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Andorra

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Andorra

Stück in zwölf Bildern

Suhrkamp,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

Max Frischs berühmtes Drama über die Macht der Vorurteile ist eines der meistgespielten Theaterstücke des 20. Jahrhunderts.


Literatur­klassiker

  • Drama
  • Nachkriegszeit

Worum es geht

Das Modell Andorra

Andorra ist bei Frisch ein fiktiver Staat, der an das ebenso fiktive Nachbarland der Schwarzen grenzt. Die Andorraner sind ein kleinbürgerliches, patriotisches, in Klischeevorstellungen verharrendes Volk, das sich vor einem möglichen Angriff der ihnen verhassten, weil überlegenen Schwarzen fürchtet. Die Schwarzen verfolgen alle Juden – und Andri wird von seinem Vater, einem Lehrer in Andorra, als ein vor den Schwarzen gerettetes Judenkind ausgegeben. Unter diesem Stigma und den Vorurteilen der Andorraner leidet Andris Selbstbewusstsein erheblich. Als seine leibliche Mutter erscheint – keine Jüdin, sondern eine Schwarze –, kann er die Wahrheit nicht anerkennen, da er sich tatsächlich schon als der Jude fühlt, als den ihn seine intoleranten Landsleute sehen. Wenig später fallen die Schwarzen in Andorra ein und die Bürger sehen während einer „Judenschau“ zu, wie der unschuldige Andri hingerichtet wird. Das 1961 uraufgeführte Bühnenstück von Max Frisch zeigt viele Parallelen zur Situation der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Auch dort war Antisemitismus weit verbreitet, und eine große Zahl aus Deutschland flüchtender Juden wurde an der Grenze abgewiesen. Frischs Andorra ist gleichwohl als Modell zu verstehen: Jedes Land kann zu einem Andorra werden. Das Stück war ein großer Erfolg und wurde auf allen wichtigen deutsprachigen Bühnen gespielt.

Take-aways

  • Andorra ist Max Frischs berühmtes Bühnenstück über Antisemitismus und die Macht der Vorurteile.
  • Eine Skizze findet sich bereits in Frischs Tagebuch von 1946. Vollendet und uraufgeführt wurde das Stück aber erst 1961.
  • Das fiktive Land Andorra ist von einem kleinbürgerlichen Volk bewohnt, das von seiner Reinheit überzeugt ist und das Nachbarland der Schwarzen fürchtet.
  • Die Schwarzen sind ein Volk von Antisemiten, dessen Ziel die Ausrottung der Juden ist, während die Andorraner sich zum Zweck des Selbstschutzes neutral geben.
  • In Andorra lebt der junge Andri. Er ist der Adoptivsohn des Lehrers Can, der das vermeintliche Judenkind einst vor den Schwarzen gerettet haben soll.
  • Von allen Seiten schlagen Andri massive antisemitische Vorurteile entgegen, bis er schließlich selbst von seinem Anderssein überzeugt ist.
  • Niemand weiß, dass Andri gar kein Jude ist, sondern der uneheliche Sohn des Lehrers und einer Frau aus dem Volk der Schwarzen.
  • Als Andri Barblin, die Tochter des Lehrers (und somit seine Schwester), heiraten will, verbietet dies der Lehrer.
  • Andri wird dadurch endgültig von seinem „Judsein“ überzeugt. Als die Wahrheit seiner Herkunft ans Licht kommt, glaubt er sie nicht.
  • Die Schwarzen fallen in Andorra ein und versammeln alle Bewohner zur „Judenschau“. Andri wird trotz des Einspruchs seines Vaters als angeblicher Jude hingerichtet.
  • Der Lehrer begeht Selbstmord und Barblin verliert den Verstand. Die Bewohner Andorras weisen alle Schuld von sich.
  • Auch wenn es Frisch im Vorwort zu leugnen scheint: Andorra ist eine Anspielung auf das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.

Zusammenfassung

Schneeweißes Andorra

Während die junge Lehrertochter Barblin ihr Haus weiß anstreicht, kommt der Soldat Peider vorbei und macht dem Mädchen Avancen. Sie verwahrt sich dagegen mit der Aussage, sie sei verlobt. Der Soldat ignoriert ihre Abweisung spöttisch. Pater Benedikt erscheint, lobt Barblins Arbeit und preist ein „schneeweißes Andorra“. Der Soldat reagiert zynisch und verächtlich auf den Ausspruch des Geistlichen. Barblin fragt den Pater ängstlich, ob das Gerede wahr sei, dass das Nachbarland der Schwarzen Andorra überfallen würde, um dann jeden Juden an einen Pfahl zu binden, ihm ins Genick zu schießen und seine Braut kahl zu scheren. Der Pater weicht der Frage des Mädchens aus, indem er ihren Vater, den Lehrer Can, kritisiert, der sich ständig betrinkt, während die Familie in Armut lebt. Schließlich beteuert er dem Mädchen, dass kein Mensch ihren Andri verfolge.

„Wir werden ein weißes Andorra haben, ihr Jungfraun, ein schneeweißes Andorra, wenn bloß kein Platzregen kommt über Nacht.“ (Pater, S. 9)

Zur selben Zeit verhandelt der Lehrer mit dem Tischler über eine Lehrstelle für seinen Pflegesohn Andri, von dem er sagt, er sei ein Judenkind, das er vor 20 Jahren vor den Schwarzen gerettet habe. Da der Tischler Andri nicht in seine Werkstatt aufnehmen will, verlangt er einen Wucherpreis von 50 Pfund, im Wissen, dass der Lehrer so viel ohnehin nicht bezahlen kann. Er behauptet, Andri sei für den Handwerkerberuf nicht geeignet, weil er diese Fertigkeiten „nicht im Blut“ habe. Plötzlich erblickt der Lehrer einen Pfahl auf dem Platz von Andorra, den aber niemand außer ihm zu sehen scheint. Der Tischler beharrt weiter auf seinem Preis, während der Wirt sich einmischt und dem Lehrer anbietet, ihm für denselben Preis Land abzukaufen. Wenn es ums Geld gehe, so der Wirt, sei der Andorraner „wie der Jud“. Die Familie des Lehrers wohnt in ärmlichen Verhältnissen, doch Can ist entschlossen, Andri die Tischlerlehre zu finanzieren. Er soll als Jude in Andorra nicht benachteiligt sein.

Andris Diskriminierung

Andri spricht mit seiner heimlichen Verlobten Barblin über das Gerede der Leute. Er fragt sie, ob es wahr sei, dass er kein Gefühl habe, geldgierig und nur stark im Verstand sei. Voller Selbstzweifel vergleicht sich Andri mit den anderen Andorranern und stellt seine eigene Identität infrage. Barblin versucht, ihn von der Fixierung auf die Meinung anderer zu befreien, indem sie ihm ihre bedingungslose Liebe versichert, die einzig zähle – doch vergeblich: Andri hält sich selbst für verflucht und glaubt, das zu sein, wofür man ihn hält. Er ist von der Macht des „bösen Blicks“ anderer Leute überzeugt, der einem Einzelnen das eigene Glück verwehren kann.

„Ist’s wahr, Hochwürden, was die Leut sagen? Sie sagen: Wenn einmal die Schwarzen kommen, dann wird jeder, der Jud ist, auf der Stelle geholt. Man bindet ihn an einen Pfahl, sagen sie, man schießt ihn ins Genick. Ist das wahr oder ist das ein Gerücht?“ (Barblin, S. 12)

In der Tischlerwerkstatt überprüft der Geselle Fedri Andris ersten fertiggestellten Stuhl: Er ist einwandfrei und hält jeder Belastung stand. Als jedoch der Tischler kommt und einen beliebigen Stuhl nimmt, der sofort auseinanderbricht, stellt er sogleich Andri als Versager hin und setzt sich dabei auf dessen Stuhl. Andris Hinweis, dass der Tischler auf dem von ihm hergestellten Stuhl sitzt, wird ignoriert und der Geselle verschweigt, dass der schlechte Stuhl von ihm selbst stammte. „Wieso habe ich kein Recht vor euch?“, fragt Andri entrüstet. Der Tischler bleibt unberührt von Andris Wutausbruch und schlägt ihm vor, statt in der Werkstatt im Büro als Verkäufer zu arbeiten, was ihm mit seiner „Schnorrerei“ eher liegen würde: „Das ist’s, was deinesgleichen im Blut hat.“ Andri wird gezwungen, Verkäufer statt Tischler zu werden.

„Die Andorraner sind gemütliche Leut, aber wenn es ums Geld geht, das hab ich immer gesagt, dann sind sie wie der Jud.“ (Wirt, S. 15)

Mit dem wachsenden Bewusstsein seiner Andersartigkeit verändert sich Andri. Er wird immer trauriger und einsamer und zieht sich enttäuscht von seinen Mitmenschen zurück.

Jüdische Empfindlichkeit

In der Lehrerstube wird Andri vom Doktor, der es allerdings nie wirklich zu einem Doktortitel gebracht hat, laienhaft untersucht. Er erzählt Andri von dessen Vater, der als junger Lehrer die alten Schulbücher zerrissen habe. Der Doktor prahlt vor Andri, er sei eigentlich Professor und habe die Welt gesehen, sei aber aus Liebe zur Heimat nach Andorra zurückgekehrt. Denn im Gegensatz zu den Juden, die auf allen Lehrstühlen der Welt säßen, halte er nichts von Titeln. Andri reagiert missmutig, und als kurz darauf der Lehrer erscheint, erfährt der selbst ernannte Amtsarzt von Andorra, dass sein Patient ein Jude ist. Daraufhin gibt er sich scheinheilig, beklagt die „typisch jüdische Überempfindlichkeit“ und geht.

„Ich lache, aber es ist nicht zum Lachen, wenn man den Menschen immerfort dankbar sein muss, dass man lebt.“ (Andri, S. 26)

Der Lehrer beschimpft den Doktor als Möchtegern-Intellektuellen, der wegen seiner eigenen Erfolglosigkeit neidisch auf die Juden sei. Bei Tisch eröffnet Andri seinem Pflegevater, dass er und Barblin heiraten wollen. Der Lehrer ist entsetzt und stößt ein lautes Nein aus. Barblin läuft weg. Tief enttäuscht findet Andri für sich nur eine Erklärung: „Weil ich Jud bin.“

Lug und Trug

In der Kneipe betrinkt sich der Lehrer und redet verworren über „Wahrheit“ und „Lüge“, wovon nur er allein wisse. Ein anderer Gast kann ihm nicht folgen und verweist auf die Drohungen des Nachbarlandes, der Schwarzen.

„Das ist kein Aberglaube, o nein, das gibt’s, Menschen, die verflucht sind, und man kann machen mit ihnen, was man will, ihr Blick genügt, plötzlich bist du so, wie sie sagen.“ (Andri, S. 28)

In der Zwischenzeit schleicht sich der Soldat Peider über den schlafenden Andri hinweg in Barblins Kammer. Kurz darauf erwacht Andri vor der Kammer und wundert sich über die verriegelte Tür. Laut spricht er von ihren gemeinsamen Plänen und von seinem Hass gegen Andorra. Da erscheint sein Vater, der ihm in betrunkenem Zustand unbedingt etwas sagen will. Doch Andri sieht nur dessen Trunkenheit und weist ihn von sich. Der Lehrer spürt den angestauten Hass seines Sohnes, der sich alleingelassen fühlt, und geht resigniert davon. Plötzlich tritt der Soldat mit nacktem Oberkörper aus der Kammer und jagt den schockierten Andri davon. Nun glaubt er sich auch von seiner großen Liebe verraten.

Judsein

Der Pater redet dem verzweifelten Andri, der sich von allen ausgeschlossen und gleichzeitig missgünstig beobachtet fühlt, erfolglos zu. Andri kann und will sich nicht länger als ewiger Außenseiter stillschweigend anpassen, sondern ist entschlossen, gegen die Vorurteile in Andorra anzukämpfen. Dem Pater erzählt er davon, wie ihm von Kindesbeinen an vorgehalten wurde, dass er alle Eigenschaften eines Juden habe: Er sei ohne Gemüt, feige, jedem gegenüber misstrauisch, geizig, geldgierig, krankhaft ehrgeizig und unbeliebt. Andri wünscht sich den Tod, sieht aber auch darin keinen Ausweg und bricht vor dem Pater zusammen. Dieser erkennt in dem einst heiteren Jungen einen nun äußerst ernsthaften, misstrauischen, immer nachdenklichen und verbitterten Menschen, aus dem der Selbsthass spricht. Angesichts dieses zerstörten Selbstbewusstseins entgegnet ihm der Pater, Andri müsse sich selbst lieben und sein „Judsein“ annehmen, er müsse akzeptieren, dass er nun mal anders sei und dass er gerade durch dieses Anderssein durchaus viele Vorzüge habe, um die ihn die anderen beneideten. Andri aber betont, dass er sich von den anderen gar nicht unterscheiden, sondern zu ihnen gehören will. Er möchte von seinen Mitmenschen um seiner selbst willen geliebt werden und beruft sich auf dasselbe Bibelzitat, auf das der Pater ihn hingewiesen hat: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“

Eine unbekannte Dame

Die Andorraner sind aufgebracht über die politische Lage, weil die Truppen der Schwarzen vor der Grenze stehen. Eine Senora aus dem Land der Schwarzen mietet ein Zimmer beim Wirt, der gegenüber den empörten Bewohnern das Gastrecht beschwört. In Wahrheit ist er nur auf das Geld der Dame bedacht. Der Doktor hält beschwichtigende Reden von einem „rechtschaffenen Andorra“ als „ein Hort des Friedens und der Freiheit und der Menschenrechte“, in dem niemand ein Verbrechen verüben werde. In der neuen Mieterin sehen aber alle einen Spitzel. Der Soldat nennt den Wirt einen Landesverräter, da er eine Schwarze beherbergt. Als die Senora die Kneipe betritt, verlassen außer dem Soldaten Peider und dem Gesellen Fedri alle den Raum. Der Soldat starrt die Fremde lüstern an. Andri erscheint und beginnt mit dem Soldaten einen Streit wegen Barblin. Er wird von Peider und seinen Kumpanen zusammengeschlagen. Die Senora geht aufgebracht dazwischen und verlangt nach einem Arzt. Anschließend bittet sie Andri, sie zu seinem Vater zu führen.

Angst vor der Wahrheit

Mit der Begegnung zwischen der Senora und dem Lehrer kommt die Wahrheit ans Licht: Andri ist der leibliche, uneheliche Sohn des Lehrers und der Senora. Obwohl sie beide die Vorurteile ihrer Landsleute nie teilten, scheiterten sie an der Angst, dass ihre Liebe von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden würde. So beschloss der Lehrer, Andri in Andorra als ein Judenkind auszugeben, das er vor den Schwarzen gerettet habe. Nun trauen sich die beiden aber nicht, Andri die Wahrheit zu sagen. Der Lehrer verbietet es der Senora geradezu, weil er einen noch größeren Hass Andris fürchtet. Bevor die Senora Andorra verlässt, schenkt sie Andri einen Ring mit einem Topas. Andri fühlt sich auf Anhieb zu ihr hingezogen.

„ist’s, was deinesgleichen im Blut hat, glaub mir, und jedermann soll tun, was er im Blut hat. Du kannst Geld verdienen, Andri, Geld, viel Geld ...“ (Tischler, S. 35)

Wieder wird der Pater beauftragt, mit Andri zu reden. Dieser spielt mittlerweile mit dem Gedanken, auszuwandern. Als der Pater ihm erklärt, dass er in Wahrheit kein Jude ist, dass der Lehrer und die Senora seine leiblichen Eltern sind, will Andri die Wahrheit nicht anerkennen. Er sei nun das, was man ihm immer nachgesagt habe, und jetzt liege es an Andorra, dass sie ihren „Jud“ annähmen. Da kommt der Lehrer und meldet, dass man die Senora mit einem Stein getötet habe. Angeblich soll Andri der Täter sein. Der Lehrer appelliert an den Pater, der bezeugen soll, dass Andri bei ihm war.

Geschwisterliebe

Am nächsten Morgen sitzt Andri allein auf dem leeren Platz von Andorra. Er nimmt den Rat, sich zu verstecken, nicht an, da er unschuldig ist. Der Lehrer betritt den Platz mit einem Gewehr, um Andri zu schützen. Denn die Schwarzen sind ins Land eingerückt und die Andorraner haben kampflos kapituliert, um mit den Schwarzen zu kooperieren. Aus Lautsprechern wird den Bewohnern versichert, dass keiner etwas zu befürchten habe.

„Das Schlimme am Jud ist sein Ehrgeiz. In allen Ländern der Welt hocken sie auf allen Lehrstühlen, ich hab’s erfahren, und unsereinem bleibt nichts andres übrig als die Heimat.“ (Doktor, S. 40)

Andri besucht Barblin in ihrer Kammer und drängt sie, mit ihm zu schlafen, da sie es ja auch mit dem Soldaten getan habe. Sie weigert sich, nennt ihn „Bruder“; er fühlt sich nun auch von ihr abgewiesen. Barblin versucht vergeblich, ihn davon zu überzeugen, dass sie Geschwister sind. Da stürmen Soldaten in die Kammer und führen Andri zur „Judenschau“ ab.

Die Judenschau

Eingeschüchtert warten die Andorraner auf ihrem großen Platz ab, was geschieht. Ihre Soldaten kollaborieren mit den Truppen der Schwarzen. Der Doktor meint, man dürfe keinen Widerstand leisten; der Wirt bezichtigt Andri des Mordes an der Senora; nur Barblin redet auf die Bewohner ein, sich zu widersetzen und Andri zu retten. Diese denken aber einzig an sich und zeigen keinerlei Zivilcourage. Als der Judenschauer erscheint, werden allen Leuten schwarze Tücher über den Kopf gezogen und jeder muss auf ein Trommelzeichen hin barfuß über den Platz gehen, damit der Judenschauer an ihren Füßen feststellt, wer Jude ist und wer nicht. Der Lehrer redet den Andorranern ins Gewissen: Andri sei sein Sohn und weder ein Jude noch ein Mörder. Der Soldat Peider unterstützt die Schwarzen und instruiert seine Landsleute, am Judenschauer vorbeizugehen. Als Andri an der Reihe ist, wird ihm das Tuch abgenommen. Zum zusätzlichen Beweis werden ihm die Hosentaschen umgekehrt, aus denen Münzen herausfallen. Man fordert von ihm den Ring der Senora. Als Andri sich weigert, wird das als jüdische Habgier gewertet. Alle flehenden Einwände des Lehrers werden ignoriert. Sein Sohn wird von den Soldaten abgeführt.

Schwarzes Andorra

Nach der Tragödie streicht Barblin das Pflaster weiß an. Sie ist geschoren und traumatisiert. Ihr Vater hat sich im Schulzimmer erhängt. „Ich weißle euch alle – alle“, klagt sie die Bewohner Andorras an, doch niemand will seine Schuld eingestehen. Alle tuscheln über Barblins Zustand und geben sich abweisend und reserviert, um nicht reagieren zu müssen. Einzig der Pater zeigt Reue. Barblin bewacht die verlassenen Schuhe ihres Bruders auf der Straße. Andris Schuhe darf niemand anrühren.

Zum Text

Aufbau und Stil

Das Stück Andorra ist in zwölf Bilder oder Szenen von unterschiedlicher Länge eingeteilt, was ganz im Sinne von Bertolt Brechts epischem Theater anfangs des 20. Jahrhunderts ist. Das epische Theater, das nicht nur auf Max Frisch, sondern auch auf viele andere Dramendichter jener Zeit eine starke Wirkung ausübte, hat im Gegensatz zum klassischen Theater das Ziel, den Zuschauer direkt anzusprechen, ihn zu belehren und zum Mitdenken zu bewegen. Er sollte nicht in erster Linie unterhalten, sondern aus einer gewissen Distanz für ein Thema sensibilisiert werden und ein kritisches Denken entwickeln. Brecht setzte zu diesem Zweck verschiedene „Verfremdungseffekte“ ein, und Frisch folgte ihm darin.

In Andorra verwendet er beispielsweise eine geradezu aufdringliche Symbolik, etwa wenn von einem „schneeweißen Andorra“ und den „Schwarzen“ die Rede ist. Die Figuren des Stücks sind z. T. namenlos (der Wirt, der Tischler, der Doktor, der Jemand) und stellen keine individuellen Charaktere, sondern Typen dar; der Zuschauer kommt nicht wirklich nahe an sie heran. Zwischen den Szenen lässt Frisch immer wieder einzelne Figuren in den Vordergrund zu einer „Zeugenschranke“ treten, vor der sie sich für das Geschehene rechtfertigen. Auch eine bittere Art von Humor setzt Frisch ein, um die Vorurteile der Andorraner gegenüber den Juden als lächerlich und dumm zu entlarven.

Interpretationsansätze

  • Andorra ist ein Modell: Ebenso wie das Land der Schwarzen ist es eine fiktive Nation, die gleichnishaft für jedes Land in jeder Zeit stehen könnte, in dem sich Ausgrenzungen aller Art ereignen. Dennoch sind Parallelen zu Deutschland und zur Schweiz während der Nazizeit mehr als augenfällig.
  • Das Stück ist eine Parabel (ein Gleichnis) über die Macht der Vorurteile und die Suche nach einer Identität – ein Thema, das Frisch auch in vielen anderen Texten behandelt hat. Hier ist es Andri, dem eine Identität als Jude von den Mitmenschen aufgedrängt wird, bis er schließlich selbst so stark an diese glaubt, dass ihn auch die Aufdeckung der Wahrheit nicht mehr von seiner Überzeugung abbringen kann.
  • Frisch nimmt Bezug auf das Bibelwort: „Du sollst dir kein Bildnis machen.“ Während die Bibel sich dabei auf Gott bezieht, wendet Frisch den Spruch auf die Menschen an: Ein Bildnis schränkt deren Freiheit, eine eigene Identität zu wählen, ein.
  • Mit der Judenschau, bei der der Jude an seinen Füßen erkannt werden soll, zeigt Frisch, wie absurd und lächerlich es ist, Menschen mit Stereotypen zu versehen, und welche Dummheit hinter Vorurteilen steckt.
  • Barblin wirft im Stück den Andorranern vor, dass sie schwarz geworden seien. Das heißt im Klartext, dass die Andorraner genauso schuldig sind wie die Schwarzen: Zwar führen sie das Verbrechen an Andri nicht selbst aus, sie lassen es aber in ihrer Passivität, Gleichgültigkeit und „Neutralität“ geschehen.

Historischer Hintergrund

Judenfeindschaft in Europa

Vorurteile gegen Juden haben im christlichen Europa eine lange Geschichte. Juden wurden immer wieder zum Sündenbock gemacht. Schon während des 13. und 14. Jahrhunderts wurden sie aus manchen Ländern ausgewiesen und waren zudem von wirtschaftlichen Ausgrenzungen betroffen: Sie durften kein Handwerk erlernen, sondern mussten ausschließlich im Geldgeschäft arbeiten, wodurch das Vorurteil aufkam, Juden seien immer dort, wo das Geld fließt.

Anfang des 20. Jahrhunderts betrachteten viele die kommunistische Revolution von 1917 als jüdische Verschwörung. Manche Juden entwickelten in ihrer Abseitsstellung eine Art Trotz und stiegen durch ihren Ehrgeiz, ihr Stigma loszuwerden, in höhere Schichten der Gesellschaft auf. Etliche Juden waren außerdem erfolgreiche Künstler und Intellektuelle in Deutschland.

Den Höhepunkt erreichte die Judenfeindschaft in der NS-Zeit, als die Nazis es sich zum Ziel setzten, die europäischen Juden auszurotten, und etwa sechs Millionen Menschen ermordeten. Erst Jahre später wurde bekannt, dass die Schweiz in jener Zeit mindestens 30 000 jüdische Flüchtlinge an den Grenzen abwies, um die Neutralität gegenüber den Deutschen zu wahren, aber auch weil antisemitische Gedanken unter der Schweizer Bevölkerung nicht selten waren.

Ein berühmter Zeitgenosse Frischs, der Schriftsteller und KZ-Überlebende Jean Améry, schrieb zur Unbelehrbarkeit der menschlichen Gesellschaft: „Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre im genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, dass immerhin manche von uns überlebten.“

Entstehung

Max Frisch schrieb schon 1946 eine kurze Prosaskizze in sein Tagebuch mit dem Titel Der andorranische Jude. Diese enthielt bereits alle Hauptpunkte der Handlung des späteren Bühnenstücks Andorra, das Frisch zwischen 1958 und 1961 verfasste. Der Suhrkamp Verlag veröffentlichte das Stück erstmals 1961, kurz vor der Uraufführung im Zürcher Schauspielhaus. Dem fertigen Werk setzte Frisch die Bemerkung voran: „Das Andorra dieses Stücks hat nichts zu tun mit dem wirklichen Kleinstaat dieses Namens, gemeint ist auch nicht ein andrer wirklicher Kleinstaat: Andorra ist der Name für ein Modell.“

Das Stück erschien zu einer Zeit, da Krieg und Holocaust schon ein paar Jahre zurücklagen, die Thematik war also nicht gerade brandaktuell. Frisch wollte wohl die restaurative Nachkriegsgesellschaft in Deutschland wie in der Schweiz aufrütteln und zur Beschäftigung mit den Phänomenen des Vorurteils und der passiven Täterschaft zwingen. Zur Zeit der Uraufführung übte sich die offizielle Schweiz im Verdrängen, was ihr Verhalten im Zweiten Weltkrieg anbelangt. Die Vergangenheitsbewältigung wurde erst in den 80er und 90er Jahren systematisch angepackt und erreichte mit dem umfassenden Bergier-Bericht (1999) ihren vorläufigen Abschluss.

Wirkungsgeschichte

Nach der Uraufführung 1961 im Zürcher Schauspielhaus triumphierte Frischs Andorra auf allen großen deutschsprachigen Bühnen und wurde von der Presse gefeiert. Der Andrang der Zuschauer war so groß, dass die Premiere auf drei aufeinanderfolgende Abende aufgeteilt wurde. Die Inszenierung erfolgte in enger Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Autor. Das Schweizer Publikum erkannte mehr amüsiert als beleidigt, dass Andorra zum großen Teil eine treffende Anspielung auf Frischs Heimatland war.

Für das Berliner Schillertheater inszenierte Fritz Kortner, selbst ein Jude, 1962 das Stück. Die Kritiker in Deutschland lobten das Drama als „zeitloses Zeitstück“, so ein Rezensent im Hamburger Abendblatt. Viele Theaterkritiker hielten Andorra für Frischs stärkste dramatische Leistung.

Auch im europäischen Ausland stieß Andorra geradezu ausnahmslos auf Wohlwollen. Eine einzige leise Kritik bestand darin, dass den Verhältnissen nicht wirklich auf den Grund gegangen und dass nicht gezeigt werde, warum Vorurteile entstünden, sondern nur, wie sie sich auswirkten. Den Erfolg des Stücks konnte diese Kritik kaum schmälern. Lediglich in New York, dem Zentrum des jüdischen intellektuellen Lebens in Amerika, fiel es durch.

Über den Autor

Max Frisch wird am 15. Mai 1911 als Sohn eines Architekten in Zürich geboren. Nach dem Gymnasium beginnt er ein Germanistikstudium, bricht es 1934 ab, arbeitet als freier Journalist, u. a. als Sportreporter in Prag, und verfasst Reiseberichte. Er ist vier Jahre mit einer jüdischen Kommilitonin liiert, die er heiraten will, um sie vor Verfolgung zu schützen, sie lehnt jedoch ab. Ab 1936 studiert er in Zürich Architektur, 1940 macht er sein Diplom. Ein Jahr später gründet er ein Architekturbüro und arbeitet gleichzeitig als Schriftsteller. Er heiratet 1942 seine ehemalige Studienkollegin Gertrud (Trudy) Constance von Meyenburg, mit der er drei Kinder hat. 1951 hält sich Frisch für ein Jahr in den USA und in Mexiko auf. 1954 erscheint sein erster Roman: Stiller. Das Buch ist so erfolgreich, dass Frisch sich nun ganz der Schriftstellerei widmen kann. 1955 löst er sein Architekturbüro auf und bereist die USA, Mexiko, Kuba und Arabien. 1958 erhält er den Georg-Büchner-Preis und den Literaturpreis der Stadt Zürich, ein Jahr später wird seine erste Ehe geschieden. 1960 zieht Frisch nach Rom, wo er fünf Jahre lang mit der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zusammenlebt – und die 23-jährige Studentin Marianne Oellers kennen lernt. 1961 wird das Theaterstück Andorra uraufgeführt, ein Gleichnis über die fatale Wirkung von Vorurteilen. 1964 erscheint der Roman Mein Name sei Gantenbein. Im Folgejahr übersiedelt Frisch zurück ins Tessin in die Schweiz. 1966 und 1968 unternimmt er größere Reisen in die UdSSR, 1970 folgt wieder ein längerer USA-Aufenthalt. Inzwischen hat er Marianne Oellers, mit der er jahrelang zusammengelebt hat, geheiratet. 1975 veröffentlicht Frisch die autobiografisch gefärbte Erzählung Montauk. Schweizkritische Schriften wie Wilhelm Tell für die Schule (1971) führen in seiner Heimat zu Widerspruch, in Deutschland findet er mehr Anerkennung. 1976 erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Max Frisch stirbt am 4. April 1991 in Zürich an Krebs.

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