszenierung. Bacon stellt sich als großen Denker dar, der in einem kühnen Wurf den Weg zur Erkenntnis auf eine völlig neue Grundlage stellt. Den Zeitgenossen musste es wie eine bodenlose Frechheit erscheinen, Aristoteles, den unantastbaren „Gott der Wissenschaften“, nach 2000 Jahren einfach so vom Sockel zu stürzen.
  • Bacons Formulierung von den zwei Arten, Wissenschaft zu betreiben, („eine Art, die Wissenschaft zu pflegen, und eine andere, sie zu erfinden“) nimmt auf verblüffende Weise vorweg, was im 20. Jahrhundert Thomas Kuhn in seiner Lehre vom Paradigmenwechsel „normale Wissenschaft“ und „wissenschaftliche Revolution“ nannte.
  • Insgesamt ist Bacon in jenen Teilen seines Werks, wo er den Stand der zeitgenössischen Wissenschaft anprangert und die Hindernisse auf dem Weg zur Erkenntnis analysiert, stärker als dort, wo er tatsächlich eine systematische Erkenntnismethode zu etablieren versucht.

Historischer Hintergrund

Aufbruch in die Neuzeit

Das Zeitalter der Renaissance (15./16. Jahrhundert) war von einem Widerspruch geprägt. Auf der einen Seite machten Handwerk, Künste und Technik gewaltige Fortschritte. Die kühnen technischen Visionen des Leonardo da Vinci, die unerschrockenen Expeditionen von Vasco da Gama, Christoph Kolumbus und Ferdinand Magellan, die anatomischen Versuche des Andreas Vesalius, der das Innere des menschlichen Körpers sichtbar machte, die Umwälzungen durch die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg, die kreative Explosion in der bildenden Kunst – alles atmete Aufbruch, Wagnis, Neubeginn. Aber bei den grundsätzlichen Fragen darüber, was die Natur ist, was Erkenntnis ist und wie man zu ihr gelangt, also bei all dem, was man heute als Wissenschaft oder auch als Wissenschaftsphilosophie bezeichnen würde, herrschte Stillstand. Die nach anderthalb Jahrtausenden immer noch überragende Autorität des Aristoteles in der mittelalterlichen scholastischen Philosophie einerseits und das mit Magie und Esoterik vermischte Treiben der Alchemisten andererseits blockierten jeden wirklichen Fortschritt in der systematischen Erkenntnis der Natur. Es ist das Verdienst von Francis Bacon, dies als einer der Ersten erkannt und mit einem gewaltigen Kraftakt das Steuer herumgeworfen zu haben.

Entstehung

Die Grundidee zu einer Erneuerung nicht nur der Wissenschaften, sondern eigentlich der gesamten Kultur entwickelte Francis Bacon auf dem College in Cambridge und dann bei seinem dreijährigen Frankreichaufenthalt, wo er eine Kultur erlebte, die er als seiner heimischen überlegen empfand. Dass er später über lange Zeit hinweg zugleich an mehreren Teilen der Instauratio Magna arbeitete, wo er eigentlich schon wissen musste, dass er nicht jeden vollenden konnte, hat die Forschung lange beschäftigt. Möglicherweise wollte er den groß angelegten Plan dadurch glaubwürdiger machen, dass von allen Teilen bereits Stücke fertig waren. Eine etwas subtilere, aber ebenso wahrscheinliche These geht davon aus, dass Bacon damit gerade das Systematische seiner Methode betonen wollte: Alles führt zu Erkenntnis, egal, an welchem Teil des Werkes man arbeitet.

Im Grunde aber ist Bacons Wissenschaftskonzeption unvollständig ohne das einige Jahre nach dem Neuen Organon erschienene Fragment Neues Atlantis (1627), eine Mischung aus Essay und Romanhandlung, in der Bacon seine Vision einer umfassenden Wissenschaft ausschmückt. Dort beschreibt er eine Vielzahl von spezialisierten und vernetzten Instituten: Das eine widmet sich der Pharmazeutik, das andere der Mathematik, eines erforscht die Lebensbedingungen unter Wasser und ein anderes sogar die Kunst des Betrügens – eine sehr frühe Vision des Wissenschaftsbetriebs, wie wir ihn seit etwa der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tatsächlich haben.

Wirkungsgeschichte

Bacons Neues Organon zog einen Schlussstrich unter das Mittelalter und stieß das Tor zur Neuzeit auf, durch das wenig später mit Fanfarenstößen René Descartes und Isaac Newton traten. Immanuel Kant bescheinigte Bacon ausdrücklich, eine „Revolution der Denkart“ vollzogen zu haben. Die Grundsätze der Royal Society, der angelsächsischen Gelehrtengesellschaft zur Wissenschaftspflege, die 1660 gegründet wurde, sind stark an Bacons Ideen orientiert. Auf rein wissenschaftlichem Gebiet aber war Bacons Einfluss eher gering, zum einen, weil er selbst keinen praktischen Beitrag leistete, zum anderen, weil er die Bedeutung der Mathematik stark unterschätzte. Zwar sollten bis zu Newtons Gravitationsgesetzen in der Tat noch 45 Jahre vergehen, doch Mathematik und Physik hatten schon Fortschritte erzielt, die Bacon ignorierte. Deshalb war er bei einigen tatsächlich weltbewegenden Fragen nicht auf der Höhe der Zeit. Den Erkenntnissen von Nikolaus Kopernikus und Johannes Kepler, etwa dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, mochte Bacon sich nicht anschließen – während sein Zeitgenosse Galileo Galilei, der fast gleichaltrig war, dafür sein Leben riskierte. Dieser setzte die von Bacon geforderte neue Wissenschaft auf Basis der Beobachtung und des Experiments bereits um. Es ist aber wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass Bacon die britische Tradition des Skeptischen und Pragmatischen mit begründet hat.

Über den Autor

Francis Bacon ist eine schillernde Figur: Politiker, Schriftsteller, Philosoph, Schöngeist und Naturforscher, aber auch Machtmensch machiavellistischer Prägung, mit atemberaubender Karriere und ebensolchem Absturz. Der junge Francis, geboren am 22. Januar 1561 in London, fällt bald durch seine Begabung auf. Als Mitglied der obersten Gesellschaftsschicht lernt er früh, die Möglichkeiten seiner Herkunft zu nutzen. Er wird zunächst von den besten Privatlehrern und ab zwölf Jahren am Trinity College in Cambridge unterrichtet; bereits als Jugendlicher studiert er die Klassiker im Original und beherrscht sieben Sprachen. Mit 15 Jahren wird er zur Londoner Rechtsschule Gray’s Inn zugelassen, einer juristischen Kaderschmiede; gleichzeitig beginnt er jedoch einen dreijährigen Frankreichaufenthalt, wo er unter der Obhut des englischen Botschafters eine Art Volontariat im diplomatischen Dienst absolviert und am französischen Hof wie auch im Kulturleben vielfältige Erfahrung sammelt. Zurück in London, beginnt er mit dem Jurastudium, und obwohl ihn die Materie nicht sonderlich interessiert, ist er einer der Besten. Seine Leidenschaft aber gilt der Bildung und der Kultur. In Frankreich hat er ein reiches Kulturleben kennen gelernt; nun nimmt er sich als Lebensziel nichts weniger vor als die komplette Erneuerung der englischen Kultur. Im Alter von 23 Jahren erhält er einen Sitz im Parlament, bereits vorher wird er als Rechtsanwalt zugelassen. Er verkehrt mit großen Geistern und einflussreichen Politikern, selbst mit Königin Elisabeth, arbeitet Reformvorschläge aus, schreibt Expertisen und Denkschriften, Essays, Theaterstücke und philosophische Schriften. 1603 wird er zum Ritter geschlagen, 1616 zum Geheimen Staatsrat ernannt, 1617 zum Großsiegelbewahrer, 1618 zum Lordkanzler und zum Baron, 1621 schließlich zum Viscount St. Alban. Gerade als er auf dem Gipfel seiner Macht ist, stolpert er über eine Bestechungsaffäre, wahrscheinlich inszeniert von einem seiner Gegner. Er verliert sämtliche Ämter, wird sogar kurz inhaftiert, kommt aber relativ glimpflich davon und verbringt den Rest seines Lebens als Privatier. Bei dem Experiment, ob tote Hühner tiefgekühlt werden können, indem man sie mit Schnee ausstopft, zieht sich Bacon eine Erkältung zu und stirbt am 9. April 1626 an einer Lungenentzündung.

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