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Wendekreis des Krebses

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Wendekreis des Krebses

Artemis & Winkler,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

Lange verboten, heute weltberühmt: Henry Millers skandalumwittertes Tagebuch aus dem Paris der 1930er Jahre.

Literatur­klassiker

  • Tagebuch
  • Moderne

Worum es geht

Lust aufs ungezügelte Leben

Als Henry Miller 1930 in Paris ankam, war er als Schriftsteller eigentlich gescheitert: Für keinen seiner Romane hatte er bis dahin einen Verlag gefunden. Er war überzeugt davon, dass es nichts mehr zu verlieren gab, und ließ alle literarischen Konventionen hinter sich. Das Ergebnis ist Wendekreis des Krebses, eines der skandalträchtigsten und zugleich einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts. In Form eines autobiographischen Tagebuchromans hält Miller sein leidenschaftliches Plädoyer für die ungezügelte Lebenslust. Immer auf der Suche nach einer warmen Mahlzeit, einer willigen Frau oder einfach dem nächsten Glücksmoment stürmt der Schriftsteller durch das Künstlerviertel Montparnasse. Er schläft bei Freunden, auf Parkbänken oder in leeren Kinos, er arbeitet als Korrektor für eine Zeitung, als Hilfslehrer an einem Gymnasium oder als Werbetexter für den Bordellbetrieb. Insbesondere sprachlich mutete die ungebremste Lebensfreude Millers seinen Zeitgenossen viel zu. Wegen der eindeutigen obszönen Passagen blieb der Import des Romans in die USA bis in die 1960er Jahre untersagt. Noch heute fasziniert die Kraft des Buches, die letztendlich auch gegen jede spießige Gerichtsbarkeit obsiegte: Die amerikanischen Zensurgesetze wurden geändert, Miller wurde zu einem der meistgelesenen Autoren der 1960er Jahre.

Take-aways

  • Mit dem autobiographischen Tagebuchroman Wendekreis des Krebses begründete Henry Miller seinen literarischen Ruhm.
  • Obwohl in Paris 1934 erstmals veröffentlicht, stand der Roman in den USA bis in die 1960er Jahre auf dem Index.
  • Mit seiner freizügigen Sprache und seinem eigenwilligen Erzählstil durchbrach Miller die literarischen Normen seiner Zeit.
  • Der Roman wechselt ständig zwischen anekdotischen Passagen, philosophischen Überlegungen und sexuellen Beschreibungen.
  • Der Ich-Erzähler berichtet von seinem Leben als meist arbeitsloser amerikanischer Schriftsteller in Paris.
  • Er findet Unterschlupf bei Freunden und Bekannten, verbringt die Tage und Nächte auf den Straßen der Stadt, in Bars und Bordellen.
  • Vor allem zwei Dinge treiben ihn an: sein knurrender Magen und die Lust auf Sex.
  • Moralische Bedenken hat er keine, er lässt sich ausschließlich von seiner Freude am intensiven Leben leiten.
  • Von der westlichen Zivilisation erwartet er nichts mehr. Die Welt scheint ihm dem Untergang geweiht.
  • Trotz dieser düsteren Sicht ist er meistens bester Laune: Wenn er die Welt schon nicht retten kann, will er zumindest Spaß in ihr haben.
  • Als der Roman 1961 in den USA veröffentlicht wurde, kam es zu einem dreijährigen Prozess.
  • Letztlich wurde die US-Zensurgesetzgebung entschärft und der Roman als Kunstwerk anerkannt.

Zusammenfassung

Leben und Schreiben als Boheme

Schreibend sitzt der amerikanische Schriftsteller Henry Miller da. Er verkündet sein literarisches Konzept, das darin besteht, das wahre Leben mit aller Leidenschaft einzufangen. Er möchte sich beim Schreiben nicht korrigieren, der Text soll niemals überarbeitet werden, alle formalen Schranken der traditionellen Literatur sollen durchbrochen, das Individuelle soll gefeiert werden. Miller lebt seit zwei Jahren in Paris. Da er keiner geregelten Arbeit nachgeht, besitzt er kaum genug Geld, um sich zu ernähren.

„Dies ist kein Buch im gewöhnlichen Sinn des Wortes. Nein, dies ist eine fortwährende Beleidigung, ein Maul voll Spucke ins Gesicht der Kunst, ein Fußtritt für Gott, Menschheit, Schicksal, Zeit, Liebe, Schönheit ... was man will.“ (S. 16)

Sein Freundeskreis besteht zumeist aus ebenfalls abgebrannten amerikanischen Exilanten, die den Künstlerstadtteil Montparnasse bevölkern: Männer, die sich als Musiker oder Schriftsteller versuchen, von Miller aufgrund ihrer fehlenden Leidenschaft aber belächelt werden; Frauen, mit denen er samt und sonders bereits im Bett gewesen zu sein scheint. Beim Gedanken an Tania und Irène hebt er zu einem erregten Gesang auf das weibliche Geschlecht an. Unterbrochen wird sein Schreibfluss von seinem Mitbewohner Boris. Die Wohnung soll an jemand anders vermietet werden; das Ehepaar Wren ist interessiert und wird durch die Räume geführt. Boris spendiert eine Flasche Schnaps, Miller schließt sich der Gruppe an und lässt sich auch von der drohenden Obdachlosigkeit nicht die Laune verderben. Angeregt vom erwartungsvollen Lächeln der Frau Wren hebt er an zu seinem nächsten Monolog: einer Erinnerung an seinen ersten Parisbesuch, bei dem er mit seiner Ehefrau Mona durch die Straßen der Stadt und in die Hotelbetten hinein taumelte.

Zum Essen bei Freunden

Für die letzten Tage im Apartment engagiert Boris das deutsche Hausmädchen Else. Sie macht Frühstück, zeigt den Interessenten die Wohnung - und lässt sich gleich am ersten Tag von Miller verführen. Ihre Tränen im Anschluss an das Techtelmechtel rühren ihn wenig, sie erinnern ihn eher an die typisch deutsche Melancholie in der Musik Schumanns. Den Nachmittag und Abend verbringt Miller im Haus seiner Freundin Tania. Deren Mann, dem Dramatiker Sylvester, übergibt er eines seiner Manuskripte zur Lektüre. Tania, die eine Affäre mit Miller hat, ist eifersüchtig, da nicht sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Das Ehepaar inszeniert sich vor Miller, kann aber sein Interesse nicht wecken. Er wartet bloß, dass endlich das Essen aufgetragen wird und er eine warme Mahlzeit bekommt. Zwischendurch entfernt er sich kurz und zeigt seine Wohnung einer jungen Amerikanerin, die für ihn die typische Ausländerin in Paris repräsentiert: künstlerisch interessiert und wohlhabend, aber frei von jedem Talent.

Hunger auf Literatur und Sex

Am Sonntag hat der abgebrannte Dichter das Problem, sich als Einziger kein Mittagessen leisten zu können. Ganz Paris sitzt zu Tisch. Bei seinem Freund Boris kann er nicht bleiben, weil der ihm nichts voressen möchte, bei anderen Freunden lehnt er eine Einladung zum Essen aus Scham ab. Einen Spaziergang vorbei an den Hotels, Gaststätten und Gemüsehändlern beanstandet sein Magen mit einem grimmigen Knurren. Er verschafft sich Ablenkung mit zweierlei Gedanken. Zum einen: an die Literatur. In einem Schaufenster entdeckt er ein Buch mit dem Titel Ein in Scheiben geschnittener Mensch und wünscht, dieser Titel wäre ihm selbst eingefallen. Zum anderen kreisen seine Gedanken um Frauen und Sex. Er erinnert sich an die Hure Germaine, die er an einem ähnlichen Sonntagnachmittag wie diesem zum ersten Mal getroffen hat und die er nun mit einer anderen seiner Lieblingshuren vergleicht. Germaine war stets mit vollem Einsatz und scheinbar auch mit Lust bei der Sache, während die andere, Claude, mit ihrem Schicksal haderte und traurig war. Die vitalere und professionellere Germaine ist ihm selbstverständlich lieber.

Europa vs. Amerika

In vollen Zügen will Miller das Leben genießen. Er konzentriert sich auf das Hier und Jetzt, und damit ist er zufriedener als sein Freund Carl, den die europäische Melancholie inzwischen hat lethargisch werden lassen. Als Carl aushilfsweise der Redakteursposten bei einer Zeitung angeboten wird, nimmt er die Stelle erst nach einigem Wehklagen an. Und im weiteren feuchtfröhlichen Verlauf des Abends kann Carl sich vor allem für die Idee begeistern, das Blatt vorsätzlich zu ruinieren.

„Die Welt ist ein Krebs, der sich selbst auffrisst ...“ (S. 16)

Miller wird auf eine letzte Mahlzeit in das Haus des erfolgreichen Dramatikers Sylvester eingeladen, ist aber dort aufgrund seiner Affäre mit der Hausherrin nicht mehr wirklich willkommen. Er nimmt die Einladung an, verflucht jedoch innerlich das seichte Tischgespräch, das er mit Sylvester führen muss. Er ist verliebt in Tania und wird wütend bei der Vorstellung, dass sie mit diesem farblosen Literaten das Bett teilt. Miller ist überzeugt davon, dass Tania erst durch die Begegnung mit ihm zu einer reifen und begehrenswerten Frau geworden ist. In den folgenden Wochen bemüht sich Miller, über den Verlust Tanias hinwegzukommen. Wieder hilft ihm die Literatur, diesmal der Autor Papini, dessen kraftvolle Alleingängerprosa ihn anspricht. Des Weiteren begeistert er sich für die vielfältige Schönheit von Paris und erkennt die Vorzüge Europas. Er fühlt sich heimisch und verflucht seine Geburtsstadt New York, die ihm im Vergleich leblos vorkommt mit ihren einheitlich weißen Hochhausschluchten. Lieber abgebrannt in Europa als reich und satt in Amerika, sagt er sich.

Ein Tier ohne moralische Verpflichtungen

Angetrieben von Hunger und Armut wechselt Miller von einer Unterkunft zur nächsten; für eine warme Mahlzeit ist er zu Gast in diesem und jenem Haushalt. Ein russischer Kammerjäger nimmt sich seiner an, lässt ihn bei sich übernachten und bewirtet ihn aus reiner Menschenliebe. Miller flüchtet jedoch, da er wegen des in der Wohnung gelagerten Insektengifts Alpträume von Würmern, Läusen und Wanzen bekommt. Bei Mr. Nanantatee, dem Kopf einer kleinen und ärmlichen hinduistischen Gesellschaft, verdingt sich Miller als Hausdiener. Er ist hochsensibel geworden vom Hunger und der Ausweglosigkeit seiner Situation, und so beobachtet er scharf die Charaktereigenschaften und Lebensweisen seiner Mitbewohner, ohne sich jedoch mit ihnen anfreunden zu können. Eines Nachts landet er gemeinsam mit einem der Inder in einem Bordell, und auch dort richten sich seine Sinne überscharf auf die Verkommenheit der Umgebung. Er beschließt, sich anzupassen und auch selbst alle moralischen Grenzen hinter sich zu lassen. Zukünftig will er sich rücksichtslos verhalten wie eine hungrige Hyäne.

Endlich ein Job

In der Redaktion der Tageszeitung arbeitet inzwischen nicht nur Carl, sondern auch ein weiterer Freund Millers, Van Norden. Ihre finanziellen Probleme haben die beiden damit allerdings nicht überwunden. Man ist sich einig: Das Beste wäre es, sich von einer reichen Frau aushalten zu lassen. Carl gelingt es tatsächlich, ein entsprechendes Rendezvous zu vereinbaren: mit einer Dame fortgeschrittenen Alters in einem der besseren Pariser Hotels. Er verrät jedoch nicht, was sich bei dem Stelldichein wirklich ereignet hat: Miller berichtet er, er habe sich nicht überwinden können, mit der nicht mehr jugendlichen Frau zur Sache zu kommen; Van Norden schildert er hingegen das frivole Gegenteil.

„Dein Sylvester! Ja, er versteht ein Feuer zu machen, aber ich weiß, wie man eine Möse entflammt. Ich schieße heiße Bolzen in dich, Tania.“ (S. 20)

Auf nächtlichen Streifzügen lauscht Miller den Monologen seines Kompagnons Van Norden: Dieser ist vom Sex so besessen, wie er von tiefem Hass auf die Frauen erfüllt ist. Als die beiden am Ende eines Abends eine junge, traurige Hure mit zu sich aufs Zimmer nehmen und Miller seinen Freund beim Akt beobachtet, erinnert ihn dessen Leidenschaftslosigkeit an die Sinnlosigkeit des Krieges. Auch als er endlich Arbeit findet, als Korrektor für dieselbe Zeitung, bei der auch die beiden anderen schon tätig sind, fühlt er sich wieder in seinem Weltbild bestätigt: Krieg und Katastrophen stehen in der Zeitung gleichrangig neben Trivialitäten und Klatsch. Das Bild einer absurden, dem Untergang geweihten Welt entsteht - in der sich Miller längst behaglich eingerichtet hat.

„Ich habe meine melancholische Jugend hinter mir. Ich gebe keinen Pfifferling mehr für das, was hinter mir liegt oder vor mir. Ich bin gesund. Unheilbar gesund. Kein Bedauern, keine Reue. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Die Gegenwart genügt mir. Tag für Tag. Heute!“ (S. 75)

Er ist hochzufrieden mit dem neuen Job, zumal im Stammbistro der Journalisten auch die Huren und Zuhälter des Viertels verkehren und er weiterhin das pralle Leben des Pariser Milieus beobachten kann. Einziger Wermutstropfen ist der Gedanke an seine Ehefrau Mona, die mit dem wilden, schmutzigen Leben in Europa wohl nichts anfangen könnte. Als Gegengewicht zu seinem grimmigen Einklang mit der grauen Wirklichkeit dient ihm nach Feierabend wieder einmal die farbenfrohe Kunst, diesmal eine Ausstellung von Matisse.

Highlife in Le Havre

Miller verlebt einige glückliche und rauschhafte Wochen im hochsommerlichen Paris. Tania, die mit ihrem Sylvester nach Russland gezogen ist, weilt zu Besuch in der Stadt. Er verbringt die Tage mit ihr in den schicken Bars auf den Champs-Elysées, die Abende und Nächte arbeitet er als Korrektor in der schmierigen Redaktion. Dann wird ihm gekündigt, und die Armut hat ihn wieder. Er schlägt sich als Gelegenheitstexter im Bordellbetrieb durch, als Nacktmodell für einen Fotografen, lässt sich von verschiedenen Malern durchfüttern und schließlich von einem jungen Diplomaten namens Fillmore aushalten. Mit Letzterem bricht er bald nach Le Havre auf, um dort den amerikanischen Seemann Collins, einen Bekannten Fillmores, zu besuchen. Die Bilanz der mehrtägigen Sauftour enthält diverse blaue Augen, zwei Tripperinfektionen, ein verwüstetes Bordell und schließlich, nach derart harmonischem Zusammensein mit seinen Landsleuten, ein kleines bisschen Heimweh nach Amerika.

Die kränkelnde Gräfin

Obwohl Miller mit ein paar geliehenen Francs und einer Menge guter Vorsätze aus Le Havre zurückkehrt, hat er bereits in der ersten Nacht in Paris große Mühe, sein Geld zusammenzuhalten. Nacheinander bitten ihn zwei angeblich vom Schicksal gebeutelte Frauen um einen Notgroschen, den er ihnen nicht verweigern kann, obwohl er sich in beiden Fällen nicht sicher ist, ob es sich tatsächlich um arme Seelen oder nicht doch um gewiefte Huren handelt. Den Spätsommer verbringt er mit Fillmore, dem er Einblick in sein wachsendes Romanmanuskript gewährt. Im Gegenzug lässt der ihn bei sich wohnen und verköstigt ihn. Die Tage sind grau und regnerisch, aber der düstere Charme der Stadt gefällt dem Schriftsteller. Fillmore bändelt mit einer echten russischen Gräfin an, die auf eine Ménage à trois zu den beiden in die Wohnung zieht. Das Problem: Die Gräfin ist tripperkrank und verbringt die Tage leidend und lamentierend im Bett, ohne die beiden an sich heranzulassen.

Tristesse de Dijon

Miller singt im Namen der Aufrichtigkeit eine Hymne auf die Unverstelltheit und Lebenskraft des Obszönen, auf den "Riss in der Welt", wie er es bildhaft formuliert: auf das weit aufklaffende weibliche Geschlecht. Das animalische Gefühlsleben des Künstlers steht für ihn im Gegensatz zum leblosen Dahindümpeln des Normalbürgers. Miller wird nach Dijon gerufen, um dort als Sprachlehrer zu arbeiten. Das Interesse seiner Schüler an der englischen Sprache weckt er, indem er in seinem Konversationsunterricht offenherzige Aufklärung betreibt. Von den anderen Lehrern, die sich allesamt den klassisch-humanistischen Werten verschrieben haben, fühlt er sich gelangweilt. Er macht sich in der Stadt auf die Suche nach einem Bordell oder sonst einem Abenteuer, muss aber feststellen, dass Dijon außer der Senfproduktion und viel Spießigkeit nichts zu bieten hat. Während seiner Wochen als Lehrer in dem Gymnasium fühlt er sich eingesperrt wie in einem Gefängnis.

Zurück nach Amerika?

Nach Paris zurückgekehrt nimmt Miller erneut eine Anstellung bei der Zeitung an. Sein Freund Carl ist soeben knapp um eine Anzeige wegen Verführung Minderjähriger herumgekommen. Sein ehemaliger Gönner Fillmore liegt nach einer Affäre mit einer rustikalen Französin mit Verdacht auf Syphilis und Größenwahn im Krankenhaus und wird kurze Zeit später gar in die Psychiatrie überwiesen. Wie sich herausstellt, ist die Französin, Ginette, in erster Linie auf Fillmores Geld aus. Sie lässt sich von ihm schwängern und neigt zu Handgreiflichkeiten und derart cholerischen Anfällen, dass schließlich alle Frankreichbegeisterung und Lebensenergie von Fillmore abfällt. Miller hilft seinem schwächelnden Freund bei der Flucht, bringt ihn zum Bahnhof und kauft ihm eine Schiffspassage nach Amerika. Mit Fillmores Francs sitzt er schließlich allein und so reich wie niemals zuvor in einem Café an der Seine und fragt sich, ob er selbst, wo er es sich nun leisten könnte, nach Amerika zurückkehren sollte. Er weiß es nicht, aber er fühlt sich so leicht und frei und friedlich wie seit langem nicht.

Zum Text

Aufbau und Stil

Gleich im ersten Kapitel verkündet Henry Miller, dass er sich an keine literarische Form zu halten gedenke. Er möchte ausschließlich in dem Rhythmus schreiben, den ihm sein eigenes Leben vorgibt. Und das macht er auch wahr, bis in Details hinein: Während Literaturwissenschaftler wie Autoren üblicherweise peinlich darum bemüht sind, das Erzähler-Ich von der Person des Schreibenden zu trennen, pfeift Miller darauf und nennt sein Erzähler-Ich ausdrücklich Henry Miller. Sein autobiographischer Text ist eine chronologische Reihung von Tagebucheinträgen, in der sich anekdotische Passagen, allgemeine philosophische Überlegungen und offenherzige Schilderungen sexueller Handlungen und Phantasien sprunghaft ablösen. Charakteristisch sind die zahlreichen minutiösen Beschreibungen des Pariser Straßenalltags, die dem Leser wegen ihrer eindrücklichen atmosphärischen Dichte im Gedächtnis bleiben. Millers Stil ist kraftvoll, plastisch, eindringlich, schwungvoll, lebendig, faszinierend. Auch heute wirkt seine Sprache vielleicht noch anstößig, sicherlich aber nicht mehr so schockierend wie 1934, als das Buch erschien. Sie ist vor allem eines: direkt und glaubwürdig. Millers Sprache ist weniger der Versuch, einen bestimmten literarischen Ton zu treffen, als das eigene Menschsein möglichst unverblümt auszudrücken. Seine Schriftstellerkollegin und Geliebte Anaïs Nin riet Miller, er solle schreiben, wie er spreche - und diesen Rat scheint er befolgt zu haben. Wendekreis des Krebses ist ein Text von der Straße, den einfachen Leuten vom Mund abgeschaut, bei aller Poesie stets dicht an der täglichen Umgangssprache der Menschen in den Bars und Bordellen des Paris der 1930er Jahre.

Interpretationsansätze

  • Miller entstammte der Arbeiterklasse. Sein Leben am unteren Rand der Pariser Gesellschaft war keine Attitüde, sondern seinen tatsächlichen finanziellen Verhältnissen geschuldet. Wendekreis des Krebses ist darum auch ein Roman über die existenzbedrohenden Umstände, unter denen dem "einfachen Mann" der kreative Schaffensprozess überhaupt nur möglich ist.
  • Der Text lässt sich auch als Rebellion gegen das puritanische Kleinbürgertum mit seiner verklemmten Sexualmoral lesen, die Miller selbst in seiner Kindheit in New York erfahren hat.
  • Miller setzt keinen großen Bildungshintergrund voraus. Wendekreis des Krebses ist für jedermann zugänglich, unabhängig von literarischer oder kulturhistorischer Vorbildung. Miller wollte, dass die Kunst frei ist von jeglichen elitären Zwängen, weshalb er oftmals als "demokratischer Autor" bezeichnet wird.
  • Auch die verkommensten Winkel versucht der Autor noch detailliert zu beschreiben - um sie anschließend aufrichtiger genießen zu können. Beispielhaft für diesen eigenwilligen Realismus steht die Haltung des Erzählers zur Stadt Paris, sein angewidert-fasziniertes Flanieren durch die Großstadt. Für Miller hat sich die Welt längst dem Untergang verschrieben, darum ist es das Beste, für ein paar letzte Tage noch seinen Spaß zu haben. Millers Credo in Leben und Werk war stets ein gut gelauntes: "Scheiß drauf!"
  • Die in New York lebende Ehefrau des Erzählers, Mona, die wohl gleichzusetzen ist mit Henry Millers Ehefrau June, taucht im Roman nur sporadisch auf. Sie bietet jedoch den emotionalen Hintergrund, vor dem sich seine Pariser Eskapaden abspielen. Die Sehnsucht nach Mona/June überträgt sich schließlich auf sein gesamtes Frauenbild: Millers vulgäre Sprache ist die Stimme eines verlassenen Mannes, der die Frauen verflucht, um nicht zugeben zu müssen, wie sehr er sie in seiner Einsamkeit braucht.

Historischer Hintergrund

Große Depression und lockere Sitten

Nach dem allgemeinen Wohlstand und den rauschenden Ballnächten in den Goldenen Zwanzigern stand die Welt am Anfang des nächsten Jahrzehnts vor einer vollkommen veränderten Situation: Mit dem Zusammenbruch der New Yorker Börse und dem Straucheln der amerikanischen Volkswirtschaft im Oktober 1929 war die erste Weltwirtschaftskrise nicht mehr abzuwenden. Fast ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung verlor den Arbeitsplatz. Selbst in den Großstädten wie New York waren viele gezwungen, sich mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser zu halten. Das kulturelle Klima dieser so genannten "Großen Depression" war geprägt von starkem politischem und sozialkritischem Bewusstsein. Künstler wie der Schriftsteller John Steinbeck, die Fotografin Dorothea Lange und der Sänger Woody Guthrie versuchten, mit ihren Texten und Bildern die desolate Lage der Nation zu dokumentieren. Vom glamourösen Künstlerleben des vergangenen Jahrzehnts war kaum noch etwas zu spüren. Auf der anderen Seite des Atlantiks war zumindest Anfang der 30er Jahre die Stimmung weniger trübsinnig. Zwar war der Französische Franc für die Amerikaner wegen des fallenden Dollarkurses nicht mehr ganz so billig zu haben, der große Paris-Boom war vorüber. F. Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway hatten der Seine-Metropole bereits wieder den Rücken gekehrt. Trotzdem galt Paris den Amerikanern weiterhin als das kulturelle Zentrum der Welt. Die Franzosen waren gastfreundlich und immer noch dankbar für die Unterstützung im Ersten Weltkrieg, es gab mehr Bars und Kabaretts als irgendwo sonst, die Getränke waren billig und die Sitten wesentlich lockerer als im prüden Amerika.

Entstehung

Das Geld für die Überfahrt nach Paris erhielt Henry Miller von seiner Ehefrau June Edith Mansfield; das einzige Bargeld in seinen Taschen waren zehn Dollar, die ihm ein Freund zugesteckt hatte. Trotzdem war Henry Miller euphorisch, als er 1930 in Paris ankam. Ihm gefiel das bunte Treiben in der Stadt, vor allem das freie Leben im Künstlerviertel Montparnasse. June hatte nachkommen wollen und versprochen, ihm für die Zwischenzeit telegraphisch Geld anzuweisen. Dieses ließ jedoch immer länger auf sich warten, und die Dinge wandelten sich bald zum Schlechten. Nach Jahren des schriftstellerischen Misserfolgs in New York fand Miller nun auch in Paris keinen Verleger für sein Manuskript Verrückte Lust. Er geriet an den Rand der Obdachlosigkeit. Zwei Faktoren ließen ihn mit dem Mut der Verzweiflung ein neues Manuskript beginnen: eine Anstellung bei der Pariser Ausgabe des Chicago Tribune, die ihm die finanziellen Sorgen nahm, und die Begegnung mit seiner späteren Geliebten, Muse und Schriftstellerkollegin Anaïs Nin. Sie war es, die, wie Miller es formulierte, "den Saft zum Fließen brachte". Nin finanzierte Miller mit dem Geld ihres Ehemanns, lobte seine Texte und motivierte ihn zum Weiterschreiben. Er begann Buch zu führen über seine Tage und Nächte in den Cafés und Bars, über seine Gespräche mit den amerikanischen Exilanten in der Stadt. Ein umfangreiches Konvolut aus Anekdoten, Beobachtungen und Reflexionen entstand - der spätere Wendekreis des Krebses.

Wirkungsgeschichte

In Frankreich wurde Wendekreis des Krebses 1934 im Verlag Obelisk Press veröffentlicht, dessen Verleger aufgrund einer Gesetzeslücke pornographische Texte in Paris publizieren durfte, solange sie in englischer Sprache verfasst waren. Bis zur Veröffentlichung des Romans in den USA musste Miller noch 27 Jahre warten. Erst 1961 wagte der Kleinverlag Grove Press eine Herausgabe des Buches und führte einen dreijährigen Musterprozess, der letztlich zugunsten des Romans entschieden wurde. Damit ist Wendekreis des Krebses eines der umstrittensten Bücher des 20. Jahrhunderts und kann sich zugute halten, die US-amerikanischen Zensurgesetze gelockert zu haben. Der Einfluss des Romans auf andere Autoren ist groß. George Orwell bezeichnete Miller als "einzigen englischsprachigen Schriftsteller von Wert". In Paris schrieben Raymond Queneau und Blaise Cendrars trotz drohender Rufschädigung lobende Rezensionen. Im Amerika der 50er und 60er Jahre hatte Millers unverblümte Sprache große Wirkung auf die Autoren der "Beat Generation", Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs, denen auch der Lebensstil des Freidenkers Miller als Vorbild diente. Die Liste der von Miller beeinflussten Autoren ist lang: Charles Bukowski, John Updike, Philipp Roth, Philippe Djian und sogar Bob Dylan haben sich in ihren Texten - zum Teil ausdrücklich - auf Miller berufen.

Ab Ende der 60er Jahre wurde Miller von feministischer Seite angegriffen. Seine Frauenfiguren seien keine Charaktere, sondern auf ihr Geschlecht reduzierte Projektionsflächen des Autors. Miller selbst setzte sich in späteren Interviews und Briefen vor allem mit Kate Millet (Sexus und Herrschaft) und Erica Jong (Der Teufel in Person - Henry Miller und ich) auseinander. Jong, deren Roman Angst vorm Fliegen (1973) vier Jahrzehnte nach Millers Werk erschien und oft als weibliches Pendant zu Wendekreis des Krebses betrachtet wird, sagte über Miller: "Wenn wir Henry zensieren, zensieren wir im Grunde unsere Menschlichkeit." Miller findet heute noch seine treusten Leser unter Jugendlichen, die auf der Suche nach sexueller und sozialer Freiheit sind.

Über den Autor

Henry Miller wird am 26. Dezember 1891 als Sohn eines deutschen Auswanderers, der in New York als Herrenschneider arbeitet, geboren. Aufgrund fehlender finanzieller Mittel ist sein Bildungsweg eher kurz: Direkt nach der High School beginnt er als Buchhalter bei einem Zementhersteller. Dessen ungeachtet träumt er früh von der Schriftstellerei; er möchte dazugehören zu den intellektuellen Künstlerkreisen seiner Zeit. Miller bereist die USA, heiratet die Pianistin Beatrice Sylvas Wickens und schreibt 1922 - inzwischen Personalchef bei Western Union - seinen ersten Roman Gestutzte Flügel, der unveröffentlicht blieb. 1923 lernt er June Edith Mansfield kennen, auf deren Drängen er seine Stelle bei der Western Union und seine Ehe mit Beatrice aufgibt. June und Henry heiraten, sie sieht sich als seine Muse und finanziert ihm das Künstlerleben, indem sie seine Prosaminiaturen an ihre Verehrer verkauft. Miller kommt endlich in den Genuss des ersehnten Bohemelebens und schreibt den Roman Moloch, findet jedoch abermals keinen Verleger. Die Ehe kriselt, und June schickt ihn allein nach Paris, wo er von Heimweh geplagt und in großer Armut lebt, bis er 1931, inzwischen 40-jährig, Anaïs Nin kennen lernt. Er beginnt mit der Niederschrift des autobiographischen Romans Wendekreis des Krebses. Die Ehe mit June zerbricht. In den folgenden Jahren veröffentlicht Miller zahlreiche Romane, darunter Wendekreis des Steinbocks (1939), eine Art New Yorker Gegenstück zum Wendekreis des Krebses, Sexus (1949) und Stille Tage in Clichy (1956). Zurück in den USA lebt er an der Pazifikküste weiterhin in ärmlichen Verhältnissen. Erst mit der Veröffentlichung von Wendekreis des Krebses in den USA wird Miller schlagartig reich. Ab 1962 lebt er in Pacific Palisades bei Los Angeles, wo er am 7. Juni 1980 im Alter von 88 Jahren stirbt.

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