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Gora

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Gora

Albatros,

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12 take-aways
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What's inside?

Das Meisterwerk von Rabindranath Tagore, dem ersten asiatischen Literaturnobelpreisträger, handelt von Glauben und Toleranz und ist damit heute wieder hochaktuell.

Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Das Nationalepos des modernen Indien

Ende des 19. Jahrhunderts in Indien: Vor dem Hintergrund blutiger Aufstände der Inder gegen die britische Kolonialherrschaft fordert der junge Gora radikal die Rückbesinnung auf die indische Kultur. Ganz anders der zaghafte Binoy, der um der Freundschaft willen Goras Meinungen übernimmt, selbst wenn er eigentlich anderer Ansicht ist. Als Binoy jedoch eines Tages die Bekanntschaft des weisen Poresh-Babu macht, lernt er in dessen Familie eine ungeahnte neue Welt kennen. Entgegen sämtlichen gesellschaftlichen Widerständen heiratet Binoy Poresh-Babus Tochter Lolita. Gora wendet sich inzwischen immer mehr dem strengen Hinduismus zu. Die Konflikte zwischen Weltoffenheit und religiöser Orthodoxie spitzen sich zu, bis die Enthüllung von Goras Herkunft zum entscheidenden Wendepunkt des Romans führt: Gora erkennt seine wahre Bestimmung und schwört jedem religiösen Eifer ab. Tagores Buch greift damit Probleme auf, die damals von indischen Intellektuellen heftig diskutiert wurden. Für europäische Leser mögen die mangelnde psychologische Ausgestaltung der Figuren, der schematische Charakter der Gespräche und die Absehbarkeit der Handlungen befremdlich wirken. Dennoch vermittelt der Roman sehr eindringlich Werte wie Toleranz und Weltoffenheit, die auch heute noch aktuell sind.

Take-aways

  • Im Roman Gora des indischen Nobelpreisträgers Tagore dreht sich alles um die Überwindung gesellschaftlicher und religiöser Barrieren.
  • Den Hintergrund bilden die politischen Umwälzungen im kolonialen Indien Ende des 19. Jahrhunderts.
  • Die Titelfigur Gora ist ein unermüdlicher Verfechter traditioneller religiöser und gesellschaftlicher Werte und will Indien der Unabhängigkeit zuführen.
  • Weil Gora allen in seiner Umgebung, insbesondere seinem Freund Binoy, seinen Willen und seine Meinung aufdrängt, verletzt er sie, ohne es zu merken.
  • Binoy lebt einzig für die Freundschaft zu Gora; erst in der Liebe zu Lolita lernt er allmählich, seinen eigenen Weg zu gehen.
  • Der alte Poresh-Babu, Sinnbild für universelle Wahrheit und gelebte Toleranz, gibt seinen Freunden und Töchtern wichtige Orientierungshilfen im Leben.
  • Seine Töchter Sucorita und Lolita haben eine westliche Erziehung genossen und rebellieren gegen die orthodoxen hinduistischen Vorschriften.
  • Als Gora erfährt, dass er gar kein "reiner" Hindu ist, kann er zusammen mit Sucorita ein neues Leben beginnen.
  • Die Figuren des Romans werden gegeneinander ausgespielt, um dem Leser die Absurdität von sinnentleerten religiösen und gesellschaftlichen Geboten vor Augen zu führen.
  • Der Roman zeigt eine Kultur am Scheideweg: traditioneller Hinduismus und Nationalismus hier, Weltoffenheit und Toleranz dort.
  • Gora ist ein Manifest für Menschlichkeit und wider religiösen Fanatismus.
  • Der Roman gilt heute als indisches Nationalepos.

Zusammenfassung

Tradition versus Moderne

Der junge Binoy, der vor einiger Zeit sein Studium abgeschlossen hat, steht in Gedanken versunken auf seinem Balkon und denkt über sein Leben nach, als sich plötzlich vor seinem Haus ein Unfall ereignet. Er eilt hinzu und hilft einem älteren Mann und einer jungen Frau aus der verunglückten Droschke. Binoy ist beeindruckt von der Würde des Mannes, Poresh-Babu, noch mehr aber von der ruhigen und zuversichtlichen Art von dessen Adoptivtochter Sucorita. Bald wird er ein gern gesehener Gast in dieser Familie, Mitglied der reformierten Brahmo-Samaj-Gemeinde, die sich weltoffen gibt und orthodoxe hinduistische Vorschriften ablehnt. Diese Bekanntschaft führt zu einem Zerwürfnis Binoys mit seinem Jugendfreund Gora, einem orthodoxen Hindu. Gora ist das genaue Gegenteil des sanften Binoy: Er ist aufbrausend und möchte seine Zuhörer stets durch seine Argumente bezwingen, die allesamt darauf hinauslaufen, dass man die orthodoxen hinduistischen Regeln einzuhalten habe, wenn man für sein Volk einstehen und es aus der britischen Umklammerung befreien wolle. Als Binoy seinem Freund euphorisch von der Familie Poresh-Babus erzählt, mahnt ihn Gora, seine Zeit nicht mit unnützen "zoologischen Forschungen" zu verschwenden, und vergleicht die in seinen Augen "ungläubige" Familie mit Raubtieren, die es auf Binoy abgesehen hätten.

Rückbesinnung auf indische Werte

Goras fanatischer Eifer macht auch vor seiner Mutter Anondomoyi nicht Halt. Da deren Magd eine Christin ist, verweigert er das gemeinsame Mahl mit der Mutter und möchte auch Binoy davon abhalten. Das trifft diesen jedoch schmerzlich, da Anondomoyi eine Ersatzmutter für ihn ist, der selbst elternlos aufwuchs. Zwar schließt er sich bis zu einem gewissen Grad Goras Meinung an, dass die Sitten umso höher gehalten werden müssten, je gefährlicher der Feind sei; andererseits sieht er, dass gerade die Einhaltung dieser Bräuche und insbesondere die Kastentrennung zu Unmenschlichkeit führen. Goras Vater Krishnodoyal ist ein weit gereister Mann. Einst frönte er den weltlichen Vergnügungen und verachtete die eigene Kultur, nur um im Alter den genau entgegengesetzten Weg einzuschlagen. Nun lebt er als hinduistischer Asket, um Erlösung zu finden und magische Kräfte zu erlangen.

Goras Geheimnis

Goras Mutter bittet den Vater, den Sohn endlich über dessen wahre Herkunft aufzuklären, um ihn von seinem radikalen Weg abzubringen. Denn Gora umgibt ein Geheimnis: Er ist ein Findelkind und in Wahrheit gar kein Hindu, sondern Sohn einer irischen Mutter, die während der Aufstände der Inder gegen die Briten im Jahr 1857/58 Zuflucht bei Anondomoyi suchte und noch in derselben Nacht bei Goras Geburt starb. Da sein Hindu-Ziehvater um die "unreine" Abstammung Goras weiß, vermeidet er jeglichen Körperkontakt mit dem Sohn, was dieser jedoch in seiner eigenen religiösen Verblendung gar nicht wahrnimmt. Ganz anders die Mutter: Da sie Gora an Kindes statt angenommen hat, hat sie mit allen religiösen Dogmen gebrochen, ja sie wird deswegen sogar von der eigenen Gesellschaft als Sektiererin geächtet. Ihre Religiosität aber ist von einer allumfassenden Natur und kommt tief aus ihrem Herzen, sie fühlt sich weder an Rituale noch an Gebote gebunden.

Bewährungsprobe für eine Freundschaft

Je stärker sich Binoy zur Familie Poresh-Babus hingezogen fühlt, desto größer werden seine Zweifel an Goras hinduistischer Weltanschauung, die er, Binoy, dennoch wie Botschaften verkündet. Denn die Freundschaft mit Gora ist für Binoy Bestandteil seiner selbst, ein Leben ohne Gora ist für ihn unvorstellbar. Ein erster Streit aber bricht aus, als Gora Binoy vor die Wahl stellt: er oder die Familie von Poresh-Babu. Überraschend willigt Binoy in die Heirat mit Shoshi, der Nichte Goras, ein, weil er hofft, auf diese Weise Gora ewig verbunden bleiben zu können. Er möchte die Stellung der Frau in der indischen Gesellschaft mit Gora diskutieren, doch dieser will nichts davon hören. In seiner Vorstellung von Indien hat die Frau keinen Platz. Sie ist für ihn ein Wesen, das im Hintergrund wirkt. Sie müsse eine rechtschaffene und treue Hausfrau und Mutter sein, sie müsse wirken wie der Mond, ohne den die Sonne nicht sein könne. Die Verschiebung dieses Gleichgewichts, so Gora, führe zum Untergang der Gesellschaft.

„Erst wenn man ein kleines Kind an seine Brust drückt, begreift man, dass niemand mit einer Kaste in diese Welt hineingeboren wird.“ (Anondomoyi, S. 23)

Obwohl Binoy mittlerweile selbst Zweifel an Goras Ansichten hegt, macht er sich in der Familie Poresh-Babus doch zu einem Sprachrohr von dessen Meinungen - sehr zum Missfallen der Tochter Lolita, die sich über Binoys Abhängigkeit von Gora mokiert. Ihre Adoptivschwester Sucorita ist Haran als Ehefrau versprochen, dem Vorsteher der Brahmo-Samaj-Gemeinde. Doch die religiöse Engstirnigkeit Harans, seine Kleingeistigkeit und Besserwisserei werden ihr immer unerträglicher. Dennoch willigt sie in die Verbindung mit Haran ein, der sie den "negativen Einflüssen" ihrer Familie entziehen will. Gleichzeitig entsteht eine feine Verbindung zwischen Sucorita und Gora, der nun auch die Familie Poresh-Babus immer häufiger aufsucht. Er fordert Sucorita auf, die Schwächen der Gesellschaft hinzunehmen und das indische Volk unvoreingenommen zu lieben. Es gilt, eins zu werden mit Indien. Auf einmal erschließen sich für Gora in seiner uneingestandenen Verliebtheit Welten, die für ihn völlig neu sind.

Auf dem Land

Gora, der endlich seinem Drang nachgeben möchte, mit dem Volk eins zu werden, begibt sich auf Wanderschaft. Eines Tages kommt er in ein Dorf, dessen moslemische Bewohner sich gegen die britischen Herrscher und den hinduistischen Steuervollstrecker zur Wehr gesetzt hatten und dafür böse bestraft wurden. Einzig ein hinduistischer Barbier, der einen moslemischen Jungen aufgenommen hat, wird von der Obrigkeit bislang in Ruhe gelassen. Gora ist einerseits abgestoßen von der Unreinheit, die in seinen Augen von der Anwesenheit des moslemischen Jungen in einer hinduistischen Familie ausgeht, andererseits aber muss er sich eingestehen, dass die religiösen Schranken hier keinen Sinn ergeben: Die Moslems, die Unterdrückten, kämpfen für ihr Recht, während ein hinduistischer Handlanger auf der Seite der Unterdrücker steht. Gora versucht sich in die Belange der Dorfbewohner einzumischen - mit dem Resultat, dass er vom britischen Bezirksrichter des Kreises, bei dem just die Familie Poresh-Babus, Haran und auch Binoy weilen, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird.

Ernste Auseinandersetzungen

Aus Solidarität mit Gora reisen Binoy und Lolita unabhängig voneinander ab und begegnen sich auf dem Schiff wieder, das sie nach Kalkutta bringt - diese gemeinsame Schifffahrt soll weit reichende Konsequenzen haben. Schon bald wird in diversen Kreisen, vor allem aber in der Brahmo-Samaj-Gemeinde über das anrüchige Verhältnis gemurmelt. Lolita und Binoy fühlen sich dessen ungeachtet immer stärker zueinander hingezogen.

„Das Herz ist zwar eine wichtige Sache, aber es ist nicht die Wichtigste auf der Welt.“ (Gora, S. 24)

Inzwischen ist die Tante von Sucorita, Horimohini, eingetroffen, und Poresh-Babu gewährt dieser leidgeprüften Frau Unterschlupf. Sie, die so glücklich ist, ihre Nichte gefunden zu haben, hält sich streng an die orthodoxen hinduistischen Regeln, was zunächst toleriert wird, im Laufe der Zeit aber zunehmend den Unmut von Frau Boroda, der Gattin Poresh-Babus, heraufbeschwört, zumal sich Sucorita auf die Seite ihrer Tante stellt. Die gegenseitige Abneigung geht schließlich so weit, dass Poresh-Babu rät, Sucorita und Horimohini mögen ganz in der Nähe einen eigenen Haushalt gründen in einem Haus, das er gekauft hat. Horimohini ist darüber sehr erfreut, weil sie meint, sie könne nun die Nichte, die offenbar wohlhabend ist, ganz unter ihre Fittiche nehmen. Zur selben Zeit startet Haran eine Kampagne gegen Poresh-Babu und das angeblich sittenwidrige Verhalten in dessen Haushalt. Poresh-Babu aber ist mit seinen selbstbewussten und eigensinnigen Töchtern solidarisch und gibt sich gelassen - ganz im Gegensatz zu seiner Frau, die sehr auf die Meinung der anderen bedacht ist und auf Schein mehr gibt als auf Sein. Haran will den Widerstand der Familie brechen, er will Sucorita zurückgewinnen und denkt unablässig über Rache nach - und ist dabei doch Vorsteher einer sich tolerant und weltoffen gebenden religiösen Gemeinschaft.

Bedrohliche Gerüchte

Sucorita und Lolita möchten mit Hilfe von Binoy eine Mädchenschule gründen. Der anfänglichen Begeisterung einiger anderer Mädchen wird aber schnell von deren Familien ein Riegel vorgeschoben, da man Sucorita und Lolita unlautere Absichten unterstellt. Schlimmer noch: Binoy wird sowohl von Frau Boroda als auch von Haran der Kontakt mit der Familie untersagt, nicht einmal Poresh-Babu selbst kann noch eingreifen. Der Schulgründungsplan scheitert. Der Gerüchtekessel brodelt; Binoy und Lolita laufen Gefahr, in einen Abgrund gezogen zu werden. Binoy erhält einen anonymen Brief, der ihn eindringlich vor einer Verheiratung mit Lolita warnt, und in den Zeitschriften der Brahmo-Samaj-Gemeinde erscheinen Schmähartikel, die gegen Binoy und die Familie Poresh-Babus gerichtet sind. Der einzige Ausweg, um Lolita vor weiterer Schmach zu bewahren, scheint zu sein, dass Binoy sie heiratet. Dafür aber fordern Lolitas Eltern seinen Übertritt in die Brahmo-Samaj-Gemeinschaft, dem er halbherzig zustimmt. Lolita weigert sich jedoch, dieses Opfer anzunehmen.

Bruch mit der Gesellschaft

Als Gora aus dem Gefängnis entlassen wird und Binoy ihm von all dem berichtet, was inzwischen vorgefallen ist, zeigt Gora kein Verständnis dafür, individuelles Leid über gesellschaftliche Anliegen zu stellen - obwohl ihm während seiner ganzen Haftzeit das Antlitz Sucoritas vor Augen stand. Unerschütterlicher denn je bleibt er bei seinen orthodoxen Ansichten und wird neuerdings von einer immer größer werdenden Anhängerschaft umjubelt. Das Zerwürfnis zwischen Gora und Binoy scheint nun endgültig, wobei Binoy damit auch Abschied von gewissen Idealen und Lebensauffassungen nimmt. Lolita und Binoy wollen aber ungeachtet aller Widrigkeiten heiraten, Binoy will sich nicht mehr länger von der Gesellschaft und auch nicht von Goras radikalen Ansichten und Vorschriften gängeln lassen. Erst jetzt begreift er, wie sehr er sich selbst in der Freundschaft zu Gora stets verleugnet hat. Schließlich gibt Poresh-Babu in einem Brief sein Einverständnis zu dieser schwierigen Beziehung und wird dafür aus der Brahmo-Samaj-Gemeinschaft ausgeschlossen. Seine Gattin verbietet Lolita fortan das Haus. Nun droht auch Gora mit Widerstand und fordert von Binoy gar die Loslösung von der hinduistischen Gemeinschaft.

„Sein Wunsch war es, eins zu sein mit dem einfachen Volk, Teil des gewaltigen Stromes. Er wollte den künftigen Herzschlag des Landes im eigenen Herzen verspüren.“ (über Gora, S. 45)

Gleichzeitig besucht Gora tagein, tagaus Sucorita, bis deren Tante Horimohini ihn darauf hinweist, dass er damit gegen die hinduistischen Regeln verstößt, die er doch so hoch achtet. Die Regeln, die er bis dahin so vehement verteidigt hat, richten sich auf einmal gegen ihn. Horimohini indes spinnt eine Intrige: Sie will Sucorita einem jungen Schwager namens Koilash zuführen und schwärmt diesem vor, wie wohlhabend ihre Nichte sei. Koilash ist denn auch ausschließlich an den materiellen Werten Sucoritas interessiert. Wie eine Tigerin will die Tante ihre Beute - Sucorita - nicht mehr freigeben. Sie bittet Gora sogar um den Gefallen, Sucorita an ihre Pflicht als hinduistische Frau zu erinnern und sich zu verheiraten. Gora kommt dieser Bitte nach, so schwer es ihm auch fällt.

Wie Phönix aus der Asche

Gora nimmt seine Wanderungen über das Land wieder auf, nur um dieses Mal festzustellen, wie sehr die religiösen Verpflichtungen die Menschen einschränken, wie die Tradition sich hemmend auswirkt. Die hinduistische Gesellschaft steht den Armen nicht etwa bei, sondern demütigt sie immer mehr und stößt sie vollends in den Abgrund. Bei den Moslemgemeinden, die Gora auf seinen Wanderungen sieht, spürt er hingegen den Zusammenhalt der Menschen. Gora will sich einer Bußzeremonie unterziehen, doch sein Vater lehnt dies ohne weitere Erklärungen ab. Erst als Gora am Vorabend des Rituals an das Sterbebett seines Vaters gerufen wird, enthüllt ihm dieser seine wahre Herkunft: Gora ist kein Hindu. Das Fundament, auf das er alles gebaut hat, zerbröckelt, er fühlt sich völlig entwurzelt. Seine Vergangenheit, auf die er so viel gab, ist nichtig, die Zukunft leer. Dennoch bittet ihn sein Ziehvater aus Angst vor gesellschaftlichen und finanziellen Folgen, niemandem etwas davon zu erzählen. Da wird Gora mit einem Mal klar, wie froh er ist, dass ihn mit diesem Mann nichts mehr verbindet. Auch er gehört jetzt zu den Menschen, die sich außerhalb der Gesellschaft befinden und keine Regel mehr zu befolgen haben. Nun fühlt er sich erst recht als Inder, der über allen Kasten steht und so Indien aufrecht und wahrhaft dienen kann. Fortan ist ihm seine Pflegemutter Anondomoyi, die sich seit eh und je über alle Grenzen und Regeln hinwegsetzte, ein Vorbild. Sie will auch seine Aussöhnung mit Binoy herbeiführen. Und mit einem Mal wird Gora die Chance bewusst, die in der völligen Lossagung vom orthodoxen Hinduismus besteht: Er sucht Poresh-Babu auf und verbindet sich mit Sucorita.

Zum Text

Aufbau und Stil

Gora kann in Form und Sprache dem Genre Thesen- bzw. Ideenroman zugeordnet werden: Themen wie religiöse Toleranz versus Fanatismus, Rückbesinnung auf die eigene Tradition versus Anpassung an den Westen werden verhandelt. Viele der Argumente, die Gora und Binoy austauschen, sind Auszüge aus Essays und Vorträgen von Tagore selbst.

Interpretationsansätze

  • Gora ist ein Manifest für Menschlichkeit und wider religiösen Fanatismus. Das Buch zeigt, wie gesellschaftliche und religiöse Barrieren und Vorurteile verhindern, dass Menschen zueinander finden.
  • In der Auseinandersetzung zwischen Schein und Sein obsiegt im Roman letztlich das Sein in Gestalt der aufrechten Protagonisten, die sich nicht um des bloßen Scheins willen den Gesetzen der Gesellschaft beugen. Um gesellschaftliche und religiöse Schranken zu überwinden, bedarf es großer innerer Stärke und gelebter Toleranz.
  • Der Roman zeigt ein Indien im Wandel, er reflektiert den Zusammenprall zwischen indischer und westlicher Kultur. Einerseits befürwortet Tagore die Modernisierung seines Landes, um Bigotterie und Aberglaube Einhalt zu gebieten, andererseits steht er einer Moderne skeptisch gegenüber, die als Kolonialismus daherkommt und Indiens Abhängigkeit von Großbritannien untermauert.
  • Tagore zeigt, dass es Fanatiker in jeder religiösen Schule gibt. Die Überheblichkeit mancher Anhänger von Religionsgemeinschaften gegenüber anderen Glaubensrichtungen kritisiert er und stellt sie ironisierend dar.
  • Die Hinwendung zu einer orthodoxen Religion erscheint im Buch als eine Waffe im Kampf gegen die Kolonialherren. Ähnliches lässt sich auch in der Realität beobachten: Der Islamismus kann als Reaktion auf die kulturelle und wirtschaftliche Dominanz des Westens gesehen werden.

Historischer Hintergrund

Indien als Kolonie Großbritanniens

Nach der Entdeckung Indiens durch europäische Seefahrer Ende des 15. Jahrhunderts wurden indische Häfen zu wichtigen Umschlagplätzen für Handelsgüter wie Gewürze und Textilien, später auch Tee. Die Briten waren es, die ihre Handelsinteressen politisch ausbauten, um ihre Machtposition zu sichern. Die Britische Ostindien-Kompanie unterwarf immer größere Teile des Subkontinents. Nachdem die Sepoy-Aufstände 1857/58 blutig niedergeschlagen worden waren, übernahm die britische Krone ein Jahr später das Handelsimperium der Ostindien-Kompanie, und Indien wurde eine britische Kolonie. Die Verwaltung wurde komplett ausgetauscht und den feudalen Fehden unter den indischen Fürsten ein Ende bereitet. Der Widerstand der Inder ließ nicht lange auf sich warten. Die erste Unabhängigkeitsbewegung entstand 1885 aus der Gründung der Kongresspartei; das Recht auf politische Mitsprache erhielten die Inder aber erst spät und nur sehr eingeschränkt. Vor diesem Hintergrund versuchte die Brahmo-Samaj-Bewegung unter der Leitung von Ram Mohan Roy eine Reformierung des Hinduismus. Sie lehnte das Kastenwesen genauso ab wie die Bilderverehrung, blieb damit aber den gebildeten Schichten vorbehalten. Auf der anderen Seite erlebte auch der orthodoxe Hinduismus als Reaktion auf die britische Herrschaft eine Renaissance. Besinnung auf die eigene Kultur oder Anpassung an die westliche: Dieser Konflikt trieb die indischen Intellektuellen jener Zeit um und war das bestimmende Thema in zahlreichen Debattierklubs in Kalkutta.

Entstehung

Der Großvater von Rabindranath Tagore gründete 1828 zusammen mit Ram Mohan Roy die religiöse Gemeinschaft Brahmo-Samaj. Nach dem Tod Roys übernahm Tagores Vater Debendranath Tagore die Führung und reformierte die Gemeinde. Tagores Brüder waren alle in die Aktivitäten der Gemeinde involviert, die sogar ihren Sitz im Haus Tagore in Kalkutta hatte. Als Keshab Chandra Sen die Leitung übernahm, kam es aufgrund von religionsphilosophischen Auseinandersetzungen zwischen Sen und Tagores Familie zum Zerwürfnis: Sen tendierte zum Christentum, während die Tagores weiterhin am hinduistischen Brahmanentum und indischen Nationalismus festhielten. 1884 war Rabindranath Tagore für kurze Zeit Sekretär der Brahmo-Samaj-Gemeinde. Die Konflikte um Neuausrichtung der Gemeinde fanden Eingang in den Roman Gora. Vor allem zwei Themen verarbeitete Tagore darin: zum einen den Konflikt zwischen dem orthodoxen Hinduismus und dem reformierten Glauben, wie ihn die Brahmo-Samaj-Gemeinde vertrat. Zum anderen arbeitete der Autor auch seine Erfahrungen mit der Unabhängigkeitsbewegung ein, die sich während der Unruhen bildete und zum Boykott britischer Waren und zur Ablehnung alles Britischen aufrief. Tagore selbst war hin- und hergerissen zwischen der Loyalität gegenüber seinem Land und der Forderung nach einer universellen Religion und Kultur. So projizierte er seine ambivalenten Überlegungen in die beiden Protagonisten Gora und Binoy. Inspiriert von dem Gedanken, in Indien sowohl die gesellschaftlichen Grenzen zwischen den Kasten als auch die religiösen zwischen reformierten und orthodoxen Hindus sowie Hindus und Moslems aufzuheben, schrieb Tagore Gora als Fortsetzungsroman, der 1905 in der Zeitschrift Prabashi und 1910 als Buch erschien.

Wirkungsgeschichte

Rabindranath Tagore, von Albert Schweitzer der "Goethe Indiens" genannt, war ein Brückenbauer zwischen Ost und West und zugleich ein Repräsentant des spirituellen Erbes Indiens. Über seinen Roman Gora sagt der deutsche Tagore-Spezialist Martin Kämpchen: "Für das zeitgenössische Indien war diese Fabel der vertauschten und darum zufälligen Identität ein Appell an religiöse und politische Toleranz." Indische Autoren sparten nicht mit Lob für das Werk: "Vielleicht der beste Roman, der von einem Inder geschrieben wurde", so J. C. Gosh, und S. Sen erkannte "eine Art Mahabharata des modernen Indien". In Tagores Werk, so die Kritiker, zeige sich ein authentischer Freiheitsdrang, der sich gegen jeden Zwang und gegen jegliche Reglementierung richtet. Das Aufbrechen der Normen und die schöpferische Freiheit waren Tagore ein ernstes Anliegen. Er führte neue sprachliche Elemente in die bengalische Literatur ein und löste sie aus den Fesseln der klassischen indischen Literatur. Sein Werk hatte auch einen großen Einfluss auf Mahatma Gandhi und die Gründer des modernen Indiens. Da der Autor im Westen vor allem wegen seiner mystischen Lyrik bekannt ist, wird seine Rolle als Reformer und Gesellschaftskritiker oft unterschätzt.

Das Epos Gitanjali (1910) machte Tagore international berühmt; er übersetzte das Werk selbst ins Englische, das Vorwort schrieb William Butler Yeats. Schließlich wurde ihm 1913 für dieses Werk der Nobelpreis verliehen. Einige von Tagores Kurzgeschichten wurden von dem berühmten indischen Regisseur Satyajit Ray verfilmt und gehören zu den Klassikern der indischen Filmgeschichte. Tagore ist der Autor der Nationalhymne von Indien ebenso wie von Bangladesch; seine Werke werden noch heute in der Schule auswendig gelernt, und täglich sendet das bengalische Radio seine Lieder. Gora gilt als Tagores bedeutendster Roman.

Über den Autor

Rabindranath Tagore (eigentlich Thakur) wird am 7. Mai 1861 als jüngster Sohn eines reichen Großgrundbesitzers und religiösen Reformers in die indische Kaste der Brahmanen geboren. In Tagores Familie strebt man nach einer Synthese traditioneller Werte mit westlichen Vorstellungen, Kunst und Kultur werden hoch gehalten. Mit acht Jahren schreibt Tagore seine ersten Gedichte, seine erste Anthologie erscheint, als er 17 Jahre alt ist. Nach einem kurzen Studium in England 1878 kehrt er nach Indien zurück. 1883 heiratet Tagore Mrinalini Devi, mit ihr hat er zwei Söhne und drei Töchter. 1890 wird er beauftragt, die Ländereien seines Vaters zu verwalten; trotz umfassender literarischer Aktivitäten kommt er dieser Pflicht nach. In dieser Zeit verfasst Tagore seine ersten Kurzgeschichten mit hauptsächlich ländlichen Themen und gilt bald als bedeutender Vertreter der bengalischen Kurzprosa. 1901 gründet Tagore außerhalb von Kalkutta eine Schule, in der westliches und indisches Wissen vermittelt werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird Tagore zunehmend in die indische Unabhängigkeitsbewegung hineingezogen, vertritt aber stets einen gemäßigten Nationalismus. 1913 wird er für das Epos Gitanjali (Liedopfer) mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet; er ist damit der erste asiatische Nobelpreisträger. 1915 wird Tagore von König George V. ein Adelstitel verliehen, den er jedoch 1919 aus Protest gegen ein britisches Massaker im indischen Amritsar wieder zurückgibt. Tagore unterstützt die Unabhängigkeitskämpfer um Gandhi, warnt aber zugleich vor überzogenem Nationalismus. Nach dem Ersten Weltkrieg unternimmt er ausgedehnte Vortragsreisen nach Südostasien und Europa und propagiert den Dialog zwischen Ost und West. 1921 wird die von ihm gegründete Schule in eine Universität umgewandelt. Am 7. August 1941 stirbt Tagore in Kalkutta und hinterlässt ein umfangreiches Werk.

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