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Der Vorleser

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Der Vorleser

Diogenes Verlag,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

Liebesgeschichte und Justizdrama: Bernhard Schlinks Erfolgsroman ist beides und fesselt den Leser bis zur letzten Seite.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Vergängliche Liebe, unvergängliche Schuld

Es gibt wenige deutsche Romane der Gegenwart, die es innerhalb kürzester Zeit auch international geschafft haben, die Bestsellerlisten zu stürmen. Der Vorleser von Bernhard Schlink ist ein solcher Roman, der 1995 in Deutschland zur literarischen Sensation wurde und später auch in den USA und anderen Ländern für Furore sorgte. Schlink erzählt eigentlich zwei Geschichten auf einmal - die tragische Liebesgeschichte und das erschütternde Justizdrama -, verwebt diese aber äußerst gekonnt miteinander: Der 15-jährige Michael verliebt sich in den 50ern in die 21 Jahre ältere Hanna Schmitz. Ein Dreivierteljahr lang ist er ihr Liebhaber - und ihr Vorleser. Dann ist ganz plötzlich Schluss. Jahre später begegnet er ihr im Gerichtssaal wieder. Er ist der eifrige Jurastudent, sie die Angeklagte in einem KZ-Prozess. Jetzt beginnt die Zeit der Aufarbeitung und der Freilegung alter Wunden. Schlinks Roman präsentiert sich als relativ schmales Werk, ohne langweilige Exkurse, und zeigt, dass sich Unterhaltung und Anspruch doch verbinden lassen. Ein schnörkelloses, präzises und ergreifendes Stück moderne Literatur.

Take-aways

  • Der Vorleser war 1995 eine literarische Sensation und wurde Bernhard Schlinks erfolgreichster Roman.
  • Das Buch ist tragische Liebesgeschichte, Gerichtsdrama und Aufarbeitung der NS-Zeit zugleich.
  • Ende der 50er: Der 15-jährige Michael Berg lernt die 36-jährige Hanna Schmitz kennen und verliebt sich in sie.
  • Für eine Weile trifft sich das ungleiche Paar täglich zum Stelldichein in Hannas Wohnung.
  • Neben dem Sex muss Michael seiner Geliebten immer aus Büchern etwas vorlesen.
  • Eines Tages ist Hanna plötzlich verschwunden und Michael gerät in eine persönliche Krise.
  • Jahre später sehen sie sich im Gerichtssaal wieder: Er ist Jurastudent, Hanna sitzt auf der Anklagebank.
  • Während der letzten Kriegsjahre war sie Aufseherin in einem Konzentrationslager. Nun wird ihr der Prozess gemacht: Sie wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt.
  • Michael erfährt, dass Hanna Analphabetin ist und daher manche Taten, die ihr zur Last gelegt werden, gar nicht begangen haben kann.
  • Doch da sie dieses Geheimnis für sich behält, verrät auch er es nicht. Jahrelang schickt er ihr von ihm selbst besprochene Tonbandkassetten ins Gefängnis.
  • Am Tag ihrer Haftentlassung begeht Hanna Selbstmord.
  • Schlinks Roman wurde ein internationaler Bestseller und landete sogar auf Platz eins der Bestsellerliste der New York Times.

Zusammenfassung

Die Begegnung mit Frau Schmitz

Michael Berg leidet im Alter von 15 Jahren an Gelbsucht. Die Krankheit sucht ihn auf dem Nachhauseweg von der Schule heim. Es ist ein Montag im Oktober. In der Bahnhofstraße muss er sich übergeben. Zum Glück kommt ihm eine Frau zu Hilfe, die ihn bei der Beseitigung des Malheurs unterstützt und auch sein besudeltes Gesicht reinigt. Als Michael daraufhin in Tränen ausbricht, umarmt ihn die Frau. Er spürt ihren vollen, weiblichen Körper. Zu Hause diagnostiziert der Arzt die Krankheit, und Michael muss einige Monate das Bett hüten. Nach seiner Genesung schickt seine Mutter ihn in die Bahnhofstraße zurück, er soll sich bei der freundlichen Frau bedanken. Mit bebendem Herzen und einem Blumenstrauß in der Hand steht er schließlich im Flur ihres Hauses. Ein Nachbar schickt ihn zu "Frau Schmitz". Sie bittet ihn herein. Michael mustert die Wohnung, das Gesicht und den Körper der Frau. Er findet sie schön. Besonders gefallen ihm ihre Bewegungen: wie sie ihre Bügelschürze auszieht, einen Strumpf anzieht, wie sich das Unterkleid über ihren festen Schenkeln spannt. Michael fühlt sich als Voyeur, und als die Frau ihn ansieht, verlässt er mit knallrotem Kopf das Zimmer und rennt nach Hause.

Heiße Affäre

Michael darf noch nicht in die Schule gehen und das Zuhausebleiben wird ihm zur Qual. Er muss immer wieder an die Frau denken, hat feuchte Träume, sehnt sich nach ihr. Schließlich, nach einer Woche, wagt er es, sie erneut zu besuchen. Frau Schmitz bittet Michael, ihm zwei Schütten Koks aus dem Keller zu holen. Dabei wird er so schmutzig, dass sie ihm ein Bad einlaufen lässt. Ängstlich übergibt Michael ihr seine Kleider und springt in die Wanne. Als er wieder herauskommt, empfängt ihn die Frau mit einem Badetuch. Sie ist nackt. Die beiden lieben sich. Es ist Michaels erstes Mal. Scheu und Neugierde, Angst und Lust toben in seinem Inneren. Er verliebt sich in sie. Michael beschließt, wieder in die Schule zu gehen, wobei er aber immer die letzte Stunde schwänzt, um seine neue Freundin zu besuchen. Gegenüber seinen Schulkameraden fühlt er sich stolz und überlegen, weil er eine ältere Geliebte hat. Ein Ritual pendelt sich ein: Die beiden treffen sich, duschen miteinander und lieben sich. Immer besser lernt Michael die körperliche Liebe kennen, seine Reaktionen einzuschätzen und herauszufinden, was Frau Schmitz gefällt und Lust bereitet.

Der Vorleser

Geredet wird nicht allzu viel. Als Michael nach einer Woche nach dem Vornamen seiner Gespielin fragt, ist diese zunächst perplex, nennt ihn dann aber bereitwillig: Hanna. Als sie erfährt, dass Michael für sie die Schule schwänzt und vermutlich sitzen bleibt, wird sie wütend und erlaubt ihm nur dann wiederzukommen, wenn er seine Schularbeit erledigt hat. Er verspricht es ihr. Fragen nach ihrer Vergangenheit weicht Hanna aus: Sie komme aus Siebenbürgen, sei mit 17 nach Berlin gezogen, habe bei Siemens gearbeitet und sei mit 21 "unter die Soldaten" geraten. Nach dem Krieg hat sie mehrere Jobs gehabt und ist nun Straßenbahnschaffnerin - ein Beruf, der ihr nicht wirklich gefällt. An die Zukunft denke sie nicht, sagt sie. Michael schafft die Versetzung doch noch, denn er will Hanna beweisen, dass er sein Versprechen ernst nimmt. Sie gibt ihm Sicherheit und Kraft im Umgang mit Lehrern, Mitschülern und vor allem auch mit Mädchen, denen er sich nun sehr souverän nähern kann. Eines Tages fragt ihn Hanna, ob er ihr aus der Literatur vorlesen wolle, die er in der Schule durchnimmt. Dieses Vorlesen wird fortan Teil ihres täglichen Rituals.

Missverständnisse und Missgeschicke

Die Unbeschwertheit der Beziehung bekommt einen ersten Dämpfer, als Michael Hanna überraschen will. Es ist der erste Tag der Osterferien. Er steigt morgens in die Straßenbahn, in der Hanna ihren Frühdienst versieht. Weil er hofft, von ihr einen Kuss zu bekommen, wählt er jedoch den zweiten, leeren Waggon und nicht den ersten, in dem Hanna und der Fahrer sich unterhalten. Während der gesamten Fahrt ignoriert Hanna ihn. Bei ihrem abendlichen Treffen macht sie ihm Vorwürfe, dass er sie nicht beachtet habe - obwohl Michael das ganz anders sieht. Sie schickt ihn fort, aber schon eine halbe Stunde später steht er wieder vor ihrer Tür. Er ist zerknirscht, nimmt alles auf sich, nur damit sie ihn wieder zu sich lässt.

„Ich konnte die Augen nicht von ihr lassen. Von ihrem Nacken und von ihren Schultern, von ihren Brüsten, die das Unterkleid mehr umhüllte als verbarg, von ihrem Po, an dem das Unterkleid spannte, als sie den Fuß auf das Knie stützte und auf den Stuhl setzte, von ihrem Bein, zuerst nackt und blass und dann im Strumpf seidig schimmernd.“ (über Hanna, S. 15)

Auch in der folgenden Zeit gibt er immer wieder klein bei, denn in seinen Augen sitzt Hanna am längeren Hebel. Das wird auch auf dem lange geplanten Ausflug deutlich, den Michael mit Hanna in den Osterferien unternimmt. Seinen Eltern hat er irgendeine Lüge aufgetischt und eine viertägige Fahrradtour geplant. Zunächst verläuft alles harmonisch und die beiden freuen sich, mehr Zeit denn je miteinander verbringen zu können. Doch eines Morgens schleicht sich Michael früh aus dem gemeinsamen Hotelzimmer - in dem sie als "Mutter und Sohn" logieren -, um Frühstück und eine Rose für Hanna zu besorgen. Als er wieder zurückkehrt, ist Hanna bleich vor Zorn und fügt ihm mit einem Lederriemen gar eine Wunde zu. Den Zettel, den er hinterlassen hat, habe sie nicht gefunden, sagt sie, und deshalb angenommen, er habe sich aus dem Staub gemacht. Zwar versöhnen sie sich wieder, aber Michael bleibt das schockierende Erlebnis unauslöschlich im Gedächtnis haften.

Der Gleitflug der Liebe

In der letzten Ferienwoche verreisen Michaels Eltern mit den beiden großen Geschwistern. Der Weg ist frei für eine ganze Woche mit Hanna. Eines Abends lädt Michael sie in die elterliche Wohnung ein und kocht für sie. Er erinnert sich später daran, wie sie in der Wohnung umherwanderte und über die Bücher in der väterlichen Bibliothek strich: Das sind einige der eindrücklichsten Erinnerungen an Hanna, die Michael auch noch nach vielen Jahren in allen Details abrufen kann.

„Ich erfuhr Tag um Tag, dass ich die sündigen Gedanken nicht lassen konnte. Dann wollte ich auch die sündige Tat.“ (S. 21)

Mit dem neuen Schuljahr schließt er neue Freundschaften, und auch ein gleichaltriges Mädchen, Sophie, ist ihm sehr sympathisch. Es beginnt der Gleitflug der Liebe mit Hanna, das letzte Verrauschen ihrer Lust kurz vor einer unsanften Landung. Sie geben sich Tiernamen. Hanna hat für Michael tausend Verniedlichungen, er vergleicht sie nur mit einem Pferd - was sie anfangs überhaupt nicht verstehen kann. Hannas Launen beginnen Michael zu ärgern: Er findet immer mehr Gefallen an dem Zusammensein mit seinen Freunden, weil das so herrlich unkompliziert ist.

„Ich hatte Angst: vor dem Berühren, vor dem Küssen, davor, dass ich ihr nicht gefallen und nicht genügen würde.“ (S. 27)

Michael beginnt, sein Verhalten gegenüber Hanna als "Verrat" zu verstehen. Dieser besteht darin, dass er niemandem von Hanna erzählt und sich daher auch nicht zu ihr bekennt. Im Sommer sieht er sie einmal zufällig im Schwimmbad - danach verschwindet Hanna sang- und klanglos aus Michaels Leben. Von ihrem Arbeitgeber erfährt er, dass sie gekündigt hat, obwohl man ihr die Beförderung zur Fahrerin angeboten hat. Auch aus der Wohnung ist sie ausgezogen - ohne jede Nachricht für ihren Liebhaber und Vorleser. Michael ist am Boden zerstört und sucht die Schuld für diesen abrupten Aufbruch bei sich selbst.

Wiedersehen vor Gericht

Die Jahre sind vergangen. Michael hat sich ab und zu an Hanna erinnert, aber nach ihr kamen und gingen andere Freundinnen und Liebhaberinnen. Das Abitur und das Studium der Rechtswissenschaften erscheinen ihm im Rückblick leicht. Mit einer Mischung aus Empfindsamkeit und Kaltschnäuzigkeit lebt Michael sein Leben, bis er Hanna eines Tages im Gerichtssaal wieder sieht - sie sitzt auf der Anklagebank. Anlass für Michaels Besuch im Gericht ist ein Universitätsseminar über die KZ-Prozesse. Die aktuellen Prozesse finden in einer nur eine Stunde entfernten Nachbarstadt von Michaels Studienort statt. Der Student wohnt freiwillig jedem Verhandlungstag bei. Ein einziges Mal blickt Hanna ihn an, ansonsten sieht er sie nur von hinten auf der Anklagebank sitzend. Hannas Vorgeschichte wird enthüllt: 1943 ist sie freiwillig zur SS gegangen und in einem Lager in der Nähe von Auschwitz als Aufseherin eingesetzt worden. Die Anklageschrift beschuldigt sie vor allem zweier Verbrechen. Erstens: Sie habe über Leben und Tod entschieden, weil sie diejenigen Frauen in ihrem Lager ausselektiert und nach Auschwitz geschickt habe, die sie nicht mehr für arbeitstauglich hielt. Zweitens: Bei einer Verlegung des Lagers nach Westen seien die Frauen in einer Kirche eingeschlossen worden, als alliierte Flieger einen Luftangriff starteten. Der Tod der Gefangenen hätte verhindert werden können, wenn die Wächterinnen die Türen der Kirche geöffnet hätten, als deren Dachstuhl Feuer fing.

Hannas Geheimnis

Michael sieht Hanna im Gerichtssaal gänzlich auf verlorenem Posten. Es scheint ihm, als habe sie die Anklageschrift nicht gelesen oder nicht verstanden. Auch das Buch, das eine der wenigen Überlebenden jener Bombennacht geschrieben hat, ist Hanna offenbar gänzlich unbekannt. Es ergeben sich Unstimmigkeiten zwischen ihren Aussagen und früheren Protokollen. Ihre Fragen erscheinen ungeschickt, ihre Verteidigung ebenso. Das nutzen die anderen angeklagten Frauen aus und versuchen, Hanna die Hauptschuld zuzuschieben. Sie habe besondere Lieblinge unter den Gefangenen gehabt: Diesen habe sie die Arbeit erspart und sie abends zu sich geholt, um sich von ihnen vorlesen zu lassen. Aber natürlich wurden auch sie irgendwann nach Auschwitz geschickt. Als der Richter auf einen Bericht der SS zu sprechen kommt, der von den Ereignissen rund um die brennende Kirche handelt, bezichtigen alle anderen Angeklagten Hanna, den Bericht allein verfasst zu haben. Diese protestiert zunächst, gibt dann jedoch klein bei, als ein Schriftvergleich anberaumt wird. Warum dieser plötzliche Sinneswandel? Michael grübelt über diese Frage und kommt schließlich Hannas Geheimnis auf die Spur: Sie kann weder lesen noch schreiben. Das war der Grund dafür, dass sie sich für Vorleser erwärmte - sowohl im KZ als auch während der Affäre mit Michael.

Das Urteil

Es scheint, als wolle Hanna lieber alle Schuld auf sich nehmen, als das Geheimnis ihres Analphabetismus zu lüften. Mehr als alles andere fürchtet Hanna diese Bloßstellung. Michael gerät in einen Gewissenskonflikt: Soll er sein Wissen enthüllen, mit dem Richter sprechen und klarstellen, warum Hanna die Verantwortung für etwas übernimmt, das sie gar nicht getan haben kann? Mit Hanna selbst sprechen kann er nicht. Ein intensives Gespräch mit seinem Vater bestätigt Michael darin, Hannas Geheimnis zu wahren. Wenn sie es nicht zugeben will, warum sollte er dann ihr Geheimnis preisgeben? Während einer zweiwöchigen Prozessunterbrechung besucht Michael das ehemalige Konzentrationslager Struthof im Elsass. Mit einem Mann, der ihn ein paar Kilometer in seinem Auto mitnimmt, beginnt er ein Gespräch über die Motive der Täter. Der Mann versucht Michael klarzumachen, dass die KZ-Aufseher vermutlich keinen Hass auf die Juden hatten, sondern einfach gleichgültig gegenüber den Menschen waren, die sie "verwalteten". Als Michael den Mann fragt, ob auch er einer dieser Soldaten gewesen sei, wirft dieser ihn abrupt aus dem Wagen. Anfang Juni wird das Urteil verkündet: Hanna wird zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Wieder Vorleser

Nach dem Ende des Prozesses verkriecht sich Michael in der Bibliothek. Im Winter macht er eine Skireise mit anderen Studenten. Gertrud, eine Kommilitonin, wird später Michaels Ehefrau. Sie haben eine Tochter zusammen. Nach dem zweiten Staatsexamen flüchtet Michael sich in den Wissenschaftsbetrieb und arbeitet als Rechtshistoriker, während sich Gertrud aufs Richteramt vorbereitet. Nach fünf Jahren Ehe lassen sich die beiden scheiden. Michael kann Hanna nicht vergessen und wird beziehungsunfähig. Er beginnt damit, Hanna Tonkassetten ins Gefängnis zu schicken: Zunächst liest er ihr die Odyssee vor, dann Werke von Keller, Fontane, Heine, Mörike und Tschechow, später auch seine eigenen literarischen Gehversuche. Ein persönlicher Austausch findet nicht statt. Im vierten Jahr jedoch schreibt ihm Hanna. Sie hat sich im Gefängnis selbst Schreiben und Lesen beigebracht. Im neunten Jahr dieser "Fernbeziehung" teilt die Gefängnisdirektorin Michael mit, dass Hanna im folgenden Jahr vorzeitig entlassen werde, und bittet ihn, sich ein wenig um sie zu kümmern, wenn sie rauskommt. Michael schiebt den Besuch im Gefängnis vor sich her. Schließlich wagt er es doch: Das Wiedersehen ist verkrampft. Michael ist schockiert darüber, wie sehr Hanna gealtert ist. Er kümmert sich um eine Wohnung für sie und informiert sich über Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten.

„Wenn ich heute eine Frau von sechsunddreißig sehe, finde ich sie jung. Aber wenn ich einen Jungen von fünfzehn sehe, sehe ich ein Kind. Ich staune, wie viel Sicherheit Hanna mir gegeben hat.“ (S. 41)

Am Tag ihrer Entlassung ist Hanna tot. Sie hat sich am Morgen erhängt. In ihrem Testament vermacht sie ihr Vermögen einer in die USA emigrierten Frau, die damals den Brand in der Kirche überlebt hat. Im darauf folgenden Herbst besucht Michael die Frau in New York. Sie möchte das Geld nicht haben und ermutigt Michael, es einer Hilfsorganisation zu spenden. Er gibt es einer jüdischen Organisation zur Bekämpfung des Analphabetismus. Mit dem Dankschreiben der Organisation fährt er zu Hannas Grab. Es ist das erste und einzige Mal, dass er ihr Grab besucht.

Zum Text

Aufbau und Stil

Bernhard Schlink bedient sich in Der Vorleser einer knappen, klaren, verständlichen Sprache. Die Ereignisse werden sehr verdichtet dargestellt. Das Werk ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil beschreibt die Liebesbeziehung des 15-jährigen Michael zur 21 Jahre älteren Hanna Schmitz von Herbst 1958 bis Sommer 1959. Der zweite Teil behandelt den Prozess gegen Hanna und spielt fast ausschließlich im Gerichtsgebäude. Das Gerichtsdrama wird durch mehrere Rückblenden in die NS-Vergangenheit der Angeklagten unterbrochen. Der dritte Teil schließlich beschreibt im Zeitraffer Michaels Leben nach der Urteilsverkündung. Die hier erzählte Zeit umfasst rund 18 Jahre, die auf weniger als 50 Seiten berichtet werden. Schlink lässt die Ereignisse von dem nunmehr 51-jährigen Michael in der Rückschau erzählen; darum mischen sich in die Schilderung immer wieder Einschätzungen, Rückblicke oder Vorausdeutungen des Erzählers. Schlink pflegt in den einzelnen Kapiteln eine monothematische Erzählweise: Fast alle der knappen Kapitel behandeln nur ein Thema oder eine bestimmte Nuance eines Themenkomplexes. Zu den auffälligsten Stilmitteln zählen die vielen Fragen, die der Autor seinen reifen Ich-Erzähler stellen lässt: Vor allem im zweiten Romanteil kreisen diese um das Themenfeld der Schuld in Bezug auf die Nazi-Prozesse. Die Fragen regen den Leser zum Nachdenken an und lassen ihn in einen zeitgeschichtlichen Diskurs eintreten.

Interpretationsansätze

  • Das große Thema des Romans ist die Schuldfrage: Am Beispiel der persönlichen Beziehung zwischen Michael und Hanna zeigt Schlink die Mechanismen der Verdrängung, Verweigerung und Annahme von Schuld. Dies ist zugleich ein Spiegel der großen Frage nach individueller und kollektiver Schuld in Bezug auf die Verbrechen der NS-Zeit.
  • Die Figur des Michael Berg steht stellvertretend für die erste Generation "nach Hitler": Er sieht sich zunächst als Teil der "Avantgarde der Aufarbeitung", doch später kommt er, anders als viele seiner Altersgenossen, zu der Einsicht, dass diese forcierte Vergangenheitsbewältigung auch eine Flucht vor der zu gefühlsintensiven Auseinandersetzung mit den Gräueltaten der Väter und Mütter sein könnte.
  • Dass Schlink die Täterin Hanna nicht als Monster zeigt, sondern als Mensch aus Fleisch und Blut, den man lieben kann, holt das Grauen auf eine leichter verstehbare, zugänglichere Ebene. Das Unvorstellbare wird vorstellbar.
  • Michaels Beziehung zu Hanna ist anfangs von rein körperlicher Lust geprägt. In der Erinnerung beschreibt er seine Sehnsucht nach Heimkehr und Rückzug ins Innere des (weiblichen) Körpers. Hanna dagegen scheint sexuell zu Pädophilie zu neigen: Michael ist zum Zeitpunkt ihrer Beziehung noch minderjährig.
  • Vertuschung spielt in der Beziehung der beiden eine große Rolle: Zunächst verbirgt Hanna meisterhaft, dass sie Analphabetin ist. Später dann finden Vertuschung und Sprachlosigkeit unter umgekehrten Vorzeichen statt: Nun ist es Michael, der keinen Kontakt zu Hanna sucht, sie niemals persönlich besucht und der, selbst nachdem sie schreiben gelernt hat, seinen Vorlesemonolog fortsetzt. Insofern ist diese Liebesgeschichte ein reines Kommunikationsdesaster.

Historischer Hintergrund

Konzentrationslager und KZ-Prozesse

Schon in der Anfangsphase des nationalsozialistischen Regimes ließ Adolf Hitler ganz Deutschland mit Konzentrationslagern überziehen. Diese Lager waren für Nazi-Gegner jeglicher Couleur bestimmt. Zwangsarbeit, Folter und Mord und später systematischer Massenmord waren dort an der Tagesordnung. Mit der Reichstagsbrandverordnung von 1933 verschaffte sich Hitler eine juristische Handhabe, seine Gegner systematisch zu verfolgen. Die SA und die SS, später die Geheime Staatspolizei (Gestapo) unter Heinrich Himmler, nahmen Verdächtige in "Schutzhaft" und verschleppten sie in KZs. 1933 entstand in Dachau das erste Lager, es folgten Sachsenhausen (1936), Buchenwald (1937), Neuengamme, Flossenbürg und das zunächst reine Frauenlager Ravensbrück (alle 1938). Hinzu kamen mehrere Neben- und Außenlager. Nach Kriegsbeginn wurden zahlreiche neue Lager in den besetzten Gebieten geschaffen, auch reine Vernichtungslager wie das in Auschwitz-Birkenau. Lagerkommandant Rudolf Höß setzte als erster das Blausäuregas Zyklon B zur Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener und später der aus ganz Europa hertransportierten Juden ein. Gegen Kriegsende wurden die Lager nacheinander aufgelöst: Je näher die sowjetische Armee von Osten heranrückte, desto mehr Gefangene wurden in Gewaltmärschen auf den Weg nach Westen geschickt; nur wenige überlebten. Der Hauptanklagepunkt in dem in Der Vorleser geschilderten Prozess bezieht sich auf die Selektionstätigkeit im Lager und das rücksichtslose Verhalten der KZ-Aufseher gegenüber den Gefangenen bei einem solchen Gewaltmarsch. Dies ist keine bloße Fiktion: Zu den Aufsehen erregenden KZ-Prozessen der Nachkriegszeit gehörten die zwischen 1963 und 1965 in Frankfurt am Main stattfindenden Prozesse gegen Aufseher des Konzentrationslagers Auschwitz. Die Reaktion der Bevölkerung auf diese Maßnahme der Aufarbeitung war unterschiedlich: Einige waren schockiert angesichts des oftmals geringen Strafmaßes, andere forderten einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit.

Entstehung

Nach mehreren erfolgreichen Kriminalromanen kehrte Bernhard Schlink 1995 diesem Genre den Rücken und wandte sich der Arbeit an Der Vorleser zu. Über die Entstehung lassen sich nur wenige Informationen zusammentragen, weil Schlink hierzu kaum Angaben gemacht hat. Insbesondere der in Interviews immer wieder auftretenden Frage nach den autobiographischen Hintergründen des Romans versuchte Schlink auszuweichen: In einem Interview mit der amerikanischen Talkmasterin Oprah Winfrey würgte er jede Diskussion zu dieser Frage ab: "Wissen Sie, ich komme aus der alten Welt und habe ein ganz altmodisches Verständnis von Privatsphäre." An anderer Stelle gab er aber zu, dass einige Bausteine des Romans aus seinem eigenen Leben stammen: "Man kann in der Tat nur über das schreiben, was man kennt, und man kennt sich eben besonders gut. Aber man kennt sich natürlich nicht nur so, wie man war, sondern auch, wie man sich gerne hätte, nicht gerne hätte, wie man manchmal zu sein befürchtet. Man kennt auch die anderen immer in dem, was sie sind und sein könnten. Daraus werden dann die Geschichten, die man schreibt." In einem anderen Interview ließ Schlink durchblicken, dass er sich bereits 1990 mit der Konstruktion des Romans beschäftigt hatte, wenn auch eher auf einer atmosphärischen Ebene: Kurz nach der Wende hatte er Ostberlin besucht und sich von den grauen, verwahrlosten Straßen an die Nachkriegszeit erinnert gefühlt, ein Setting, das sich im ersten Teil des Romans wiederfindet. Das Buch sollte ursprünglich gar nicht in Deutschland, sondern in den USA herauskommen.

Wirkungsgeschichte

Der Vorleser wurde in Deutschland überwiegend positiv aufgenommen. Das war für Schlink selbst eine Überraschung, meinte er doch, seine Darstellung der Hanna könnte missverstanden werden, weil sie politisch nicht korrekt erscheine. Leser und Kritiker waren sich über die Qualität des Romans einig, es hagelte positive Rezensionen. Der Berliner Tagesspiegel etwa urteilte: "Dieses Buch sollte man sich nicht entgehen lassen, weil es in der deutschen Literatur unserer Tage hohen Seltenheitswert besitzt." Doch es gab auch kritische Stimmen. Schlink wurde aufgrund seiner "menschlichen" Darstellung einer NS-Täterin Geschichtsrevisionismus und Geschichtsfälschung vorgeworfen. Indem er das Verhalten der Hanna Schmitz mit ihrem Analphabetismus und ihrer Scham darüber erkläre, verharmlose er die Aspekte Schuld und Verantwortung.

1995 landete der Roman in der damals einflussreichen Literatursendung Literarisches Quartett und wurde von Gastgeber Marcel Reich-Ranicki sehr gelobt. Das beflügelte den Verkauf, innerhalb kürzester Zeit gingen 500 000 Exemplare über den Ladentisch, und spätestens seitdem der Roman auch als Taschenbuch verfügbar ist, ist er ein Bestseller. Das Buch wurde in 37 Sprachen übersetzt und erreichte auch international einen Bestsellerstatus. Die englische Übersetzung verkaufte sich 1,8 Millionen Mal. Unter dem englischen Titel The Reader schaffte es das Werk 1999 sogar in die renommierte Büchersendung Oprah’s Book Club der amerikanischen Talkmasterin Oprah Winfrey. Zu Schlinks Erstaunen stieß sich das amerikanische Publikum stark an der Konstellation "Ältere Frau liebt minderjährigen Jungen". Diese Schwerpunktsetzung habe er in Europa noch nicht erlebt, musste Schlink dem verblüfften amerikanischen Publikum gestehen. In den USA landete der Roman auf Platz eins der Bestsellerliste der New York Times.

Über den Autor

Bernhard Schlink wird am 6. Juli 1944 in Großdornberg bei Bielefeld geboren. Sein Vater stammt aus Hessen, seine Mutter aus der Schweiz. Schlink wächst in Heidelberg und Mannheim auf und geht dort zur Schule. Früh schon regt sich sein Wunsch nach literarischer Betätigung: Mit acht Jahren verfasst er nach einem Streit mit seinem Bruder ein Drama mit dem bezeichnenden Titel Brudermord, mit 13 Jahren Sonette über eine unglückliche Liebe. Beruflich geht er jedoch in eine ganz andere Richtung. Er studiert Rechtswissenschaften in Heidelberg und Berlin, schreibt seine Dissertation zur Abwägung im Verfassungsrecht (1975) und habilitiert sich sechs Jahre später. Schlink arbeitet zunächst als Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht in Bonn und Frankfurt und ab 1988 als Verfassungsrichter für das Land Nordrhein-Westfalen. Seit 1992 ist er Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität. Schlink wendet sich neben seiner wissenschaftlichen Arbeit in den 1980er Jahren auch wieder der Literatur zu. Er sagte einmal: "Ich habe schon als Schüler, als Student geschrieben und dachte eine Zeit lang, meine Freude am Schreiben könnte sich im wissenschaftlichen Schreiben erfüllen. Das kann sie nicht. Insofern kann ich mir jetzt ein Leben ohne das literarische Schreiben nicht mehr vorstellen." Es sind zunächst Krimis, mit denen Schlink schnell bekannt wird; der Schritt vom Juristen zum Krimiautor erscheint ihm nach eigener Aussage als am geringsten. Insgesamt drei Romane um den pensionierten Staatsanwalt und Hobbydetektiv Gerhard Selb erscheinen: Selbs Justiz (1987), Selbs Betrug (1992) und Selbs Mord (2001). Außerdem verfasst Schlink den Krimi Die gordische Schleife (1988) und die Geschichtensammlung Liebesfluchten (2000). Internationalen Erfolg erreicht er mit Der Vorleser (1995).

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