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Die Möwe

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Die Möwe

Komödie in vier Akten

Diogenes Verlag,

15 min read
12 take-aways
Text available

What's inside?

Die Figuren in diesem Drama langweilen sich. Ganz im Gegensatz zum Publikum: Das Stück gilt zu Recht als Meilenstein des modernen Theaters.

Literatur­klassiker

  • Drama
  • Realismus

Worum es geht

Melancholie und Langeweile in der Provinz

Die Möwe ist ein typisch Tschechow’sches Stück: arm an Handlung und dramatischen Wendungen, aber umso reicher an vielschichtigen Dialogen und psychologisch faszinierenden Figurenzeichnungen. Es spielt auf einem Landgut in der russischen Provinz. Eine Gruppe von Ausflüglern lässt sich aus lauter Langeweile zu Eifersüchteleien und subtilen Bosheiten hinreißen. Die meisten von ihnen sind Künstler oder streben danach, es zu werden. Glücklich und zufrieden ist jedoch keiner. Das freie, von Konventionen unabhängige Leben existiert lediglich als Symbol, und dieses Symbol – eine Möwe – wird von einer der Hauptfiguren grundlos abgeschossen. Die Kunst erweist sich zur Gestaltung einer glücklichen Existenz als ebenso untauglich wie die Liebe – eine Erkenntnis, die den Helden des Stücks in den Selbstmord treibt. Dank ihrer atmosphärischen Dichte ist Die Möwe zu einem Klassiker der Theaterliteratur geworden, der zahlreiche Autoren beeinflusst und bis heute nichts von seiner beklemmenden Wirkung verloren hat.

Take-aways

  • Tschechows Die Möwe ist eines der bedeutendsten dramatischen Werke der Weltliteratur.
  • Das Stück besticht weniger durch Intrigen und dramatische Wendungen als durch die ausgefeilte psychologische Gestaltung der Hauptfiguren.
  • Auf einem Landgut will der ehrgeizige Möchtegernschriftsteller Treplev die dort Versammelten mit einem selbst verfassten Theaterstück von seinem Talent überzeugen.
  • Doch schon nach kurzer Zeit lässt er die Aufführung abbrechen, weil seine Mutter Arkadina das Stück immer wieder spöttisch ins Lächerliche zieht.
  • Arkadina ist eine berühmte, alternde Schauspielerin, deren größte Sorge darin besteht, dass sie von einer jüngeren Konkurrentin verdrängt werden könnte.
  • Der mit Arkadina liierte Schriftsteller Trigorin verliebt sich – ebenso wie Treplev – in die junge Nina, die davon träumt, in Moskau als Schauspielerin unsterblich zu werden.
  • In der Hauptstadt wird sie jedoch von Trigorin mitsamt ihrem Kind sitzen gelassen, worauf sie ein trostloses Dasein als drittklassige Künstlerin fristet.
  • Der ambitionierte Treplev etabliert sich zwar als Schriftsteller, muss jedoch erkennen, dass seine Kunst trotz aller Bemühungen blutleer und stümperhaft bleibt.
  • Ein Wiedersehen mit Nina lässt ihn einen Moment lang hoffen, seiner langweilig-provinziellen Existenz durch das Ausleben einer großen Liebe zu entkommen.
  • Als Nina trotz ihrer Zuneigung zu ihm abreist, nimmt er sich das Leben.
  • Tschechow benutzt eine tote Möwe als Symbol für das freie, glückliche Leben, das die Protagonisten des Stücks ihren Ambitionen opfern.
  • Der Autor studierte Medizin, praktizierte als Arzt und hinterließ daneben ein umfangreiches literarisches Werk.

Zusammenfassung

Eine beleidigte Künstlerseele

Auf einem Landgut an einem See in der russischen Provinz warten ein Lehrer namens Medvedenko und die junge Leutnantstochter Maša auf den Beginn einer Theateraufführung. Medvedenko beklagt sich über seinen erbärmlichen Lohn und über die Kaltherzigkeit, mit der Maša seine Annäherungsversuche zurückweist. Der Autor des mit Spannung erwarteten Stücks ist Treplev, dessen Mutter Arkadina als Schauspielerin zu Ruhm und Reichtum gelangt ist und die literarischen Versuche ihres Sprösslings verachtet. Außerdem ist sie eifersüchtig auf die Hauptdarstellerin Nina, die an diesem Abend im Mittelpunkt des Interesses stehen wird. Das blutleere, geschwätzige Stück spielt 200 000 Jahre in der Zukunft, zu einer Zeit, in der sämtliche Lebewesen ausgestorben sind. Nina beginnt zu deklamieren, worauf Arkadina immer wieder spöttische Bemerkungen fallen lässt und damit ihren Sohn zur Verzweiflung treibt. Als unter Schwefelgestank der Teufel auftritt, nimmt der im Publikum sitzende Arzt Dorn seinen Hut ab. Polina Andreevna, die Frau des Gutsverwalters, will, dass er die Kopfbedeckung wieder aufsetzt, da er sich sonst erkälten könnte. Arkadina witzelt, der Doktor habe lediglich dem Teufel seine Ehrerbietung erweisen wollen, sei dieser doch der Vater der ewigen Materie. Jetzt reicht es ihrem Sohn: Er bricht die Aufführung ab und beklagt sich darüber, nicht ernst genommen zu werden. Das Stückeschreiben sei wohl nur wenigen Auserwählten vorbehalten, zu denen er leider nicht gehöre. Außer sich vor Wut eilt er davon.

„Wir brauchen neue Formen. Neue Formen brauchen wir, und wenn es die nicht gibt, dann brauchen wir besser gar nichts.“ (Treplev, S. 13)

Arkadinas Bruder Sorin weist seine spöttelnde Schwester zurecht. Treplev habe ihr ein Vergnügen bereiten wollen; so könne sie mit seiner jugendlichen Eitelkeit nicht umspringen. Zunächst verteidigt sich Arkadina, indem sie das Stück als Scherz bezeichnet, weshalb ein wenig Spott und Gelächter durchaus angemessen seien. Dann jedoch vergleicht sie es mit einer dekadenten Fieberfantasie ohne jeden künstlerischen Wert. Plötzlich überwältigt sie das schlechte Gewissen. Aufgeregt bittet sie jemanden, den beleidigten Möchtegernkünstler zu suchen und zurückzubringen. Derweil überschüttet sie die von einer Theaterkarriere träumende Amateurschauspielerin Nina mit Komplimenten. Der ebenfalls im Publikum sitzende Schriftsteller Trigorin – Arkadinas Liebhaber – sagt, dass er während der kurzen Aufführung nicht das Geringste verstanden habe, lobt jedoch die schöne Dekoration – und Nina. Schließlich ziehen sich alle außer Dorn zurück. Ihm hat die vorzeitig abgebrochene Szene außerordentlich gefallen. Als Treplev wiederkommt, macht der Arzt ihm ein Kompliment und fordert ihn auf, seine literarischen Ambitionen unbedingt weiterzuverfolgen. Voller Rührung fällt ihm der Gelobte um den Hals. Als er erfährt, dass die bewunderte Nina bereits nach Hause zurückgekehrt ist, bricht er in Tränen aus und eilt ihr hinterher. Maša bittet Dorn um Hilfe, weil sie sich in stiller Liebe zu Treplev verzehrt. Wie nervös doch alle seien, bemerkt darauf der Arzt und wirft einen zärtlichen Blick über den See.

Schauspielerinnen unter sich

Am folgenden Nachmittag fragt die über 40-jährige Schauspielerin Arkadina den Arzt, wer jünger aussehe: sie oder Maša, die gerade mal 22 ist. Arkadina wirke jünger, gibt Dorn prompt zur Antwort. Sie arbeite eben ständig und sei ununterbrochen in Bewegung, behauptet Arkadina, und niemals denke sie an die Vergänglichkeit oder den Tod. Maša hingegen gibt zu, dass sie oft gar keine Lust habe weiterzuleben und dass sie ihre Existenz hinter sich herziehe wie eine Schleppe. Arkadinas Bruder Sorin erscheint in Begleitung von Medvedenko und Nina. Dorn behauptet, der Konsum von Alkohol und Tabak zerstöre die Persönlichkeit, wohingegen sich Sorin für ungehemmten Genuss ausspricht. Schließlich habe er 28 Jahre im Justizwesen gedient und im Grunde nicht gelebt, nichts ausgekostet. Er wolle dies jetzt nachholen, weshalb er nach dem Essen trinke und Zigarren rauche. Arkadina beklagt sich derweil über die Langeweile, die auf dem Land herrsche. Sie schwärmt davon, in der Stadt in einem Hotelzimmer zu sitzen und eine neue Rolle zu lernen. Nina ist begeistert. Arkadina beschließt, sofort nach Moskau zu reisen, muss jedoch zu ihrer Verärgerung hören, dass keine Pferde zur Verfügung stehen. Dann gehe sie eben zu Fuß zur Bahnstation, droht sie und verschwindet im Haus. Ihr Liebhaber Trigorin folgt ihr brav, mit Angeln und einem Eimer in den Händen. Nina ruft aus, es sei unerhört, dass man einer derart berühmten Schauspielerin einen Wunsch verweigere. Sie eilt zum Haus, um Arkadina von der vorzeitigen Abreise abzubringen.

Langeweile führt ins Verderben

Nach ihrer Rückkehr erzählt Nina, Arkadina weine, während ihr Bruder Sorin einen Asthmaanfall erlitten habe. Dorn entfernt sich, um den beiden Baldriantropfen zu bringen. Nina bleibt zurück und wundert sich, dass eine Berühmtheit aus derart nichtigem Anlass in Tränen ausbricht und dass ein bedeutender Autor wie Trigorin den ganzen Tag nichts anderes tut als Weißfischchen zu fangen. Plötzlich erscheint Treplev. Er hat eine Möwe geschossen und legt sie der jungen Frau zu Füßen. Offensichtlich sei dies ein Symbol, bemerkt diese, aber sie sei außerstande, es zu deuten. Treplev erwidert, er werde auch sich selbst bald erschießen, weil Nina ihn in letzter Zeit so kalt und abweisend behandle. Sie verachte ihn, weil sein Stück durchgefallen sei und betrachte ihn als gewöhnliches Nichts. Für Trigorin – der gerade in diesem Moment mit einem Buch in der Hand auftritt – hege sie hingegen Bewunderung.

„Mein Vater und seine Frau lassen mich nicht hierher. Sie sagen, hier lebe die Bohème ... und fürchten, ich könnte Schauspielerin werden ... Doch mich zieht es hierher an diesen See wie eine Möwe ...“ (Nina, S. 15)

Während Treplev davoneilt, begrüßt Nina den Schriftsteller und gesteht ihm, dass sie gern an seiner Stelle wäre. Sie möchte wissen, wie er seinen eigenen Ruhm empfindet. Darüber habe er noch gar nicht nachgedacht, entgegnet Trigorin, und überhaupt sei sein Leben alles andere als leuchtend und interessant. Er beklagt sich, dass er ständig ans Schreiben denken müsse und nichts wirklich genießen könne, weil er alles lediglich als Material für sein Werk wahrnehme. Ruhe habe er nie, nur das Gefühl, sein eigenes Leben der Literatur zu opfern. Außerdem stört ihn, dass er zwar als talentiert gilt, im Vergleich zu einem Tolstoi oder einem Turgenjew aber so gut wie bedeutungslos ist, zumindest in den Augen des Publikums. Nina fordert ihn auf, derart selbstzerstörerische Gedanken zu vermeiden. Sie selber würde Not und Enttäuschung auf sich nehmen, in einer Dachkammer leben und sich einzig von Brot ernähren, um als Schriftstellerin oder Schauspielerin echten Ruhm zu erlangen. Plötzlich zückt Trigorin sein Notizbuch, weil er sich ein Motiv für eine Erzählung notieren will: Am Ufer eines Sees lebt ein glückliches Mädchen, frei wie eine Möwe. Da erscheint ein Mann, um sie aus purer Langeweile ins Verderben zu stürzen ... – Die Rufe Arkadinas unterbrechen Trigorin. Sie hat es sich nun doch anders überlegt und will noch eine Weile auf dem Landgut bleiben.

Ein trügerischer Kuss

Einige Tage später spricht Trigorin im Esszimmer mit Maša. Um ihre unglückliche Liebe zu Treplev zu überwinden, will die junge Frau den langweiligen Lehrer Medvedenko heiraten. Dieser sei zwar nicht gerade klug und ein armer Schlucker, doch er liebe sie aufrichtig. Sie empfindet ihm und seiner Mutter gegenüber Mitleid. Trigorin und Arkadina sind unterdessen am Packen, denn Treplev hat sich in seiner rasenden Eifersucht zuerst zu einem Selbstmordversuch hinreißen lassen und danach Trigorin zum Duell gefordert. Nina erscheint, um dem Abreisenden zum Andenken ein kleines Medaillon zu überreichen. Darauf ist eine Seitenzahl eingraviert, die sich auf eine Stelle in seinem Roman Tage und Nächte bezieht. Der Schriftsteller verlässt den Raum, um das Werk zu suchen.

„Ihr Stück ist etwas schwer zu spielen. Es hat keine lebendigen Personen.“ (Nina zu Treplev, S. 16)

In der Zwischenzeit unterhält sich Arkadina mit Sorin über ihren vom Wahnsinn bedrohten Sohn. Sorin fordert seine Schwester auf, dem unglücklichen Jungen etwas Geld zu geben, damit er sich einen neuen Anzug leisten oder eine Reise ins Ausland unternehmen könne. Auf diese Weise werde er auf andere Gedanken kommen und aufhören, ständig mit seinem Schicksal als verkanntes Genie zu hadern. Die Schauspielerin behauptet, dazu reiche ihr Vermögen nicht. Treplev erscheint mit einem Kopfverband und bittet seine Mutter, ihm diesen zu wechseln. Er bezeichnet seinen Selbstmordversuch als einmalige Wahnsinnstat, die sich nie und nimmer wiederholen werde. Zunächst überschüttet er Arkadina mit Zärtlichkeiten, doch dann nennt er ihren Geliebten Trigorin einen Feigling – schließlich habe er sich vor dem Duell gedrückt. Im Handumdrehen entsteht ein heftiger Streit: Er solle endlich aufhören, aus reiner Eifersucht und mangelndem Talent den Schriftsteller schlechtzumachen, fordert die Mutter. Gleichzeitig sieht sie ein, dass ihm seine mit maßlosem Ehrgeiz gepaarte Stümperhaftigkeit wohl keine andere Chance lässt. Treplev reißt sich den Verband vom Kopf und schreit, er sei der einzig wahrhaft Talentierte, werde aber nicht anerkannt, weil er sich auf künstlerisches Neuland wage. Leute wie seine Mutter, glaubt er, würden über die Qualität eines Werkes urteilen, ohne von moderner Kunst die geringste Ahnung zu haben. Arkadina erwidert, er sei ein nichtsnutziger Schmarotzer – worauf beide in Tränen ausbrechen und sich umarmen. In diesem Moment erscheint Trigorin. Er hat die Stelle in seinem Werk gefunden, die ihm Nina gewidmet hat: „Wenn du je mein Leben brauchst, so komm und nimm es.“

„Pardon! Ich hatte übersehen, dass Stücke schreiben und Theater spielen nur einige wenige Auserwählte dürfen. Ich habe das Monopol durchbrochen!“ (Treplev, S. 21)

Von Gefühlen überwältigt, bittet Trigorin Arkadina, ihn für seine neue Liebe zu Nina freizugeben. Die Schauspielerin bricht in Tränen aus, fällt auf die Knie, winselt und fleht. Die Eifersuchtsszene tut ihre Wirkung, Trigorin erklärt sich zur gemeinsamen Rückkehr nach Moskau bereit. Auch Nina will in die Hauptstadt, um ihre Familie und das öde Dasein in der Provinz zu vergessen und am Theater ein neues Leben zu beginnen. Heimlich raunt ihr der liebeskranke Trigorin den Namen eines Gasthofs zu, in dem sie absteigen und auf ihn warten soll. Zum Abschied küssen sich die beiden voller Hingabe.

Versöhnung der Literaten

Zwei Jahre später versammelt sich die Gruppe wiederum auf dem Landsitz. Maša langweilt sich in ihrer Ehe mit Medvedenko und vernachlässigt das daraus entstandene Kind. Sie ist noch immer unsterblich in Treplev verliebt, der in der Zwischenzeit tatsächlich Schriftsteller geworden ist. Er erzählt, dass Nina in Moskau ein Verhältnis mit Trigorin gehabt habe, nach der Geburt eines Kindes jedoch schmählich sitzen gelassen worden sei. Auch als Schauspielerin sei sie mehr oder weniger erfolglos geblieben. Arkadinas Bruder Sorin beklagt sich noch immer über sein verpasstes Leben, in dem er seinen eigenen Wünschen stets zuwiderhandle: Er habe heiraten wollen und dies unterlassen, und er sehe seinem Lebensende auf dem Land entgegen, obwohl es stets sein Ziel gewesen sei, in der Stadt zu wohnen. Dorn wirft ihm vor, es zeuge nicht gerade von Großmut und Gelassenheit, im vorgerückten Alter von 62 Jahren derart hemmungslos zu jammern.

„Im Scherz bin ich ja auch bereit, mir Fieberfantasien anzuhören, aber das hier waren doch Prätentionen auf neue Formen, auf eine neue Ära in der Kunst. Ich sehe hier keinerlei neue Formen, sondern einfach einen schlechten Charakter.“ (Arkadina, S. 21)

Als sich die beiden Schriftsteller Trigorin und Treplev wiedersehen, reichen sie sich versöhnlich die Hand. Trigorin erzählt, er werde in Moskau und St. Petersburg ständig nach seinem Kollegen gefragt, dessen Identität man nicht kenne, weil er unter einem Pseudonym schreibe. Aufgrund seiner Werke vermute man jedoch, er sei nicht mehr jung. Trigorin übergibt dem ehemaligen Gegner eine Zeitschrift, die er aus Moskau mitgebracht hat und die von beiden je eine Erzählung enthält. Beim Durchblättern stellt Treplev fest, dass der Ältere sein eigenes Werk gelesen hat; die von Treplev verfasste Novelle ist hingegen nicht einmal aufgeschnitten. Während der Rest der Gesellschaft Lotto spielt und zu Abend isst, sitzt der junge Autor am Schreibtisch, gequält von Selbstzweifeln an seinem literarischen Können. Er blättert eines seiner Manuskripte durch und findet alles stümperhaft. Plötzlich klopft es ans Fenster: Nina hat sich heimlich aufs Gut geschlichen, um Treplev zu sehen. Sie wohnt bereits seit einer Woche in einem nahen Gasthof, doch aus Angst, der junge Autor würde sie hassen, hat sie sich nicht in dessen Nähe getraut.

Verschmähte Liebe, zerrissene Manuskripte und ein Schuss

Treplev gesteht der jungen Frau, dass er aus Enttäuschung über ihre Flucht nach Moskau sämtliche Erinnerungen – Briefe und Fotos – zerrissen habe. Er könne jedoch nicht aufhören, sie zu lieben, fühle sich einsam und missverstanden, und was er schreibe, sei trocken und gefühllos. Nina erzählt ihrerseits, wie sehr sie in Moskau unter Trigorins Verrat gelitten und wie grauenhaft sie auf der Bühne gespielt hat. Sie sieht sich als die Möwe, die ein Mann aus Langeweile ins Verderben gestürzt hat. Aber immerhin bereitet ihr die Schauspielerei nun Genuss, auch wenn der erträumte Erfolg ausgeblieben ist und sie lediglich an drittklassigen Theatern auftritt. Von sehnsuchtsvollen Erinnerungen überwältigt, deklamiert sie aus Treplevs Stück, umarmt ihn und eilt davon. Die Hoffnung des Schriftstellers, seiner als sinnlos empfundenen Existenz durch eine große Liebe zu entfliehen, erweist sich als trügerisch. Schweigend zerreißt er seine Manuskripte.

„Ich schreibe ununterbrochen, rund um die Uhr, und kann nicht anders. Was ist daran schön und leuchtend, frage ich Sie? Oh, was für ein wüstes Leben! Hier stehe ich mit Ihnen, errege mich, dabei denke ich jeden Augenblick daran, dass eine nicht abgeschlossene Novelle auf mich wartet.“ (Trigorin zu Nina, S. 37 f.)

Im Nebenzimmer wird noch immer getafelt, da ertönt plötzlich ein Schuss. Dorn vermutet, dass in seiner Reiseapotheke etwas geplatzt sei. Er schaut nach und beruhigt die Anwesenden mit der Nachricht, dass in der Tat das Ätherfläschchen explodiert sei. Dann zieht er Trigorin beiseite: Der Schriftsteller solle Arkadina sofort wegführen – ihr Sohn habe sich erschossen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Möwe ist ein Stück in vier Akten, die allesamt auf einem Landgut in der russischen Provinz spielen. Zwischen dem dritten und dem vierten Akt liegt ein Zeitraum von zwei Jahren. Obwohl Tschechow sein Werk als Komödie bezeichnete, ist Die Möwe vorwiegend von Elementen geprägt, die es als eine Art Stimmungsdrama erscheinen lassen. Das Stück ist relativ handlungsarm; dramatische Umschwünge und überraschende Wendungen bleiben fast völlig aus. Stattdessen lebt es von der feinen psychologischen Zeichnung der Figuren, von der Darstellung unterschwelliger Spannungen und Frustrationen sowie der beklemmenden Inszenierung provinzieller Ereignislosigkeit und dekadenter Langeweile. Ein entscheidendes Stilmittel ist die Sprache. Die äußerlich meist wenig spektakulären Dialoge bestechen durch subtile Melancholie, Andeutungen und bedeutungsvolle Pausen. Die Figuren gewinnen nicht so sehr aufgrund ihrer Handlungen Kontur, sondern vielmehr durch Beschreibungen ihrer eigenen tristen Existenz. Daraus gewinnt das Stück eine einzigartige atmosphärische Dichte.

Interpretationsansätze

  • Die Möwe steht als Symbol für das freie, glückliche Leben, das ein Außenstehender aus purer Langeweile zerstören kann – wie es im Fall von Nina tatsächlich geschieht.
  • Tschechows Drama stellt die russische Oberschicht des ausgehenden 19. Jahrhunderts als gelangweilt und dekadent dar, es herrscht ein Klima des Neids und der Schadenfreude, in dem sich die Protagonisten mit allerlei verbalen Bösartigkeiten und doppeldeutigen Anspielungen traktieren.
  • Die Kunst bringt keine Erlösung: Als Künstler befreien sich die Protagonisten nicht etwa von ihrem öden Alltag, sondern stürzen erst recht ins Elend. Die ständigen Diskussionen über die Berechtigung innovativer Kunstformen sind eine ironische Kritik an der selbstgefälligen Geschwätzigkeit des Kulturbetriebs.
  • Treplev ist der Typ des ambitionierten, aber wenig talentierten Künstlers, der von Neid auf erfolgreichere Kollegen und Zweifeln an seinem eigenen Können verfolgt wird.
  • Die von einer großen Theaterkarriere träumende Nina vertritt eine naiv-verklärende Sicht der Künstlerexistenz, was unweigerlich zu einem schmerzhaften Zusammenstoß mit der gar nicht so glamourösen Realität führt.
  • Auch die arrivierten Künstler leiden an ihrem Metier: Die alternde Schauspielerin Arkadina verzehrt sich vor Neid auf jüngere Kolleginnen, während der Schriftsteller Trigorin ständig ans Schreiben denken muss und sich dadurch um das unmittelbare Erleben der Wirklichkeit betrogen fühlt.
  • Die heillos in ihr Unglück verstrickten Figuren suchen Zuflucht in den Herzen ihrer Leidensgefährten, doch auch die Liebe eröffnet keinen Ausweg. Sie ist entweder bloße Konvention, wie zwischen Maša und dem sterbenslangweiligen Medvedenko, oder pure Illusion, wie zwischen Nina und Treplev, was den jungen Schriftsteller schließlich in den Selbstmord treibt.

Historischer Hintergrund

Die Agonie des russischen Zarentums

Das selbstbezogene Verhalten der Gruppe in Tschechows Stück ist bezeichnend für die zwischen Resignation und Zukunftsangst schwankende Stimmung, die um 1900 in der russischen Oberschicht herrschte. Neue politische und gesellschaftliche Gruppierungen, die sich an liberaldemokratischen oder sozialistischen Idealen orientierten, opponierten gegen den zwischen 1894 und 1917 regierenden Zaren Nikolaus II. Wie seine Vorgänger hielt der leicht beeinflussbare und mehr oder weniger unfähige Zar an seiner absolutistischen Rolle fest. Statt Russland zu reformieren und zu modernisieren, kämpfte er für die Beibehaltung halb feudaler Herrschaftsverhältnisse. Im Innern wurde er je länger je mehr durch Revolten, Terrorakte, Streiks sowie die zunehmende Verarmung breiter Volksschichten bedrängt, was ihn im Jahr 1904 zu einem fatal missglückten außenpolitischen Befreiungsschlag verleitete: Er führte sein Land in den Russisch-Japanischen Krieg, der für das Heer des Zaren mit einer vernichtenden Niederlage endete. Unter dem Eindruck dieser Katastrophe musste Nikolaus II. zwar der Einberufung der Duma – einer gewählten Versammlung – zustimmen, setzte sich jedoch immer wieder in gewohnt autoritärer Weise über die Befugnisse des Parlaments hinweg. Am 22. Januar 1905 ließ der Zar auf eine Menschenmenge schießen, die für demokratische Verhältnisse und eine Agrarreform demonstrierte. Das Datum ging als „Petersburger Blutsonntag“ in die russische Geschichte ein.

Der Erste Weltkrieg mit seinen für die ganze Bevölkerung verheerenden Konsequenzen setzte der Zarenherrschaft schließlich ein Ende. In der Nacht vom 16. zum 17. Juli 1918 wurde Nikolaus II. mitsamt seiner Familie von den Bolschewisten erschossen. Seine letzten Worte sollen angeblich gelautet haben: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Für die russisch-orthodoxe Kirche wurde der absolutistische Herrscher damit zum Märtyrer. Im August 2000 ließ sie ihn heiligsprechen.

Entstehung

Eine erste, später verloren gegangene Fassung der Möwe entstand im Herbst des Jahres 1895. Verschiedene Figuren und Begebenheiten des Stücks sind von persönlichen Erfahrungen des Autors inspiriert. So hatte etwa eine Freundin von Tschechows Schwester eine Liebesaffäre mit dem äußerst produktiven Erfolgsschriftsteller I. N. Potapenko. Und genau wie im Stück Trigorin erhielt auch Tschechow einst von einer jungen Verehrerin eine Widmung mit dem aus einer seiner Erzählungen stammenden Satz: „Wenn du je mein Leben brauchst, so komm und nimm es.“ Obwohl Tschechow als erklärter Gegner biografischer Deutungsversuche energisch widersprach, erkannten sich in der Möwe zahlreiche bekannte und halb bekannte Persönlichkeiten der damaligen kulturellen und gesellschaftlichen Elite wieder. Wie alle anderen im damaligen Russland verfassten Werke musste auch Tschechows Stück von der staatlichen Zensur genehmigt werden. Nachdem der Autor eine mit Maschine geschriebene Fassung eingereicht hatte, dauerte dieser Prozess nicht weniger als fünf Monate.

Als literarischer Bezugspunkt des Werks lässt sich William Shakespeares Drama Hamlet nennen, aus dem im ersten Akt mehrmals zitiert wird und das als Inspirationsquelle für einige Motive diente, etwa für die Bemühungen Treplevs, seine Mutter von einer als unheilvoll empfundenen Beziehung abzubringen.

Wirkungsgeschichte

Bei der Uraufführung am 17. Oktober 1896 in St. Petersburg war Tschechows Stück ein eklatanter Misserfolg. Die Zuschauer konnten mit dem handlungsarmen, psychologisch vielschichtigen Stück wenig anfangen und buhten die Schauspieler gnadenlos aus. In der Folge verlor die Darstellerin der Nina noch während der Aufführung ihre Stimme, während sich der anwesende Tschechow aus dem Zuschauerraum flüchtete. Zwei Jahre später erntete Die Möwe in einem Moskauer Theater hingegen stürmischen Beifall: Das hauptstädtische Publikum war den innovativen Techniken des Autors gegenüber aufgeschlossener. Außerdem hatte das Stück in Konstantin Stanislawski einen hervorragenden Regisseur gefunden, der die widersprüchlichen Gefühle und Stimmungen der Protagonisten mit größter Präzision zu inszenieren verstand.

Heute gehört Die Möwe an den großen Schauspielhäusern der Welt zum Standardrepertoire. Das Werk gilt dank seiner Vieldeutigkeit sowie der nach wie vor modern anmutenden Zerrissenheit seiner Hauptfiguren als unerschöpfliche Quelle für zeitbezogene Neuinszenierungen. Gemeinsam mit Tschechows übrigem Werk hat das Stück Autoren wie James Joyce, Katherine Mansfield, Franz Kafka und Ernest Hemingway beeinflusst – vor allem aufgrund der sparsamen Erzählstrategien des Autors und seines Verzichts auf traditionelle Intrigen. Zu seinen frühen Bewunderern gehörte der englische Theaterautor George Bernard Shaw. Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski bekannte: „Tschechow, das ist für mich der größte Geist der ganzen Weltliteratur.“ Die weltweite Popularität des Stücks hat auch mehrere Regisseure zu Verfilmungen animiert, zuletzt die Deutsche Angela Schanelec (Nachmittag, 2007).

Über den Autor

Anton Tschechow wird am 29. Januar 1860 in Taganrog am Asowschen Meer geboren. Sein Vater ist in seiner Kindheit noch ein Leibeigener gewesen. Mit diesem Makel behaftet, wächst Tschechow in einer kleinbürgerlichen Umgebung auf und besucht das Gymnasium. In Moskau studiert er Medizin und praktiziert danach einige Zeit als Arzt. Ab 1880 schreibt er für humoristische Zeitschriften. In den 1890er-Jahren wird der zunächst unpolitische Tschechow durch die Verschärfung der sozialen Widersprüche im Zarismus politisiert. 1890 unternimmt er eine Reise zu der sibirischen Insel Sachalin, um über die Zwangsarbeit der Verbannten zu berichten. Er organisiert Hilfsmaßnahmen für Opfer von Hunger- und Choleraepidemien und übt immer lauter Kritik an den herrschenden Zuständen. Tschechow verfasst Erzählungen und Dramen und entwickelt beide Gattungen maßgeblich weiter. Zu seinen bekannten Novellen zählen Die Steppe (1888), Eine langweilige Geschichte (1889), Das Duell (1891) und Die Dame mit dem Hündchen (1899). Für die Bühne schreibt er zunächst possenartige Einakter, dann lange Zeit gar nichts. Die große Anerkennung als Dramatiker findet er erst mit den Stücken Die Möwe, Onkel Vanja, Drei Schwestern und Der Kirschgarten, die zwischen 1896 und 1904 entstehen. Ab 1884 leidet Tschechow an Lungentuberkulose, weshalb er ab 1898 in Jalta auf der Krim lebt. 1901 heiratet er die Schauspielerin Olga Knipper. Sie begleitet ihn zur Kur ins deutsche Badenweiler, wo er am 15. Juli 1904 stirbt. Beerdigt ist er in Moskau.

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