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Der Fremde

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Der Fremde

Rowohlt,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

Eines der meistgelesenen Bücher der neueren französischen Literatur: Camus’ „Der Fremde“ lotet die Grundbedingungen der menschlichen Existenz aus.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Verbrechen ohne Motiv

"Heute ist Mama gestorben", lautet der berühmte erste Satz aus Camus’ frühem Meisterwerk. Der lakonische Stil setzt einen bewussten Kontrapunkt zu der blumenreich-poetischen, bisweilen gezierten Kunstsprache, die man lange Zeit in Frankreich schätzte. Schon der erste Satz konfrontiert den Leser mit dem Tod - und das ist auch das Schicksal, das der Hauptfigur am Ende des Romans bevorsteht: Der junge Meursault wird nach einer Gerichtsverhandlung wegen Mordes zum Tod verurteilt, obwohl er das Urteil hätte abwenden können, wenn er seine Verteidigung auf Notwehr aufgebaut hätte. Doch der Einzelgänger Meursault und die Gesellschaft sind sich zutiefst fremd. In ihren Augen ist das Urteil die gerechte Strafe für sein Verbrechen. Und in seinen Augen? Das eben ist der Inhalt des Romans: Im ersten Teil schildert der Ich-Erzähler Meursault, wie es zu dem Mord kam. Im zweiten Teil wird die Gerichtsverhandlung reflektiert: Meursault setzt sich mit seiner bevorstehenden Hinrichtung auseinander und kommt zu der Erkenntnis, dass im Grunde alles gleichgültig ist. Albert Camus gilt als einer der bedeutendsten Literaten und philosophischen Denker der Nachkriegszeit. Der Nobelpreisträger von 1957, der auch vor Stellungnahmen in politischen Fragen nicht zurückschreckte, war für viele das Gewissen Frankreichs.

Take-aways

  • Im Mittelpunkt von Camus’ berühmtem Roman Der Fremde steht ein Mann, der die Welt als gleichgültig, sinnentleert und gottlos erlebt.
  • Meursault, ein junger Mann in Algier, steht kurz vor seiner Hinrichtung wegen Mordes und reflektiert, wie es zu der Tat kam und was der Tod für ihn bedeutet.
  • Zu Beginn des Romans stirbt Meursaults Mutter in einem Altersheim. Der Sohn ist am Tag der Beerdigung wegen der Hitze völlig apathisch.
  • Danach nimmt er sein gewohntes Angestelltendasein wieder auf: Er geht zur Arbeit, beobachtet die Nachbarn, beginnt eine Liebschaft.
  • Meursault gilt manchen als verschlossener Mensch, weil er nicht viel redet; andere schätzen ihn, weil er kein Schwätzer ist.
  • Bei einem Sonntagsausflug mit Freunden kommt es durch eine Verkettung unglücklicher Umstände dazu, dass Meursault einen Araber erschießt.
  • Der Untersuchungsrichter, ein gläubiger Christ, ist fassungslos angesichts Meursaults Tat und dessen scheinbarer Gleichgültigkeit.
  • Meursault philosophiert: Er sieht seine eigene Existenz als sinnlos an, fällt aber deswegen nicht in Verzweiflung.
  • In der Gerichtsverhandlung versucht der Staatsanwalt Meursault zum unmoralischen Ungeheuer zu stempeln.
  • Meursault erkennt, dass er als Einzelgänger, der sich den Konventionen nicht beugt, der Gesellschaft genauso fremd ist wie sie ihm.
  • Camus sieht in dem temperament-, interesse- und verantwortungslosen Meursault den typischen modernen Menschen.
  • Der Autor galt vielen Zeitgenossen als das literarische Gewissen Frankreichs. 1957 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

Zusammenfassung

Die Beerdigung der Mutter

Der junge, wortkarge Speditionsangestellte Meursault erhält ein Telegramm mit der Nachricht vom Tod seiner Mutter. Die Beisetzung soll bereits am nächsten Tag stattfinden. Meursaults Mutter lebte in einem Altersheim in dem Ort Marengo, 80 Kilometer außerhalb von Algier, zu jener Zeit eine französische Kolonie. Meursault hat seine Mutter drei Jahre zuvor dort untergebracht, weil er sich von seinem Gehalt eine private Pflegerin nicht leisten konnte. Er nimmt sich zum Unwillen seines Chefs zwei Tage frei, leiht sich von einem befreundeten Nachbarn einen schwarzen Schlips und eine schwarze Armbinde und fährt mit dem Bus nach Marengo. Die Busfahrt in der heißen, blendenden Sonne Nordafrikas verbringt er dösend. Im außerhalb des Dorfs gelegenen Altersheim, das Meursault zu Fuß erreicht, wird er zunächst vom Direktor empfangen, obwohl er als Erstes seine Mutter sehen wollte. Der Direktor äußert wortreich Verständnis für Meursaults Situation. Er macht ihn auch mit dem geplanten Ablauf der Beisetzung bekannt: Zunächst wird eine Nachtwache am Sarg abgehalten, an der auch einige Heiminsassen teilnehmen. Am Morgen danach folgt die kirchliche Beerdigung, bewusst ohne die übrigen Altersheimbewohner. Der Direktor hat bereits alles Notwendige veranlasst.

„Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht.“ (S. 7)

Meursault begibt sich in die Aufbahrungshalle. Der diensteifrige Pförtner des Altersheims bietet an, den Sarg zu öffnen, was Meursault dankend ablehnt. Nach einem Moment der Stille entspinnt sich ein Gespräch zwischen den beiden. Der Pförtner bietet Milchkaffee an, Meursault nimmt an. Als starker Raucher verspürt er nun Lust auf eine Zigarette. Unsicher, ob es angesichts der Umstände angemessen ist, zu rauchen, bietet er dem Pförtner eine Zigarette an und sie rauchen gemeinsam. Als es dunkel wird, flammt die grelle elektrische Beleuchtung auf, die alten Männer und Frauen des Heims erscheinen und nehmen geräuschlos Platz. Es wird Kaffee gereicht, eine der Frauen weint eine Zeit lang. Ansonsten verbringen sie die Nacht schweigend, Meursault nickt bisweilen ein.

„Ich habe meinen Chef um zwei Tage Urlaub gebeten, und bei so einem Entschuldigungsgrund konnte er sie mir nicht abschlagen. Aber er sah nicht erfreut aus.“ (S. 7)

Ermüdet setzt er sich am nächsten Tag mit dem Trauerzug in Bewegung. Nur der Direktor, Meursault und der Pfarrer folgen dem Sarg, dazu ein alter Herr, der ausnahmsweise teilnehmen darf, weil er Meursaults Mutter besonders nahe stand. Dieser kann dem Zug auf dem langen Weg durch die flimmernde Hitze zum Friedhof von Marengo jedoch nur mit Mühe folgen. Die gekurvte Straße kürzt er zwei-, dreimal über die Felder ab, bleibt aber dennoch zurück. Die Hitze macht auch Meursault zu schaffen. Die Frage nach dem Alter seiner Mutter kann er nicht genau beantworten. Alles verschwimmt vor seinen Augen: das Dorf, der Friedhof, die kurze Zeremonie am offenen Grab. Kaum ist sie vorbei, setzt er sich in den Bus und ist froh, nach Algier zurückfahren zu können.

Das Wochenende nach der Beerdigung

Es ist Samstag, Meursault konnte ausschlafen, das Wochenende liegt vor ihm. Er beschließt, den Tag im Schwimmbad zu verbringen. Dort trifft er die verführerische Marie, mit der er sich angefreundet hat. Sie lässt ihn spüren, dass auch er ihr gefällt. Sie verabreden sich für den Abend im Kino, sehen einen Film, anschließend verbringen sie die Nacht zusammen. Am nächsten Morgen ist Marie schon früh verschwunden, weil sie noch etwas vorhat. Meursault vertrödelt den ganzen Tag in seinem Zimmer. Er geht nicht einmal zum Essen in sein Stammlokal, sondern beobachtet hauptsächlich von seinem Fenster aus das sonntägliche Treiben auf der Straße.

Meursaults Alltag

Am nächsten Morgen beginnt wieder Meursaults Alltag im Büro. Sein Chef kondoliert ihm, Meursault beobachtet bisweilen das emsige Treiben am Hafen, er geht mit einem befreundeten Kollegen zum Mittagessen. Der Chef bietet Meursault einen interessanten Posten in Paris an, doch er zeigt kein Interesse; ihm ist es egal, ob er in Algier oder Paris lebt. Abends begegnet ihm ein pensionierter Nachbar namens Salamano, der stets mit uhrwerkartiger Präzision seinen räudigen Hund spazieren führt. Der Alte behandelt das Tier immer sehr schlecht, zerrt ungeduldig an dessen Leine, beschimpft und prügelt es. Ein weiterer Nachbar ist der untersetzte Raymond Sintès, ein raubeiniger Frauenheld, möglicherweise sogar ein Zuhälter, wenn die Gerüchte stimmen. Er lädt Meursault in sein Zimmer zum Essen ein, sucht dessen Freundschaft, versucht ihn wegen einer Frauengeschichte ins Vertrauen zu ziehen. Meursault soll einen Brief entwerfen, mit dem Raymond eine angeblich abtrünnige Geliebte zu sich zurücklocken will. Meursault tut ihm den Gefallen, und der gewünschte Erfolg stellt sich nach wenigen Tagen ein. Zwischendurch geht Meursault nach der Arbeit mal mit seinem Kollegen ins Kino, außerdem trifft er Marie und sie verbringen zusammen das Wochenende. Marie spricht schon von Heirat, Meursault weicht dem aus. Aus Raymonds Zimmer dringt lauter Krach, weil er seine Geliebte verprügelt. Die Polizei schreitet ein, das Mädchen kann flüchten. Von da an fühlt sich Raymond bedroht: von den arabischen Brüdern des Mädchens.

Das Wochenende am Strand

Raymond lädt Meursault und Marie zu einem Sonntagsausflug ein. Am Morgen fahren sie mit dem Bus in das Strandhaus zu Raymonds Freund Masson und dessen Frau. An der Haltestelle weist Raymond Meursault auf zwei Araber hin, von denen einer angeblich der Bruder der verprügelten Geliebten ist. Dennoch, der Tag verspricht angenehm und heiter zu werden. Bei Masson wird unbeschwert gefrühstückt und anschließend im Meer gebadet. Dann machen sich die Männer auf zu einem Strandspaziergang, während die Frauen sich um den Abwasch im Haus kümmern. Die Sonne steht inzwischen senkrecht am Himmel, es ist sehr heiß geworden. Am Strand begegnen die drei Männer den beiden Arabern. Raymond provoziert sie, blitzschnell kommt es zu einer Keilerei, einer der Araber zückt ein Messer, Raymond erhält einen Stich in den Arm. Dann ziehen sich alle zurück. Raymond wird verarztet.

„In dem Moment habe ich bemerkt, dass sie mir alle gegenübersaßen, um den Pförtner herum, und mit dem Kopf wackelten. Ich habe einen Moment lang den lächerlichen Eindruck gehabt, sie wären da, um über mich zu richten.“ (S. 15)

Am Nachmittag geht Raymond in düsterer Stimmung allein an den Strand. Meursault folgt ihm. Am Ende des Strandes treffen sie auf die beiden Araber, die bei einigen Felsen und einer Wasserquelle in der Sonne liegen. Der eine spielt Flöte, ansonsten rühren sie sich nicht. Raymond zückt einen Revolver und ist nahe daran, den einen Araber zu erschießen, aber Meursault hindert ihn daran. Raymond händigt Meursault den Revolver aus. Erleichtert kehren die beiden zum Haus zurück. Meursault dröhnt der Schädel von der Sonne. Er ist benommen von der Hitze. Allein der Gedanke an die bevorstehende Rückfahrt mit dem Bus wird ihm zur Qual. Er geht nochmals an den Strand, kehrt trotz des langen Wegs zu den Felsen mit der kühlen Quelle zurück. In der Nachmittagshitze scheint die Zeit stillzustehen, der Ozean zu kochen. Meursault erinnert sich an die lähmende Hitze bei der Beerdigung. Bei den Felsen ist nur noch einer der Araber. Auf eine Vorwärtsbewegung Meursaults hin blitzt sein Messer auf. Schweiß läuft in Meursaults Augen, er taumelt, zückt den Revolver und drückt ab. Dann schießt er noch viermal in den leblosen Körper.

Das Gespräch mit dem Untersuchungsrichter

Acht Tage nach seiner Verhaftung wird Meursault dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Meursault glaubt, sein Fall liege doch denkbar einfach. Doch der Richter belehrt ihn: "Dafür ist das Gesetz da." Meursault versteht nicht, warum man von Rechts wegen nach Motiven für seine offenbar sinnlose Tat forscht. Dann wird ihm ein Pflichtverteidiger zugewiesen, der ihm eröffnet, man habe sich über sein Privatleben erkundigt und sein Verhalten während der Beerdigung seiner Mutter als "Gefühllosigkeit" bewertet.

„Um mich herum war immer noch dieselbe leuchtende, von Sonne gesättigte Landschaft. Die Helligkeit des Himmels war unerträglich.“ (S. 22)

Bald darauf folgt ein längeres Verhör durch den Untersuchungsrichter. Meursault bestätigt, ein eher verschlossener Mensch zu sein, der eben den Mund halte, wenn er nichts zu sagen habe. Nachdem er dem Richter noch einmal den Tathergang erklärt hat, ereifert sich dieser darüber, dass Meursault wiederholt auf den toten Araber geschossen habe, und hält ihm aufgeregt ein Kruzifix vor die Nase. Die Frage, ob er an Gott glaube, verneint Meursault schlankweg. Der Richter schreit ihn empört an, auch die Leugner Gottes würden letztlich an den Auferstandenen glauben und irgendwann Reue zeigen. Er hält Meursault für extrem verstockt.

„Ich habe nichts gesagt, und er hat mich wieder gefragt, ob ich sein Kumpel sein wollte. Ich habe gesagt, das wäre mir egal: darüber schien er froh zu sein.“ (über Raymond, S. 37)

Zurück in seiner Zelle wird Meursault allmählich klar, dass er sich im Gefängnis durchaus zu Hause fühlt, obwohl er anfangs noch die Freiheit vermisst, einfach hingehen zu können, wo es ihm beliebt; er hat das Verlangen nach einer Frau und nach Zigaretten. Dann besucht ihn Marie ein einziges Mal. Er fühlt sich zwar sehr zu ihr hingezogen, aber es kommt kein Gespräch in Gang, teils weil er ihr nichts zu sagen hat, teils wegen des Lärms in dem Sprechzimmer, wo auch andere Gefangene sich mit ihren Angehörigen unterhalten. Er gewöhnt sich schnell an das Gefängnis, an sinnlose Beschäftigungen zum Totschlagen der Zeit, schließlich an den Verlust jeglichen Zeitgefühls.

Meursault vor Gericht

Meursault, der sein ganzes Leben lang nie den Eindruck hatte, dass sich die Leute um ihn kümmerten, hat durch seine Tat Aufsehen erregt. Die Presse ist beim Gerichtsprozess stark vertreten, der Saal ist brechend voll. Das Gericht benennt den Direktor des Altersheims, dessen Pförtner, sodann Raymond, den Nachbarn Salamano und auch Marie als Zeugen. Der Richter will wissen, warum Meursault seine Mutter ins Altersheim gebracht hat. Die Teilnehmer der Beerdigung sagen aus, der Sohn habe seine Mutter nicht mehr ansehen wollen, er habe bei der Totenwache geraucht, Kaffee getrunken, geschlafen, er habe bei der Beerdigung nicht geweint und sei nicht andächtig am Grab verharrt. Ein Zeuge der Verteidigung, der Wirt von Meursaults Stammlokal, erklärt, Meursault habe nie viele Worte gemacht, er sei kein Schwätzer und darum schätze er ihn als Freund. Marie muss das Wochenende nach der Beerdigung schildern, wie sie sich beim Baden trafen, einen komischen Film im Kino ansahen und wie in jener Nacht ihre Liebschaft begann. Der Staatsanwalt triumphiert; Marie schluchzt, ihre Worte würden missinterpretiert. Salamano sagt aus, Meursault sei immer gut zu seinem Hund gewesen, und Raymond erklärt den ganzen Tathergang, angefangen mit dem Brief bis zur Anwesenheit Meursaults am Strand, als Verkettung unglücklicher Zufälle. Der Staatsanwalt bezeichnet Raymond als Zuhälter und folgert eine moralisch ungeheuerliche Komplizenschaft der beiden.

„Er hat ein unzufriedenes Gesicht gemacht, hat gesagt, ich würde immer ausweichend antworten, ich hätte keinen Ehrgeiz und das sei im Geschäftsleben katastrophal.“ (über den Chef, S. 52)

In seinem Plädoyer zeichnet der Staatsanwalt Meursault als kaltblütiges, seelenloses Ungeheuer und fordert die Todesstrafe; der Verteidiger hingegen präsentiert ihn als Mustersohn und harmlosen Angestellten und fragt, ob hier über die Beerdigung der Mutter oder die Tötung eines Mannes verhandelt werde. In seinem Schlusswort sagt Meursault, dass alles "wegen der Sonne" so gekommen sei, was allerdings bloß Gelächter hervorruft.

Der letzte Abend

Am Tag vor seiner Hinrichtung weigert sich Meursault mehrmals, mit einem Geistlichen zu sprechen. Was ihn jetzt interessiert, sind nicht religiöse Tröstungen, sondern ob es noch eine Möglichkeit gibt, dem Fallbeil zu entkommen. Er erinnert sich, wie seine Mutter ihm erzählt hat, dass sich sein Vater einmal einen halben Tag lang übergeben musste, nachdem er einer Hinrichtung als Zuschauer beigewohnt hatte. Meursault phantasiert über eine Reform des Strafvollzugs, dann wird ihm klar, dass der zum Tode Verurteilte sich im eigenen Interesse das reibungslose, präzise Funktionieren der Guillotine wünschen muss. Während er in der Dämmerstunde an sein Gnadengesuch denkt, stellt er fest, dass er auf einmal die zartesten Geräusche unterscheiden kann. Er überlegt, ob es nicht das Gleiche ist, wenn er schon jetzt oder erst in 20 Jahren stirbt und ob ihm das ein Trost sein kann. Schließlich kommt ihm erstmals wieder der Gedanke an Marie, die ihm schon länger nicht mehr schreibt, und mit der Einsicht, dass er ihr nichts bedeutet und sie ihm nichts bedeutet, erkennt er das volle Ausmaß der Beziehungslosigkeit seines Lebens.

„Abends hat Marie mich abgeholt und hat mich gefragt, ob ich sie heiraten wollte. Ich habe gesagt, das wäre mir egal, und wir könnten es tun, wenn sie es wollte.“ (S. 52 f.)

Da betritt der Gefängnisgeistliche die Zelle. Er kann nicht verstehen, dass Meursault sich in seiner Todesangst nicht doch in letzter Minute Gott zuwendet. Meursault erwidert brüsk, dafür habe er nun keine Zeit mehr. Dem Priester gelingt es nicht, Meursault zu bekehren. Der Verurteilte rastet schließlich regelrecht aus, indem er seine eigene Todesgewissheit dem seines Glaubens gewissen Priester entgegenbrüllt und ihn attackiert. Angesichts seines eigenen absurden Lebens ist ihm die Welt gleichgültig. Er freut sich darauf, bei seiner Hinrichtung von vielen Zuschauern mit Hassrufen empfangen zu werden.

Zum Text

Aufbau und Stil

Schon im ersten Satz von Der Fremde kommt eine vor allem für französische Ohren ungewohnte Lakonik zum Ausdruck. Französische Leser erwarten, teilweise bis heute, kunstvoll gebaute, sprachlich beeindruckende Romananfänge, sozusagen einen rauschenden symphonischen Auftakt zu einem epischen Großwerk. Camus lehnt das ganz bewusst ab. Dem entspricht auf inhaltlicher Ebene die Art und Weise, wie sich der Protagonist des Romans den an ihn gerichteten Erwartungshaltungen der Gesellschaft verweigert. Camus’ Stil bleibt im ganzen Buch nüchtern und klar, die Sätze sind kurz, die Aussagen erscheinen bisweilen auf den ersten Blick banal. Auch hier entspricht die Einfachheit der Sprache der Banalität von Meursaults Existenz, die als exemplarisch, als typisch aufgefasst werden soll und nicht als etwas Besonderes. Eine Ausnahme bilden die relativ wenigen Stellen, in denen Camus die Landschaft und atmosphärische Details beschreibt. Hier verdichtet sich die Sprache zu erstaunlicher Brillanz und Klarheit, ohne jemals in einen lyrischen Ton zu verfallen. Die Eintönigkeit und Leblosigkeit der Wüsten- und Meerlandschaft Nordafrikas, die betäubende, blendende Sommerhitze haben in Der Fremde einen hohen symbolischen Stellenwert: Sie stehen für die Eintönigkeit von Meursaults Dasein und des menschlichen Daseins generell.

Interpretationsansätze

  • In dem zunächst harmlos erscheinenden, beziehungslosen Außenseiter Meursault spiegelt sich nach Camus’ Auffassung die Situation des modernen Menschen. Isoliert und ohne Verantwortung führt der Mensch notwendigerweise eine absurde, sinnentleerte Existenz.
  • Meursault ist der typische Einzelgänger: So wie er sich nicht auf das konventionelle Geschwätz der Menschen, den alltäglichen Smalltalk einlässt, so nimmt er auch nicht an den übrigen Konventionen teil; die erwartete Trauerhaltung verweigert er ebenso wie den beruflichen Ehrgeiz.
  • Im Prozess tritt Meursault jene konventionelle Wertewelt gegenüber, die ihn so wenig versteht wie er sie. Sie sind einander völlig fremd. Camus fasst die bürgerlich-konventionellen Werte als völlig hohl auf, da für ihn alle philosophischen Wertbegründungen entsprechend dem berühmten Nietzsche-Wort ("Gott ist tot") obsolet sind.
  • Der totale Verlust aller Glaubens- und Wertegewissheiten geht auf die Philosophie des Nihilismus zurück, kann aber auch als Folge der tief greifenden historischen Erschütterungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts gedeutet werden: Weltkriege, Totalitarismus, die Besetzung Frankreichs durch die Deutschen.
  • Meursaults tristes Dasein wird von einer eintönigen Landschaft reflektiert. Algier und Marengo sind zwei Orte zwischen Wüste und Meer, überstrahlt von einer gleißenden Sonne, die die Sinne betäubt und das Leben lähmt. Diese Landschaft wird im Roman bewusst als Ort des Nichts gezeichnet.
  • Meursault ist ein Gefangener in sich selbst. Deshalb ist ihm auch das äußere Gefängnis halbwegs erträglich. Hier ist seine Existenz - noch dazu im Angesicht des Todes - praktisch auf nichts reduziert.

Historischer Hintergrund

Der Verlust der Werte am Anfang des 20. Jahrhunderts

Das "lange" 19. Jahrhundert, dessen Dauer manche Historiker in Europa mit den Epocheneinschnitten 1789 (Französische Revolution) und 1914 (Ausbruch des Ersten Weltkriegs) markieren, bescherte den Europäern einen beispiellosen Aufschwung ihrer Zivilisation. Wissenschaft, Technik und Industrialisierung veränderten den Alltag der Menschen. Eisenbahn und Telegraphie z. B. ermöglichten eine ungeheure Beschleunigung des Lebens, zudem gab es enorme Fortschritte in der Medizin. "Fortschritt" war überhaupt das Zauberwort jener Zeit. Viele glaubten, alles sei möglich. Gleichzeitig verloren alle geistigen Systeme, egal ob sie auf Religion oder Vernunftdenken beruhten, ihre sinnstiftende Funktion. Dieses geistige Un-Heil fand seinen radikalsten Ausdruck in Nietzsches Formulierung "Gott ist tot" als Hinweis auf das Ende aller metaphysischen Werte. Gleichwohl konnten die Gesellschaften des Westens bis zum Ersten Weltkrieg einen hohen zivilisatorischen Standard und eine relative Stabilität der politischen Ordnung halten. Nach dem Krieg war es damit vorbei. Das Unheil, bisher nur ein philosophisches Problem, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer traumatischen Erfahrung für sehr viele Menschen. Es kam zu einer beispiellosen Destabilisierung und Pervertierung der politischen Systeme in die Barbarei: Massenmorde an Juden, Armeniern, Kulaken, Regime der bösartigsten Art in Deutschland, Italien, Spanien, Russland, China und Japan, Gulags, Konzentrationslager, Vertreibungen, Spitzeltum, Terror und jede Art von grausamer Willkür, Bombenkrieg bis hin zum Einsatz der Nuklearwaffe. Auch die letzten Zuckungen der Kolonialreiche Frankreich, Großbritannien und Niederlande und deren Auseinandersetzungen mit den Freiheitsbewegungen in den Kolonien waren blutig und äußerst schmerzvoll. Die Intellektuellen jener Zeit konnten gar nicht anders, als die Uhren geistig wieder auf null zu stellen und sich zu fragen: Was ist unter diesen Bedingungen der menschlichen Existenz überhaupt noch denkbar?

Entstehung

1937/38 musste Albert Camus den Rückschlag verarbeiten, aus gesundheitlichen Gründen nicht die Beamtenlaufbahn als Gymnasiallehrer einschlagen zu können. Aus Enttäuschung darüber begann er einen Roman zu schreiben, in dem ein junger Mann namens Meursault einen wohlhabenden Bekannten, der an den Rollstuhl gefesselt ist, erschießt und sich in dessen Villa über dem Meer einnistet, wo er dann selbst an Tuberkulose stirbt. Camus brach diese Arbeit (1971 posthum unter dem Titel Der glückliche Tod erschienen) ab, benutzte aber Motive daraus für den Roman Der Fremde. Dieser trug den Arbeitstitel "Der Gleichgültige" und war eher politisch angelegt: Ein junger Algerienfranzose tötet aus Versehen einen Araber - angesichts der damals heiß umstrittenen Frage der Gleichberechtigung der Araber ein brisantes Thema. Camus engagierte sich auch politisch in diesem Bereich. Anfang der 1940er Jahre beschäftigte sich der Autor verstärkt mit philosophischen Themen und verfasste im algerischen Oran, wo er zeitweilig als Lehrer angestellt war, parallel zu Der Fremde seinen bekannten philosophischen Großessay Der Mythos von Sisyphos. Beide Bücher erschienen 1942. In der Endversion von Der Fremde ist jegliche politische Relevanz verschwunden zugunsten einer romanhaften Schilderung des Menschen sozusagen am existenziellen Nullpunkt. Das Gedankengut, das Camus sowohl in Der Mythos von Sisyphos als auch in Der Fremde verarbeitet, speist sich aus seiner intensiven Beschäftigung mit Philosophen und Denkern wie Sören Kierkegaard, Friedrich Nietzsche und Fjodor M. Dostojewski, die ebenfalls die "condition humaine", die Grundbedingungen menschlicher Existenz, auszuloten versucht haben.

Wirkungsgeschichte

Camus’ erster Roman Der Fremde brachte dem Autor 1942 zwar eine gewisse Anerkennung, aber erst mit Die Pest (1947) erzielte er den großen Durchbruch beim Publikum. Camus traf den Nerv der geistig regen Menschen seiner Zeit. Der Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre, zu Beginn ein Freund, später ein intellektueller Rivale Camus’, sah in dem Roman Der Fremde ein Schlüsselwerk der Philosophie des Existenzialismus. Camus selbst stufte sein Werk nicht als existenzialistisch ein; es wird deshalb oft auch als Philosophie des Absurden bezeichnet. Camus zufolge muss sich der nach Sinn strebende Mensch in einer sinnlosen Welt fremd fühlen, was zu einer ausweglos absurden Situation führt, die er nur überwinden kann, indem er sie akzeptiert. Der große italienische Regisseur Luchino Visconti verfilmte Der Fremde 1967 mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle. Dies zeigt, wie dominierend dieses Werk und die darin artikulierte existenzielle Grundstimmung der Ausweglosigkeit in jener Zeit waren. Sie blieb (auch als antibürgerliche Grundhaltung) bis in die Mitte der 1960er Jahre vorherrschend, bis sie von einer aus England und den USA kommenden Protestbewegung, dem "Flower Power" und der Popkultur überlagert wurde. Der Fremde hat sich zum erfolgreichsten von Camus’ Werken entwickelt und ist nach wie vor eines der beliebtesten und meistverkauften Bücher der französischen Literatur. 1957 erhielt Albert Camus für sein Gesamtwerk den Nobelpreis für Literatur.

Über den Autor

Albert Camus wird am 7. November 1913 im nordalgerischen Mondovi geboren. Algerien ist damals eine französische Kolonie. Camus’ Vater ist einfacher Landarbeiter. Der Besuch des Gymnasiums wird Camus nur durch die intensiven Bemühungen eines seiner Lehrer ermöglicht. Bereits als 20-Jähriger heiratet Camus eine aus bürgerlichen Verhältnissen stammende, morphiumabhängige junge Frau. Die Ehe wird jedoch bald wieder geschieden. Der Beginn seiner beruflichen Tätigkeit vom Anfang bis weit in die 1930er Jahre hinein ist beschwerlich und unstet. Er arbeitet als Lehrer, Journalist, Theaterautor und Schauspieler. Nebenbei schreibt er eine Diplomarbeit in Philosophie. Am Zweiten Weltkrieg kann er aus gesundheitlichen Gründen (Tuberkulose) nicht teilnehmen. 1940 heiratet er erneut. Weil die Zeitung, bei der er arbeitet, verboten wird, kann er in Algerien nicht länger allein seinen Lebensunterhalt bestreiten und siedelt kurzzeitig nach Frankreich über. 1941 kehrt er nach Algerien zurück, aber nicht zuletzt die Arbeit im französischen Widerstand bindet ihn immer stärker an Paris. 1942 erscheinen seine ersten beiden wichtigen Werke: L’Étranger (Der Fremde) und Le Mythe de Sisyphe (Der Mythos von Sisyphos). 1943 wird Camus Lektor bei Gallimard, dem Verlag, dem er Zeit seines Lebens verbunden bleibt. 1947 erscheint der Roman La Peste (Die Pest), durch den Camus auch einem größeren Publikum bekannt wird. 1951 folgt die Essaysammlung L’Homme Révolté (Der Mensch in der Revolte). Camus zählt zu den bedeutendsten literarischen Figuren im Frankreich der Nachkriegszeit. Er und Sartre gelten als herausragende Vertreter des Existenzialismus, sie sind eine Zeit lang auch persönlich befreundet. Ganz in der Tradition vieler französischer Schriftsteller bezieht Camus in den 1950er Jahren Stellung zu vielen politischen Fragen: natürlich im Hinblick auf die französische Kolonialpolitik, besonders in Algerien, aber auch z. B. zum Arbeiteraufstand in Ostberlin. Camus ist ein vehementer Gegner der Todesstrafe und gilt in den späten 1950er Jahren vielen als das literarische Gewissen Frankreichs. 1957 erhält er den Literaturnobelpreis. Am 4. Januar 1960 kommt Camus bei einem Autounfall ums Leben.

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    R. S. vor 5 Jahren
    Der Fremde ist auch heute absolut aktuell und zwingt mich, mich mit mir auseinanderzusetzen; wo stehe ich

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