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Die schöne Frau Seidenman

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Die schöne Frau Seidenman

Diogenes Verlag,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

In den schicksalhaften Episoden dieses modernen Romanklassikers spiegelt sich die Geschichte der polnischen Nation.

Literatur­klassiker

  • Roman
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Schicksale im besetzten Polen

In Szczypiorskis Buch geht es nicht in erster Linie um die schöne Frau Seidenman, wie der deutsche Titel suggeriert, sondern es geht um Polen. Und zwar vor allem um das Polen des 20. Jahrhunderts. Natürlich schildert Szczypiorski menschliche Einzelschicksale, und im Zentrum seines kunstvollen Figurengespinsts steht ebenjene Frau Seidenman. Ihre Verhaftung als angebliche Jüdin durch die Gestapo in Warschau löst allerlei Aktivitäten aus, mit denen ihre Freilassung erreicht werden soll: Ein Bote benachrichtigt ihren Nachbarn, dieser einen gemeinsamen Bekannten, der wiederum einen ehemaligen polnischen Partisanen, welcher seinerseits jemanden kennt, der die Freilassung erwirken könnte. Das ist Frau Seidenmans Geschichte. Szczypiorski erzählt aber zugleich noch andere, ähnlich bewegende polnische Lebensgeschichten. Das entstehende Gesamtbild zeigt: Mehr als in anderen europäischen Ländern macht in Polen das Volk die Nation aus und nicht ein territorial oder institutionell definierter Staat. Vor dem Hintergrund der deutschen Besatzung und der Judenverfolgung wurden das Land und seine Menschen einer moralischen Zerreißprobe ausgesetzt. Das von Szczypiorski ebenso bewegend wie kunstvoll dargestellte Schicksal einiger Leute in Polen steht auch exemplarisch für das Schicksal des ganzen europäischen Kontinents.

Take-aways

  • Andrzej Szczypiorskis Die schöne Frau Seidenman ist ein Roman über die polnische Nation zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.
  • Während der Besetzung Polens durch die Deutschen, als der polnische Staat gerade mal wieder nicht existiert, bemühen sich einige Polen um die Rettung von Juden.
  • Es gibt aber auch Polen, ja selbst polnische Juden, die mit den Nazis kollaborieren.
  • Einer von ihnen denunziert die schöne Jüdin Irma Seidenman, die heimlich außerhalb des Ghettos lebt, bei der Gestapo.
  • Frau Seidenmans Freilassung wird von einigen Polen erwirkt, von denen die meisten sie nicht persönlich kennen.
  • Die vierjährige Joasia wird ebenfalls von fast Fremden aus dem jüdischen Ghetto geschleust und in einem katholischen Waisenhaus untergebracht.
  • Dagegen kommt Joasias Bruder Henryk zu Tode, als er auf die Barrikaden des Auf-stands im Warschauer Ghetto klettert.
  • In die Gespräche und Reflexionen der Figuren fließen viele Details über die Vor- und Nachkriegsgeschichte Polens ein.
  • Erzählt wird nicht streng chronologisch, sondern sehr sprunghaft, wodurch ein kunstvolles und abwechslungsreiches Mosaik entsteht.
  • Andrzej Szczypiorski hat die deutsche Besatzung in Warschau selbst miterlebt. Seine Teilnahme am Aufstand 1944 brachte ihn ins KZ.
  • Das Menschenbild, das er in seinem Roman am Beispiel der Polen entwirft, sieht er als exemplarisch für alle Europäer und ihre Schicksale.
  • Deutlich wird aber auch, dass in Polen – mehr als in anderen Ländern – das Volk die Nation ausmacht und nicht ein Staatsgebilde.

Zusammenfassung

Die schöne Frau Seidenman

Irma Seidenman ist die Witwe des polnisch-jüdischen Arztes Ignacy Seidenman, der 1938 verstarb. Dr. Seidenman war ein großer Forscher und ein fürsorglicher Arzt; seinem Sarg sind viele Menschen gefolgt. Seine Frau, ebenfalls ein Jüdin, ist eine schlanke, äußerst elegante Erscheinung mit blondem Haar und blauen Augen. Als ihr Mann starb, war sie 36 Jahre alt. Nachdem die Deutschen Polen besetzt haben, zieht Irma Seidenman nicht, wie von den deutschen Besatzern angeordnet, ins Ghetto ihrer Heimatstadt Warschau. Sie wechselt mehrmals die Wohnung und es gelingt ihr, sich gefälschte Papiere zu verschaffen. Unauffällig lebt sie als angebliche polnische Offizierswitwe unter dem Namen Maria Gostomska im Warschauer Stadtteil Mokotów. Ihr Nachbar ist der weltfremde Dr. Adam Korda, ein Altphilologe, der von früh bis spät Autoren der klassischen Antike liest. Für eine elegante Erscheinung wie Frau Gostomska hegt er ehrfürchtige Bewunderung; mehr käme ihm nie in den Sinn.

„‚Ein Jude isst Kuchen!‘, als ob ein Jude, der in der Konditorei auf der Marszałkowska Kuchen aß, etwas wäre wie ein Dinosaurier, eine russische Großfürstin ohne Brillantohrringe oder eben ein Jude, der im Jahre 1942 in der Konditorei auf der Marszałkowska Kuchen aß.“ (S. 40)

Eines Tages wird Frau Seidenman von dem jüdischen Polizeispitzel Bronek Blut-man auf der Straße erkannt. Er liefert sie direkt bei der Gestapo ab und denunziert sie als Jüdin Irma Seidenman. Ihr Leugnen und ihre Papiere nützen ihr bei Sturmführer Stuckler nichts. Während des Verhörs kommt ein Zigarettenetui mit den Initialen „I. S.“ zum Vorschein: Es ist das letzte Geschenk ihres Mannes und aus Sentimentalität hat sie sich nicht davon getrennt. Frau Seidenman wird im Keller der Schuch-Allee, dem berüchtigten Sitz der Gestapo, eingesperrt.

„Mit welchem Recht bin ich erst zum Juden gemacht worden, um anschließend für mein Judentum zum Tode verurteilt zu werden?“ (Henryk, S. 46)

Zwei Tage später macht sich Johann Müller auf den Weg zu Sturmführer Stuckler. Der Herr Direktor Diplomingenieur Müller ist ein deutschstämmiger Pole aus Lodz; er ist Sozialist, Partisan und polnischer Patriot. Aufgrund seiner Stellung genießt er bei den Deutschen hohes Ansehen. Den verstorbenen Dr. Seidenman kannte er flüchtig, nicht aber dessen Frau. Aus seiner Partisanenzeit hat Müller einen Freund, den Eisenbahner Filipek. Filipek verwendet sich für Frau Seidenman und bittet Müller, die Jüdin „aus dem Kittchen rauszuholen“, wie sie das schon einmal beim Genossen Biernat gemacht haben. Diesen befreiten sie 40 Jahre zuvor in einer wahrhaftigen Köpenickiade aus einem Gendarmeriegefängnis. Müller fragt zwar, warum es ausgerechnet Frau Seidenman sein soll, wo doch alle Juden von den Deutschen verfolgt werden. Aber er sieht ein, dass er nicht alle retten kann, sondern im Moment eben nur diese eine Jüdin. Umgehend erscheint Müller bei Stuckler und behauptet erfolgreich bluffend, Frau Gostomska sei eine alte Freundin, bei der Verhaftung könne es sich nur um eine Ver-wechslung handeln. Während er den Gestapo-Mann mit reichlich Gerede einzulullen versucht, denkt Müller nur daran, wie sich Frau Seidenman, die er ja überhaupt nicht kennt, verhalten wird, wenn sie Stucklers Amtszimmer betritt. Doch Irma Seidenman reagiert geistesgegenwärtig. Bei der Gegenüberstellung lässt sie sich nichts anmerken und wenig später führt Müller seine „alte Bekannte“ untergehakt in eine Warschauer Konditorei.

Die Hintergründe der Befreiung

Mitten auf einer Warschauer Straße konnte sich Irma Seidenman dem Druck des dreisten jüdischen Spitzels Blutman nicht entziehen: Er drängte sie in eine Fahrrad-Rikscha. Beim Aussteigen in der Schuch-Allee empörte sie sich aber über die „Verwechslung“, gab dem Rikscha-Fahrer ihre Adresse und bat ihn, ihren Nachbarn Dr. Korda zu verständigen. Der Fahrer, von Frau Seidenmans eleganter, nicht jüdischer Er-scheinung beeindruckt, tat dies umgehend, und auch der eigentlich weltfremde Gelehrte Dr. Korda reagierte prompt. Er rief Paweł Kryński an, einen jungen Polen, der Frau Seidenman gelegentlich in der Wohnung in Mokotów besucht hatte und den er flüchtig kannte. Paweł hatte Frau Seidenman in schwärmerischer Liebe verehrt seit den Tagen, als sie – noch zu Lebzeiten von Dr. Seidenman – in Warschau Nachbarn waren. Nach Dr. Kordas Anruf verständigte Paweł wiederum den Eisenbahner Filipek. Er wusste, dass Filipek dem verstorbenen Arzt nach einer schweren Krankheit die Genesung zu verdanken hatte. Dr. Seidenman hatte Filipek sogar einen Kuraufenthalt finanziert. Paweł wusste außerdem, dass Filipek Verbindungen zu ehemaligen Partisanen hatte – also zu Leuten, die wohl als Einzige in einem solchen Fall genug Witz und Mut genug, um eine schöne und unschuldige Frau den Klauen ihrer Häscher zu entreißen.

Pawełs Freunde

Paweł Kryński ist ein knapp 20-jähriger polnischer Offizierssohn, der aber älter und reifer wirkt. Sein Vater ist in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, und der junge Mann schlägt sich nun irgendwie durchs Leben. Manchmal fädelt er „Geschäfte“ mit Kunstgegenständen ein. Er sucht die Nähe der verehrten Frau Seidenman und stattet ihr in Mokotów Besuche ab, wann immer sie es wünscht – unter dem Vorwand, ihr beim Ordnen des wissenschaftlichen Nachlasses ihres Mannes zu helfen. Was er wirklich für sie empfindet, verschweigt er ihr aber. Er hat eine gleichaltrige Freundin namens Monika, die er später heiraten wird. Sein bester Schulfreund ist Henryk Fichtelbaum, Sohn des Rechtsanwalts Jerzy Fichtelbaum. Henryk ist ein begabter Mathematiker, ein dunkler, ernster, sehr jüdischer Typus. Die Familie Fich-telbaum muss nach dem Einmarsch der Deutschen wie alle anderen Juden ins Warschauer Ghetto ziehen. Dort hält es Henryk jedoch nicht aus und flieht. Mit Pawełs Hilfe hält er sich ungefähr zwei Jahre lang an wechselnden Orten in Warschau und auf dem Land versteckt. Sein Übermut und sein Aussehen, das in diesen Zeiten wie ein Brandzeichen wirkt, werden ihm beinahe zum Verhängnis. So setzt er sich eines Tages in eine Konditorei in Warschaus Hauptstraße, was zu einem Aufruhr unter den Gästen führt. Ein andermal gewährt eine freundliche Prostituierte dem gehetzten und halb verhungerten jungen Mann für einige Tage Unterschlupf – und entjungfert ihn bei der Gelegenheit.

Die Rettung von Joasia

Henryks Vater, der in Vorkriegszeiten bekannte und geachtete Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum, glaubt nicht daran, dass er und seine Familie das Ghetto und die deutsche Besatzung überleben könnten. Seine Frau ist bereits gestorben. Nach Henryks Verschwinden aus dem Ghetto hat er nur noch seine vierjährige Tochter Joasia, ein zartes, unschuldiges Kind. Fichtelbaum weiß, dass er sie auf die Dauer nicht wird beschützen können. Bei einem nächtlichen Anruf fleht er den Richter Romnicki, den er von früher kennt, an, irgendetwas für Joasia zu tun. Romnicki ist ein älterer Herr, im Ruhestand, mit trägen Gewohnheiten. Er selbst kann das Kind nicht aufnehmen, das würde in seiner unmittelbaren Umgebung zu sehr auffallen. Aber noch am Telefon nennt er eine Adresse und trifft für Rechtsanwalt Fichtelbaums Tochter die Arrange-ments.

„Die älteren Kinder trugen schwerere Lasten. Der siebenjährige Artur, ein Junge von gutem Aussehen, aber ungutem Blick, in dem sich das tief verborgene Sediment der verfluchten Rasse verriet, lehnte die neue Persönlichkeit ab.“ (S. 73)

Wiktor Suchowiak, ein 33-jähriger Kleinkrimineller, ein Bandit mit Ganovenehre, hat sich Anfang der 40er Jahre vor allem auf den Menschenschmuggel aus dem Warschauer Ghetto heraus verlegt, was ihm als ebenso lukrative wie gute Beschäftigung erschien. Der Menschenschmuggel kam aber 1943 zum Erliegen, weil es „niemanden mehr durchzuschmuggeln gab“. Fichtelbaum übergibt Suchowiak sein Töchterchen. An bestochenen Wachen vorbei geht es hinaus aus dem Ghetto. Doch draußen lungert der Schöne Lolo herum, ein Taugenichts, der „Jidden“ leicht erkennt, ihnen zu ihren Verstecken folgt und sie erpresst, indem er droht, sie zu verraten. Haben sie nicht genug Geld, übergibt er sie tatsächlich den Deutschen. Auch in Joasia erkennt er sogleich ein jüdisches Kind und hält Suchowiak an. Dieser befiehlt dem Mädchen, das Gesicht zur Hauswand zu drehen, worauf er den Schönen Lolo nach Strich und Faden zusammenschlägt. 20 Jahre später begegnen sich die beiden zufällig wieder, diesmal in einem kommunistischen Umerziehungslager: Lolo hat immer noch so viel Respekt vor Suchowiak, dass er ihm mit einem guten Tipp dort das Überleben sichert.

„Er starb darum heiter, obwohl er wusste, dass er die Welt des vertrauenswürdigen Zeugnisses beraubte. Er glaubte indessen, es blieben andere übrig, denen er das Zeugnis seiner Erinnerung vermacht hatte.“ (über Richter Romnicki, S. 90)

Suchowiak bringt Joasia zunächst zu Paweł Kryński, dem besten Freund von Joasias Bruder Henryk, und dessen Mutter. Richter Romnicki holt die Kleine nach einigen Tagen ab und bringt sie in ein katholisches Waisenhaus, wo er sie in die Obhut von Schwester Weronika gibt. Dort hat man schon Erfahrung mit Kindern jüdischer Abstammung. Sie bekommen eine unanfechtbare Taufurkunde, man gibt ihnen neue, polnisch-katholische Namen, lehrt sie Gebete, trichtert ihnen eine neue Lebensgeschich-te und eine neue, rettende Identität ein. Bei kleineren Kindern wie Joasia fällt das leichter. Größere dagegen sind widerspenstiger, stolz und haben schon eine jüdische Identität. Joasia überlebt den Krieg unter dem Namen Marysia Wiewirówa. Danach wandert sie nach Israel aus und nimmt den Namen Miriam an. Als sie zum ersten Mal zusieht, wie ein israelischer Soldat mit einem einzigen Fußtritt eine Tür bei Palästinensern aufsprengt, hält sie es für richtig, dass „ein jüdischer Fußtritt die Menschheit zur Ordnung ruft“. Doch ihre Begeisterung währt nur kurz. Die Palästinenser sind gebückt, ihre Arme im Genick verschränkt, die Frauen kreischen. Joasia erkennt darin die immerwährenden Posen brutaler Gewalt, die durch alle Zeiten und an allen Orten Bestand haben. Als Joasia kurz darauf ihr erstes Kind zur Welt bringt, ist sie froh, dass es eine Tochter ist.

Zurück zu Frau Seidenman

Nicht alle überleben wie Joasia den Krieg und die deutsche Besetzung Polens. Henryk Fichtelbaum ist des ziellosen Umhertreibens müde geworden. Geradezu selbstmörde-risch geht er zurück ins Warschauer Ghetto, nimmt am Aufstand teil und kommt auf den Barrikaden um. Sein Vater, Rechtsanwalt Fichtelbaum, wird in seinem Versteck im Ghetto entdeckt und erleidet genau den Tod, den er erwartet hat. Richter Romnicki wird wegen der Rettung von Joasia inhaftiert. Im deutschen Gefängnis mit seinen rigorosen Appellen und Ritualen ist er nahe daran, den Verstand zu verlieren. Aber das Kriegsende rettet ihm das Leben. Er stirbt 1956 bei Verwandten auf dem Land.

„Das ganze jüdische Volk geht zugrunde, und du kommst mir mit dieser einen Frau Seidenman.“ (Müller, S. 98)

Johann Müller, der polnische Patriot deutscher Herkunft, verlässt angesichts der heranrückenden Sowjetarmee bei Kriegsende seine Heimat und lässt sich schließlich in Bayern nieder. Die „Moskowiter“ und ihre Knute will er nicht ertragen. Gelegentlich mokiert er sich über die geradlinigen, perfektionistischen Deutschen. Schon kurz nach der geglückten Befreiung von Frau Seidenman in Warschau fiel ihm ein, dass er mit den Russen nicht so leichtes Spiel gehabt hätte. Ein NKWD-Offizier statt eines Gestapo-Sturmführers hätte anstelle Frau Seidenmans bestimmt zunächst irgendeine andere blonde Frau ins Zimmer führen lassen, um Müllers Glaubwürdigkeit zu testen. Hätte er die falsche Frau dann überschwänglich als Frau Gostomska begrüßt, wäre es um ihn selbst geschehen gewesen. Doch der deutsche Polizeioffizier, von Beruf gehorsamer Mitvollzieher des Holocaust, sah sich selbst als Verwalter, der sich um das Schicksal namenloser Sklaven nicht zu kümmern brauchte, wenn er in seiner Freizeit hoch zu Ross ausritt. Johann Müller sah den Sturmführer schon damals als fantasielos und damit als typisch deutsch an: Weil Unaufrichtigkeit nicht Teil seines Wesens war, konnte er sich Heuchelei bei anderen auch nicht vorstellen und zog den glaubwürdigen Auftritt des Volksgenossen Direktor Müller daher nicht in Zweifel.

„Die Totalitarismen betreiben den Raub der Ehre, der Freiheit, des Eigentums, ja sogar des Lebens, und lassen weder den Opfern noch sogar den Banditen die geringste Wahlmöglichkeit.“ (S. 101)

Stuckler gerät bei Kriegsende in sowjetische Gefangenschaft und wird als Gestapo-Mann in Arbeitslager in der sibirischen Steppe geschleppt, wo er irgendwann an Hunger und Erschöpfung krepiert, ohne verstanden zu haben, wofür er büßen musste.

Paweł Kryński ist nach einer kurzen Internierung in Polen geblieben. Er wacht über Joasias Schicksal, solange dies nötig ist, hält noch jahrzehntelang Kontakt zu Schwester Weronika und auch zu Joasia selbst. Bisweilen räsoniert er über die Geschichte und das Schicksal Polens. Jahrzehnte nach den Ereignissen in der Schuch-Allee besucht er Frau Seidenman in Paris. Während sie auf einer Caféterrasse ihren Citron pressé schlürft, gesteht er ihr: „Sie waren die Leidenschaft meiner Jugend.“ Frau Seidenman hat dies früher schon bemerkt und ist ein wenig auf Distanz zu dem liebenswürdigen, hilfsbereiten Jüngling gegangen.

„Die Deutschen sind flach wie ein Brett! Ohne Fantasie, ohne Heuchelei, ohne Unaufrichtigkeit. Man hat Stuckler befohlen die Juden auszurotten, also tut er’s.“ (Müller, S. 146)

Nach dem Krieg trat Frau Seidenman in den polnischen Staatsdienst ein und arbeitete im höheren Dienst für die kommunistische Regierung. Ihr Schreibtisch stand sogar in dem-selben Gebäude in der Schuch-Allee, in dem sie einmal eine sehr bange Nacht in einem vergitterten Käfig zugebracht hatte. 1968 wird sie im Zuge antisemitischer Tendenzen innerhalb des politisch verunsicherten Regimes entlassen. Sie zieht nach Paris, das sie von Besuchen aus der Vorkriegszeit kennt. Dort lebt sie als alte, einsame, unansehn-licher werdende polnisch-jüdische Emigrantin und sucht täglich dieselben Cafés in der Avenue Kléber auf.

Zum Text

Aufbau und Stil

Szczypiorski führt den Leser keineswegs auf einem geradlinigen und chronologischen Weg durch die Ereignisse. Die zeitliche und dramaturgische Abfolge sowie die Zuordnung der Figuren zueinander sind vielmehr sehr kunstvoll, geradezu filigran verschränkt. Stellenweise springt Szczypiorski von einem Satz zum anderen und innerhalb eines einzigen Erzählabschnitts um Jahrzehnte voraus und kehrt genauso plötzlich wieder in die Gegenwart der eigentlichen Erzählzeit zurück: Auf einer halben Seite werden beispielsweise Irma Seidenmans Gefangenschaft in der Schuch-Allee während des Krieges, ihr Rauswurf aus dem Staatsdienst in den 60er Jahren und ihr künftiges Schicksal in Paris thematisiert. Ebenso lässt Szczypiorski Nebenfiguren auftauchen, stellt sie dem Leser in Handlungen und Gesprächen ausführlich vor, um sie dann fallen zu lassen und erst viel später an dramaturgisch entscheidender Stelle wieder einzuführen. An diese Erzähltechnik gewöhnt man sich zum Glück schnell und man empfindet sie bald als sehr intelligent und abwechslungsreich. Vor allem gelingt es dem Autor auf diese Weise mit leichter Hand, die widersprüchlichsten Facetten seiner Figuren glaubwürdig und plausibel zu machen. Anhand von Gesprächen, Reflexionen und Erinnerungen zeichnet Szczypiorski außerdem immer wieder mit wenigen, aber charakteristischen Strichen, anschaulich und mit atmosphärischer Dichte ein eindringliches Bild Polens, insbesondere Warschaus. Die Widersprüche dieser kosmopolitischen Stadt, in der Glanz und Reichtum einerseits und das Elend und die Missachtung gegenüber den Juden andererseits eng beieinanderlagen, werden intensiv spürbar.

Interpretationsansätze

  • Die Figuren in Szczypiorskis Roman sind typische Vertreter der polnischen Nation. Gerade in Polen, mit seiner von Fremdherrschaft geprägten Geschichte, macht das Volk die Nation aus, nicht ein territorial oder institutionell definierter Staat. Die vielen unterschiedlichen und facettenreichen Figuren stellen demzufolge ein Spiegelbild Polens dar.
  • Die Zeit der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg dient Szczypiorski dazu, charakterliche Stärken und Schwächen der Menschen in aller Schärfe herauszuarbeiten. Der Autor macht sich aber nie zum Ankläger oder gar Verurteiler: Selbst für die moralisch verwerflichsten Figuren wie den Gestapo-Offizier Stuckler wird Verständnis gezeigt („Nie und nirgends werden gewissenlose Mörder geboren.“); lediglich unmenschliche Systeme finden vor seinen Augen keine Gnade.
  • Szczypiorskis differenzierter Ansatz geht so weit, dass selbst im Bereich der Opfer deutscher Besatzung, bei den Juden und Polen, ausgesprochen miese Charaktere gezeigt werden, z. B. den jüdischen Spitzel Blutman und den Schönen Lolo, den polnischen Denunzianten.
  • Es gibt keinen „großen“ positiven Helden im Roman. Das moralisch anständige Polen- und Menschentum erkennt Szczypiorski in unscheinbaren Menschen, die alle auch ihre Schwächen haben, sich aber in entscheidenden Situationen richtig verhalten. Für Szczypiorskis Menschenbild zählen weniger die edlen Motive als vielmehr die wie selbstverständlich ausgeführten guten Taten.
  • Szczypiorski sieht sein Polen als Exempel für die Schicksale der Länder und Menschen Europas im 20. Jahrhundert.

Historischer Hintergrund

Polens Weg in die Unabhängigkeit

Polen hat eine äußerst wechselvolle Geschichte. Wie schon in den Jahrhunderten zuvor gab es bis Anfang des 20. Jahrhunderts keinen selbstständigen polnischen Staat. Das Land war meistens unter den Nachbarstaaten aufgeteilt. Seine Unabhängigkeit erlangte Polen erstmals nach dem Ende des Ersten Weltkriegs unter Józef Piłsudski. Die Besetzung Polens durch die Deutschen, die den Zweiten Weltkrieg entfesselte, löschte den unabhängigen polnischen Staat aber bereits 1939 faktisch wieder aus. Vor allem in Polen betrieben die Nazis systematisch die Vernichtung der Juden. In Warschau war ein Drittel der Bevölkerung jüdischen Glaubens. 1940 wurde das im Zentrum Warschaus gelegene jüdische Ghetto komplett abgeriegelt und mit einer 16 Kilometer langen Mauer umgeben. Alle Juden mussten in dieses Ghetto umziehen, wo eine halbe Million Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht wurden. Juden, die sich außerhalb des Ghettos aufhielten, riskierten ihr Leben. Ab 1942 wurden die Juden aus dem Ghetto in die Vernichtungslager abtransportiert. Ein zentrales Ereignis war der Aufstand im Warschauer Ghetto in der ersten Hälfte des Jahres 1943, bei dem sich eine kleine, bewaffnete jüdische Streitmacht verzweifelt gegen den Abtransport der noch verbliebenen Juden wehrte. Zu diesem Zeitpunkt lebten von anfänglich 500 000 Menschen nur noch 60 000 im Ghetto. Der Aufstand wurde von Wehrmacht und SS brutal niedergeschlagen, das Ghetto praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Im Spätsommer 1944 kam es außerdem zum Warschauer Aufstand der polnischen Unter-grundarmee, an dem auch Szczypiorski teilnahm. Trotz anfänglicher Erfolge scheiterte auch dieser Aufstand. Hitler ordnete die Zerstörung Warschaus an.

Nach dem Krieg wurde Polen als sozialistische Volksrepublik formell souverän, blieb aber Teil des „Ostblocks“. Politische Hauptfigur dieser Epoche war Władysław Gomulka, der zeitweilig einen von Moskau etwas unabhängigeren Weg beschreiten wollte und ein wechselvolles politisches Schicksal hatte. Antisemitische Maßnahmen nach 1968 und Unruhen um 1970 zeigten die Unsicherheit des Regimes. Gomulka wurde abgelöst, und spätestens seit dieser Zeit erstarkte die Oppositionsbewegung. Gerade in Polen wurde das kommunistische Regime sehr stark als Fremdherrschaft empfunden. Die katholische Kirche in Polen war jahrhundertelang der Hort des polnischen Nationalgefühls. So konnte sich die Opposition unter ihrem Schutz gegen das kommunistische Regime behaupten. 1978 wurde der Krakauer Kardinal Karol Wojtyła zum Papst gewählt. Sein erster Besuch in seinem Heimatland fand 1979 statt. Seitdem war eine völlige Unterdrückung der Oppositionsbewegung nicht mehr möglich. 1980 musste das Regime die Gewerkschaft Solidarność unter der Führung von Lech Wałęsa anerkennen. Dennoch stemmten sich die Kommunisten 1981 durch die Verhängung des Kriegsrechts unter General Jaruzelski noch einmal erfolgreich gegen Demokratisierungstendenzen, bis 1989 die endgültige Wende eintrat. In diesem Jahr bildete Wałęsa die erste nichtkommunistische Regierung des Ostblocks, 1990 wurde er zum Präsidenten gewählt. 2004 trat Polen der Europäischen Union bei.

Entstehung

Der Roman enthält an etlichen Stellen Kritik am Polen der Nachkriegszeit und an der kommunistischen Ideologie; daher war für den Autor, der ohnehin bekanntermaßen kritisch gegenüber den Kommunisten eingestellt war, an eine Veröffentlichung in der sozialistischen Volksrepublik Polen nicht zu denken. Szczypiorski war noch 1981 unter Jaruzelski mehrere Monate lang interniert. Das Buch erschien deshalb 1986 zunächst im angesehenen Pariser Exilverlag Institut Littéraire – auf Polnisch, damit auch das polnische Copyright gesichert werden konnte. Besonders in den deutschsprachigen Ländern war das Buch dann ein großer Erfolg.

Wirkungsgeschichte

Die schöne Frau Seidenman, Andrzej Szczypiorskis mit Abstand erfolgreichstes Buch, vor allem in Deutschland, ist, das spürt man sofort, nicht im literarischen Elfenbeinturm entstanden. Es spiegelt vielmehr die politische Situation seiner Zeit und berührt wesentliche Fragen des Verhältnisses zwischen Deutschen und Polen. Der Autor zeichnet ein sehr differenziertes Bild von Deutschen und Polen sowie von deutschen und polnischen Juden – sein Roman half, nicht in jedem Fall die Menschen zu verurteilen, sondern vor allem die Systeme zu hinterfragen. Szczypiorski hat die Umbruchphase in seinem Heimatland als einer der führenden literarischen Köpfe begleitet. In den 80er und 90er Jahren war er daher auch ein häufiger und gern gesehener Gast in Deutschland. Er, der sein Deutsch im KZ Sachsenhausen gelernt hatte, trat auf Symposien und Tagungen sowie in Talkrunden im Fernsehen auf – als beredter Advokat der deutsch-polnischen Aussöhnung.

Über den Autor

Andrzej Szczypiorski wird am 3. Februar 1924 in Warschau geboren und wächst in einer vom Bildungsbürgertum geprägten Familie auf. Als der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 beginnt, ist er 15 Jahre alt. Fünf Jahre später nimmt er am Warschauer Aufstand teil. Er wird gefangen genommen und bis zum Kriegsende im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Szczypiorskis berufliche Laufbahn gestaltet sich vielfältig: Er ist Schriftsteller, Diplomat und Politiker, weil er sich immer auch als politischer Autor versteht. Nach dem Krieg beginnt er zunächst als Journalist zu arbeiten, ab 1955 veröffentlicht er Kriminalromane unter dem Pseudonym Maurice S. Andrews. Dies ist der Beginn seiner literarischen Tätigkeit. Von 1960 bis 1968 spricht Szczypiorski jeden Sonntagabend zehnminütige Feuilletons im Warschauer Rundfunk, was ihn als Journalist bekannt macht. Während der politischen Tauwetterperiode Ende der 60er Jahre wird er als Diplomat nach Dänemark entsandt. Szczypiorski ist kein überzeugter Kommunist, hat aber in der zweiten Gomulka-Ära ein auskömmliches Verhältnis mit dem Regime. Für den 1971 noch in einem polnischen Staatsverlag erschienene Roman Eine Messe für die Stadt Arras erhält Szczypiorski 1972 den Preis des polnischen P.E.N.-Clubs. Ab Mitte der 70er Jahre unterstützt Szczypiorski die Opposition mit Artikeln und Büchern; in der Folge wird er vom offizi-ellen Literaturbetrieb ferngehalten und bei Verhängung des Kriegsrechts unter General Jaruzelski 1981 sogar für mehrere Monate interniert. Sein berühmtestes Werk Die schöne Frau Seidenman muss 1986 in einem Pariser Exilverlag erscheinen. Nach der Wende 1989 bekleidet Szczypiorski das Amt eines Senators in der Zweiten Kammer des Parlaments. Er spricht sehr gut Deutsch und wird mit vielen literarischen Preisen ausgezeichnet (u. a. dem Österreichischen Staatspreis, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Andreas-Gryphius-Preis). Für seine Verdienste um die deutsch-polnische Aussöhnung erhält er das Bundesverdienstkreuz und den Orden „Pour le Mérite“, eine der höchsten Ehrenauszeichnungen der Bundesrepublik. Andrzej Szczypiorski stirbt am 16. Mai 2000 in seiner Heimatstadt Warschau.

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