Join getAbstract to access the summary!

Das Leben Jesu

Join getAbstract to access the summary!

Das Leben Jesu

Diogenes Verlag,

15 min read
12 take-aways
Text available

What's inside?

Fromme Legende oder historische Wahrheit? Ernest Renan spürt dem wahren Jesus von Nazareth nach und liefert ein viel diskutiertes Porträt des Religionsgründers.

Literatur­klassiker

  • Geschichte
  • Moderne

Worum es geht

Auf Du und Du mit Jesus

Mit Ernest Renan trat die Leben-Jesu-Forschung Mitte des 19. Jahrhundert in eine neue Phase: Zum ersten Mal wagte es ein Katholik, die Dogmen der Kirche und die Authentizität der Evangelien öffentlich anzuzweifeln. War Jesus wirklich der Messias, der in der Bibel beschrieben wird? Konnte er Kranke heilen und Tote lebendig machen? Wollte er all dies überhaupt – oder wurde ihm sein Status als „Gottes Sohn“ von den Menschen seiner Umgebung aufgedrängt? Renan versucht Antworten auf diese Fragen zu geben. Seine groß angelegte Nach- und Neuerzählung der Evangelien spickt er mit Fußnoten, fügt weitschweifige Naturschilderungen hinzu und psychologisiert, wo es nur geht. Hin- und hergerissen zwischen kritischer Distanz und Bewunderung für das Objekt seiner Forschung zeigt Renan manche Facette auf, die auch Bibelkenner überraschen dürfte. Der französische Gelehrte musste seine Häresie bitter bereuen: Das Strafgericht der katholischen Kirche brach über ihn herein und er hatte seinen Professorenstuhl zu räumen. Am gewaltigen Erfolg seiner Biografie änderte das freilich nichts.

Take-aways

  • Der katholische Theologe Ernest Renan versucht in Das Leben Jesu ein möglichst authentisches Bild von der Persönlichkeit Jesu zu liefern.
  • Hierfür bedient er sich der historisch-kritischen Methode und untersucht die Bibel auf zeitliche oder logische Ungereimtheiten.
  • Die Ankündigung eines Messias geht auf die Prophetenbücher der Juden zurück.
  • Die in der Bibel erwähnte Volkszählung fand etwa zehn Jahre nach Jesu Geburt statt.
  • Jesus stammte nicht aus Bethlehem, sondern aus Nazareth.
  • Der erwachsene Jesus sprach vor den Menschen in Galiläa mit einem solchen Eifer und inneren Feuer, dass er sie mitriss.
  • Den Prophezeiungen Daniels entnahm er die Idee des kommenden Gottesreiches.
  • Revolutionär war seine Lehre, dass der Mensch eine direkte Verbindung zu Gott aufnehmen könne, ohne irdische Vermittler wie z. B. Priester.
  • Jesus scharte eine große Gruppe von Anhängern um sich, zog sich aber die Feindschaft der Priesterkaste in Jerusalem zu.
  • Die Wundertaten und auch die Bezeichnung „Sohn Gottes“ wurden Jesus offenbar ohne sein Zutun zugeschrieben.
  • Jesus wurde von Judas verraten und zum Tod am Kreuz verurteilt. Ob er wirklich auferstanden ist, ist keine Frage, die ein Historiker beantworten kann.
  • Renans Buch wurde ein Bestseller, brachte ihm aber haufenweise Schmähungen seitens der Katholiken ein und kostete ihn seinen Lehrstuhl.

Zusammenfassung

Prophezeiungen und Ankündigungen

Weil in alter Zeit im Osten Asiens immer wieder neue Reiche entstanden, schwand die Wahrscheinlichkeit, dass Israel jemals ein mächtiges irdisches Königreich werden könnte. Deshalb wurde es ein geistiges, sittliches und religiöses. Das Volk akzeptierte jede Fremdherrschaft, sofern sie ihm die Möglichkeit zur Ausübung seiner Religion ließ. Auch wenn die Juden meinten, dass der Glaube an Jehova der einzig richtige sei, kam es ihnen zunächst nicht in den Sinn, andere Völker zu diesem Glauben zu bekehren. Schließlich war diese Religion ja auch nur für die Nachfahren Abrahams bestimmt. Erst später war es Vertretern anderer Völker gestattet, der Religion beizutreten, womit auch die aktive Bekehrung begann. Es waren die Prophetenbücher, insbesondere das Buch Daniel, die zuerst von einem „Messias“ oder „Menschensohn“ sprachen, einem übernatürlichen Wesen, das kein König im Sinne Davids oder Salomons sein sollte.

Kindheit und Jugend

Jesus wurde vermutlich um das Jahr 750 römischer Zeitrechnung in Nazareth, einer kleinen Stadt in Galiläa, geboren. Die in der Bibel erwähnte Volkszählung des Quirinius fand mindestens zehn Jahre später statt. Jesu Abstammung kann nicht eindeutig geklärt werden, denn zu jener Zeit lebten in Galiläa viele Völker nebeneinander, Juden und Nichtjuden. Der Vater Joseph, ein Handwerker, und die Mutter Maria entstammten dem Mittelstand: Leute, die sich mit ihrer Arbeit selbst ernährten. Vermutlich sah das Geburtshaus Jesu genauso aus wie die Häuser, die man heute noch dort vorfindet: armselige Buden, deren einziges Licht von der offenen Eingangstür kommt. Von seinen Geschwistern weiß man nur wenig. Nazareth gehört auch heute noch zu den schönen Städten der Gegend, mit einem angenehmen Klima und freundlichen Menschen. Hier wuchs Jesus auf und ging zur Schule. Man kann annehmen, dass er keine höhere Bildung erreichte – was zu jener Zeit im Orient auch keine Rolle spielte. Er sprach vermutlich kein Griechisch, sondern nur seine Muttersprache, einen syrisch-hebräischen Dialekt. Das Lesen des Alten Testaments, der Gesetzestexte und Prophetenbücher muss ihm Freude bereitet haben. Daraus kannte er die Prophezeiungen über einen Messias. Von Politik oder Wissenschaften hingegen hatte er kaum eine Ahnung. Die Bande zu seiner Familie dürften nicht besonders stark gewesen sein – zuweilen zeigte er sich recht hart gegen sie.

Erstes Wirken

Jesus wuchs in einer Zeit auf, in der man sich an der römischen Besatzung störte. Insbesondere die Forderung, dem Kaiser Steuern zu zahlen und sich zum Zweck der Steuerfestsetzung zählen zu lassen, widersprach der jüdischen Vorstellung, nur Gott allein zu opfern. Jesus nahm an den jährlichen Feiern in Jerusalem teil und folgte dem Strom der Pilger. Auf solchen Reisen lernte er die Juden kennen und entwickelte wohl auch die Abneigung gegen ihre offiziellen Vertreter. Über seine Jugend sagt die Bibel wenig. Als er öffentlich aufzutreten begann, war sein Vater Joseph schon tot. Jesus kam zu der Erkenntnis, dass er der Sohn Gottes sei. Er empfand sich so unmittelbar mit Gott verbunden, dass er diese innige Beziehung nie zu beweisen versuchte. Die Idee des „Reiches Gottes“ übernahm er vom Propheten Daniel. Im Gegensatz zu den Rabbis glaubte er jedoch daran, dass dieses Himmelreich eine ganz reale Zeitperiode sein würde, eine Epoche, in der das Böse vom Guten getrennt sein werde und die Letzten die Ersten würden. Jesus verfügte über eine poetische Sprache, er redete in halb rätselhaften, halb klaren, immer aber formvollendeten Sprüchen und Gleichnissen und beschwor eine Welt des Friedens und der Brüderlichkeit herauf. Dafür bediente er sich alter Glaubenslehrsätze, steigerte sie ins Unermessliche und beseelte sie mit einem leidenschaftlichen Feuer, das viele seiner Zuhörer ansteckte und überzeugte.

Die unmittelbare Beziehung zu Gott

Revolutionär – vor allem in den Augen der Schriftgelehrten seiner Zeit – war sein Postulat einer unmittelbaren Beziehung des Menschen zu Gott. Es brauche keinen Mittler zwischen ihnen, eine Beziehung zwischen beiden sei im direkten Gebet möglich. Öffentliches Beten, Rituale und Spenden lehnte er ab. Gott, der „Vater im Himmel“, sehe auch das Verborgene, sodass es eitel sei, mit seiner Frömmigkeit in der Öffentlichkeit hausieren zu gehen. Jesus zeigte sich als Feind der Formen und Äußerlichkeiten und war gewaltlos, womit er sich von vielen Revolutionären seiner Zeit unterschied, die sich mit Aufständen gegen die römischen Besatzer wehrten. Vielmehr strebte er eine geistige Revolution an. Steuern zu zahlen, machte ihm denn auch nichts aus: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“, antwortete er auf die Fangfrage nach den Steuermünzen.

Des Menschen Sohn

Als Lehrer, der viele junge Leute um sich scharte, war Jesus zunächst nichts Besonderes. Es gab dutzendweise Rabbis mit ihren eigenen Lehren. Johannes der Täufer, einer von ihnen, lebte als Einsiedler in der Wüste und wies die Menschen mit harten Worten auf ihre Verfehlungen hin. Jesus hörte von Johannes und suchte ihn auf. Als er nach Galiläa zurückgekehrt war, begann auch er öffentlich zu sprechen. Die relativ kleine Schar, die ihn zuvor umgeben hatte, wuchs beachtlich. Er bezeichnete sich selbst als „des Menschen Sohn“ – in der Prophezeiung Daniels ein Name für den kommenden Messias, der die Welt retten und über sie richten werde. Allerdings nannte er sich nicht selbst Messias oder Sohn Gottes. Kinder Gottes zu werden, Gott ihren Vater zu nennen, das stehe allen offen, lehrte Jesus seine Anhänger.

„Die Stelle, welche Jesus in der Weltgeschichte einnimmt, das Hauptereignis der Weltgeschichte, ist die Umwälzung, durch welche die edelsten Teile der Menschheit von den alten (...) Religionen zu einer Religion übergingen, welche auf die göttliche Einheit, die Dreieinigkeit, die Fleischwerdung des Gottessohnes gegründet ist.“ (S. 9)

Seinen größten Einfluss hatte Jesus in Kapernaum am See Genezareth. In seiner Heimatstadt Nazareth blieb er dagegen erfolglos. „Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland“ – dieser Spruch Jesu galt im Besonderen für ihn selbst. In Kapernaum besuchte er die Synagoge, erhob selbst das Wort und legte die Schrift aus. Mit seinen klugen Ansichten stieß er bei jungen Leuten auf großes Echo. Seine Jünger fand er unter den Fischern, aber auch eine beachtliche Zahl von Frauen war Teil seines Kreises. Die berühmteste ist Maria von Magdala, die später Jesu Auferstehung bezeugen sollte. Auch mit Heiden oder Ausgestoßenen pflegte Jesus Umgang, unter ihnen die Griechisch sprechenden Hellenen oder die von den Juden gehassten Samariter. Er tadelte nicht, sondern zeigte sich sehr tolerant und milde, was vor allem die Samariter sehr erstaunte und für ihn einnahm.

Die Jünger

Unter den Jüngern kam es oft zum Streit, wer denn dem Meister am nächsten stehe. Jesus beantwortete solche Rangeleien mit dem Satz, dass derjenige, der sich selbst erhöhe, erniedrigt werde. Er duldete auch nicht, dass man ihn Rabbi nannte oder mit ähnlichen Titeln belegte. Oft predigte er von einem Schiff aus zu den am Strand sitzenden Menschen. Seine Worte waren einfach, seine Gleichnisse verständlich. Jesus entwickelte die Idee des Gottesreiches als Herrschaft der Armen: Wer jetzt reich sei und sich um die Mittellosen kümmere, lege sein Geld für das Reich Gottes an, sagte er. Die Idee der Armut als wahrer christlicher Zustand hielt sich in der weiteren Geschichte des Christentums nicht, nur in bestimmten Mönchsorden wurde sie verwirklicht. Die ursprüngliche christliche Lehre erlitt also ein Schicksal der Verwässerung, das sie mit dem Buddhismus teilt: Auch der war zunächst rein mönchisch, musste aber mit der stetigen Ausbreitung immer mehr Laien aufnehmen.

Legendenbildung und Rituale

Die Legenden um Jesus entwickelten sich vermutlich ohne sein Zutun. Über seine in Galiläa vollbrachten Wunder lässt sich wenig Objektives sagen. In einer Gesellschaft, in der Krankheiten bösen Geistern zugeschrieben wurden und magische Rituale alltäglich waren, war es sprichwörtlich gesagt kein Wunder, wenn jemand wirklich Wunder tat. Jesus übte offenbar durch sein Auftreten und seine Berührungen eine so positive Macht aus, dass Kranke tatsächlich gesund wurden, solange sie nur an die Kraft des Wunders glaubten. Allerdings tat er seine Wunder offenbar immer im Geheimen, es widerstrebte ihm sogar, sie überhaupt zu tun. So liegt die Vermutung nahe, dass man ihm den Ruf eines Wundertäters mehr aufdrängte, als ihm lieb war. Typisch war, dass er und seine Gemeinde auf Rituale oder besondere Kultstätten verzichteten. Der Kern des neuen Glaubens war ja gerade, dass er immer und überall durch eine innige Beziehung zu Gott aufrechterhalten werden konnte. Dennoch entwickelte sich offenbar eine besondere Art von gemeinsamem Mahl, bei dem Jesus das Brot brach und den Wein austeilte.

Das drohende Ende

Jesu Gemeinde erwartete jeden Tag das Ende der Welt und den Anfang des Himmelreichs. Offenbar reifte in ihrem Anführer zu diesem Zeitpunkt der Gedanke an seinen Opfertod – zur Einsetzung seines Königreichs und zur Errettung der Menschheit. Seine Predigten wurden immer energischer, emotionaler, leidenschaftlicher, beängstigender. Er sprach offen von Tod, Zwietracht und Verfolgung um seiner Person willen. Mehr und mehr machte er sich Feinde, vor allem unter den Pharisäern, jenen Juden, die sich fast ausschließlich an die äußerlichen Rituale der Religion hielten und deshalb Jesu Spott ernteten. Auf seiner letzten Reise nach Jerusalem versuchten sie, ihn dingfest zu machen. Auch hier sang er das Loblied der Armut und beleidigte damit mehr als einmal die reiche und aristokratische Priesterkaste. Die Schönheit des Tempels, auf die ihn seine Jünger hinwiesen, erschien ihm nichtig: „Wahrlich, ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem anderen bleiben.“ Jerusalem, die Streitereien und Anfeindungen ermüdeten ihn. Erholung fand er an stillen Abenden auf dem Ölberg, im Dorf Bethanien. Den Versuchen der Pharisäer, Jesus politisch auf dünnes Eis zu führen, ihm etwa eine negative Bemerkung gegen die römischen Besatzer zu entlocken, widerstand er mit entwaffnender Naivität, die keinerlei Angriffsfläche bot.

Verrat und Verhaftung

Immer mehr Priester stießen sich an dem Aufsehen, das Jesus in Jerusalem erregte. Es war sogar die Rede davon, er habe einen Mann namens Lazarus aus Bethanien von den Toten erweckt. Der Hohepriester Kaiphas, sein Schwiegervater Hanan und die ihn umgebenden Priester fürchteten römische Repressalien, falls Sekten – und in ihren Augen waren Jesus und seine Leute eine Sekte – Volksaufstände auslösten. Die Priesterschaft wollte es sich mit den Römern nicht verderben, denn die Existenz des Tempels sicherte ihnen Luxus und eine gehobene Stellung. Auch wenn Jesus nie öffentlich Aufruhr predigte, fiel in einer ihrer Sitzungen das Todesurteil: „Es ist besser, ein Mensch sterbe für das ganze Volk.“ Jesu Verhaftung wurde für den Donnerstag vor dem Pessachfest festgesetzt, das in Jerusalem zum Gedenken an den Auszug aus Ägypten eine Woche lang gefeiert wurde. Die Priester spähten ihn aus und fanden in Judas von Kerioth einen Jünger, der bereit war, Jesus zu verraten. Judas’ Motive sind bis heute schleierhaft. War es Neid? Eifersucht? Oder plagten den Verwalter der Gemeinschaftskasse Geldsorgen? Beim letzten Abendmahl in vertrauter Runde sprach Jesus die Worte vom Brot, das sein Leib sei, und vom Wein, der sein Blut sei und für die ganze Menschheit vergossen werde. Das Gedenken an diesen Abend wurde als Eucharistie zum zentralen Moment des christlichen Gottesdienstes.

Tod – und Auferstehung?

Nach dem Mahl begab sich Jesus mit seinen Jüngern in den Garten Gethsemane, wo er von bewaffneten Männern festgenommen wurde. Zum Hohepriester gebracht, verhörte man ihn und klagte ihn der „Verführung“ an. Jesus wusste wohl, dass das Urteil längst beschlossen war und man bei der Befragung nur Vorwände suchte, darum hüllte er sich überwiegend in Schweigen. Der römische Statthalter Pilatus fand keine Schuld an Jesus, wohl wissend, dass es vor allem die Eifersucht der Priester war, die ihn ihm auslieferte. Er bot dem Volk die Freilassung Jesu oder des Verbrechers Bar-Rabban an. Die Priester beeinflussten den Mob zugunsten des Letzteren – und Jesus wurde verurteilt, gegeißelt, von den Kriegsknechten als „Judenkönig“ verspottet und schließlich zur Kreuzigung geführt. Nicht nur arme Galiläer, sondern auch ein wohlhabender Mann namens Joseph von Arimathäa gehörten zu den Bewunderern Jesu. Er verlangte von Pilatus den Leichnam. Dieser wurde noch am Todestag vom Kreuz abgenommen, von Josephs Freunden und einigen Frauen aus dem Jesuskreis einbalsamiert und in ein Felsengrab gelegt. Am Tag nach dem Sabbat kamen die Frauen ans Grab und sahen, dass es leer war. In den kommenden Tagen häuften sich die Berichte, dass Jesus auferstanden sei. Ist das eine fromme Legende oder historische Wahrheit? Hier muss der Historiker schweigen, kann nur noch der gläubige Christ weitersprechen. Die Geburtsstunde und der steile Aufstieg des Christentums beginnen jedenfalls mit Jesu Tod und der Verkündigung seiner Auferstehung.

Zum Text

Aufbau und Stil

In 28 Kapiteln erforscht Ernest Renan das Leben und die Beweggründe des historischen Jesus von Nazareth. Das erste und das letzte Kapitel unterscheiden sich von den übrigen darin, dass sie einen breiteren Horizont aufspannen und zum einen die Wurzeln der Gesellschaft, in die Jesus hineingeboren wurde, zum anderen die weitere Entwicklung der Lehre nach Jesu Tod skizzieren. Ansonsten präsentiert Renan weitgehend eine Nacherzählung des Neuen Testaments – allerdings gespickt mit haufenweise historischen Anmerkungen, Erläuterungen und einem umfangreichen Apparat von Fußnoten. Renans Blick ist zwiespältig: Einerseits schreibt er psychologisierend, verklärend und voller Bewunderung für den Religionsgründer; andererseits hinterfragt er kritisch die in der Bibel genannten Daten und zitiert aus weiterführenden Quellen. Ein Problem dabei: Die Wunder Jesu und dessen Auferstehung entziehen sich der positivistischen Darstellung. Renan vermischt seine Ausführungen mit ausgiebigen Beschreibungen der Landschaft von Galiläa, der Stadt Jerusalem, des Rechtssystems der römischen Besatzer und der Religion und Gesellschaft der Juden. Wer nicht bibelfest ist, wird Renan nicht so leicht folgen können, obwohl sein Buch stilistisch keineswegs wissenschaftlich-spröde daherkommt. Ein um Einfachheit bemühter, feierlich-ernsthafter Ton dominiert. Das Buch endet mit einem umfangreichen Quellenbericht.

Interpretationsansätze

  • Renan zeichnet ein neues Bild von Jesus: Er schildert einen ungebildeten, einfachen Mann, dessen Horizont kaum über Galiläa hinausreichte, der die prophetische Idee vom Reich Gottes aufnahm und weiterentwickelte und durch sein charismatisches Auftreten viele Anhänger gewann, sich aber auch Feinde machte, die ihn schließlich zu Fall brachten und töteten. Sein göttlicher Status wurde ihm erst posthum von seinen Anhängern verliehen.
  • Nach Renan zeigt Jesus neben seiner sanftmütigen Seite kurz vor dem Tod eine zweite: die der Eschatologie (Lehre vom Ende der Welt und dem Leben nach dem Tod). Damit bereitete er die Jünger auf das nahende Weltende vor. Da das Weltende jedoch nicht kam und man weiterhin in der irdischen Gesellschaft mit all ihren Zwängen und Verpflichtungen leben musste, waren Jesu radikale Vorschläge (wie „Verkaufe all dein Hab und Gut“ etc.) teilweise unausführbar.
  • Renan weist zahlreiche Ungenauigkeiten und Manipulationen in den Evangelien nach. So war es bei den Juden z. B. allgemein bekannt, dass der kommende Messias ein Nachfahre König Davids sein sollte. Vermutlich wurde deshalb der Geburtsort Jesu nach Bethlehem verlegt und mit der Steuerschätzung in Verbindung gebracht, denn auch David kam aus Bethlehem. Jesus aber stammte in Wahrheit aus Nazareth.
  • Renan wurde von seinen Kritikern der Vorwurf des Antisemitismus gemacht. Tatsächlich schreibt er bei der Erörterung der Frage nach der Schuld an Jesu Tod: „Und wenn jemals ein Verbrechen das Verbrechen eines Volkes war, so war es der Tod Jesu.“ Renan bezieht diese Aussage explizit auf das alte mosaische Gesetz und betrachtet Jesus als Überwinder ebendieses jüdischen „Gesetzes der alten Grausamkeit“.

Historischer Hintergrund

Die Anfänge der Leben-Jesu-Forschung

Die Leben-Jesu-Forschung, also der Versuch, den historischen Jesus möglichst genau zu bestimmen, entwickelte sich mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Bereits im 17. Jahrhundert entstand der Deismus, der darauf abzielte, den Glauben kritisch zu hinterfragen. Die Deisten glaubten zwar an die Existenz Gottes, standen jedoch den Lehren der Bibel und den Dogmen der Kirche kritisch gegenüber. Hermann Samuel Reimarus stellte Mitte des 18. Jahrhunderts als Erster den von der Kirche vermittelten Glauben infrage, indem er große Unterschiede zwischen den Aussagen Jesu und den Worten der Apostel feststellte. Er ging sogar so weit, die Apostel als Betrüger zu bezeichnen, die Jesu Geschichte nachträglich umgedeutet hätten. David Friedrich Strauß stellte in Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet 1835 die These auf, dass Jesus in den Evangelien die alttestamentarische Mythologie sozusagen übergestülpt bekommen habe. Mit anderen Worten: Jesu Taten und Lehren seien von der jungen Kirche nachträglich als Erfüllungen früherer Prophezeiungen ausgegeben worden. Den historischen Jesus könne man unter dieser dicken Schicht von Mythen und Legenden kaum noch erkennen. Auch Ernest Renans Buch gehört in diese erste Phase der Leben-Jesu-Forschung. Der Arzt, Musiker und Theologe Albert Schweitzer zog zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Bilanz der Leben-Jesu-Forschung bis zum Jahr 1906. Sein Ergebnis: Alle Bibelkritiker und Jesus-Biografen hätten ihre persönlichen Ideale in die jeweiligen Texte hineinprojiziert und in Jesus abwechselnd einen „ethischen Vordenker“, einen „tierlieben Menschenfreund“ oder einen „nationalen Freiheitskämpfer“ gesehen. Auch nach Schweitzers Schrift gab es – bis heute – zahlreiche mehr oder weniger ernst zu nehmende Versuche, dem historischen Jesus jenseits der biblischen Überlieferung auf die Spur zu kommen.

Entstehung

Das Leben Jesu ist das Werk eines Zweiflers. Ernest Renan hinterfragte vielleicht nicht das Christentum als solches, wohl aber die historische Wahrhaftigkeit der Bibel. Schon während seines theologischen und philosophischen Studiums fielen ihm Ungereimtheiten in den Texten der Bibel auf: zeitliche Sprünge, Einschübe, unterschiedliche Verfasser ein und desselben Textes. In Briefen bekannte er, wie sehr er die Protestanten beneidete, die kritische Bibelforschung betreiben und dennoch im Herzen ihrer Kirche verbleiben durften. Die katholische Kirche hingegen würde jedes Anrühren ihrer Dogmen verfolgen, ahnte Renan. Nach einem langen Konflikt mit sich selbst entschloss er sich 1845, das Priesterseminar zu verlassen. Rund 15 Jahre später befand er sich im Auftrag der französischen Regierung in Syrien. Zusammen mit seiner Schwester Henriette Renan unternahm er eine Reise nach Palästina. Von der Landschaft angeregt, keimte in ihm der Plan zu einer historisch-kritischen Jesus-Biografie: „Ich hatte ein fünftes Evangelium vor Augen, zerfetzt, aber noch lesbar, und von da an erblickte ich durch die Berichte des Matthäus und Markus hindurch statt eines abstrakten Wesens (...) ein wunderbares Menschenantlitz mit Leben und Bewegung.“ Die ersten Seiten des Buches diktierte er seiner Schwester, die jedoch noch während der Reise an Malaria starb.

Wirkungsgeschichte

Noch bevor Das Leben Jesu erschien, löste Renan vor allem unter den Katholiken in Paris einen Skandal aus. Bei seiner Antrittsrede als Professor für den Lehrstuhl für hebräische und semitische Sprachen im Jahr 1862 sprach er Jesus indirekt dessen göttliche Natur ab. Einige Tage später wurde er von seinen Lehrpflichten „beurlaubt“. Diese Suspendierung konnte so schnell nicht wieder aufgehoben werden, denn als 1863 das Buch schließlich erschien, brach der Aufruhr seiner Antrittsrede in höherer Potenz erneut über ihn herein. Interessanterweise wurde Renan gleich von zwei sich widerstrebenden Parteien in die Zange genommen: Die Katholiken warfen ihm vor, Jesus vom Sohn Gottes zu einem gewöhnlichen Menschen degradiert zu haben. Die Freidenker und liberalen Protestanten beschuldigten ihn paradoxerweise des Gegenteils: Er sei bei seiner Biografie viel zu vorsichtig gewesen und bediene sich viel zu häufig eines romanhaften und verklärenden Stils. Albert Schweitzer, der die Leben-Jesu-Forschung seinerseits kritisch untersuchte, bemerkte 1906 über das Buch: „Der Historiker verzeiht es ihm schwer, dass er dem Problem der Entwicklung Jesu, auf das er durch seine starke Betonung der Eschatologie geführt wurde, nicht nachgegangen ist und anstelle der Lösung romanhafte Phrasen bot.“

Der Protest der beiden Lager darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Buch ein wahrer Bestseller war: Innerhalb von sechs Monaten wurden 60 000 Exemplare verkauft, nach einem Jahr waren bereits zehn Auflagen erschienen. Mehrere Übersetzungen in verschiedene Sprachen führten zu einer raschen Verbreitung. Renan fügte mit seinem Werk der bis dahin rein protestantischen Leben-Jesu-Forschung die erste katholische Variante hinzu. Trotz seines wissenschaftlichen Anspruchs gelang es ihm, den rein fachlichen Leserkreis zu durchbrechen: Das Leben Jesu wurde im gebildeten Bürgertum ebenso gelesen wie in breiten Volksschichten. Für Renan war das Buch der Einstieg in seine siebenbändige Histoire des origines du christianisme (Geschichte der Ursprünge des Christentums, 1863–1883).

Über den Autor

Ernest Renan wird am 27. Februar 1823 in Tréguier in Frankreich geboren. Nach der Schule beginnt er Theologie zu studieren und lässt sich zum Priester ausbilden. Er studiert an drei verschiedenen theologischen Seminaren, beschäftigt sich aber auch mit Philosophie und lernt Hebräisch und Deutsch. 1844 erhält er die niederen Weihen, doch ein Jahr später verlässt er das Priesterseminar: Renan sieht seinen Glauben durch die historische Bibelkritik erschüttert. Er beschließt, sich fortan lieber für den Fortschritt der Vernunft und der Wissenschaft einzusetzen. Renan hält das Christentum, wie er später betont, nach wie vor für die höchste religiöse Entwicklungsstufe, von der Dogmatik der katholischen Kirche fühlt er sich jedoch beengt. Seine Forschungen über semitische Sprachen ermöglichen ihm eine Karriere in der Wissenschaft. Im Auftrag des Institut de France unternimmt er 1849 eine archäologische Reise durch Italien. Zurück in Paris erhält er einen Posten in der Orientabteilung der Nationalbibliothek, wird Mitarbeiter der Revue des Deux Mondes und schließt seine Doktorarbeit ab. Eine weitere archäologische Reise führt ihn 1860/61 zusammen mit seiner Schwester nach Syrien, Palästina und in den Libanon. Beide erkranken an Malaria; Renan überlebt das Fieber, seine Schwester nicht. In Palästina reift die Idee zu seinem Vie de Jésus (Das Leben Jesu) und Renan beginnt mit der Arbeit an dem Buch. Seine Antrittsrede als Professor am Collège de France im Jahr 1862 löst einen Skandal aus. Als ein Jahr später das Jesus-Buch erscheint, wird er auf Druck der Katholiken von seinem Amt suspendiert. Renan kehrt an die Nationalbibliothek zurück, widmet sich weiteren archäologischen Reisen und setzt seine Forschungen über den Ursprung des Christentums fort. Nach der Ablösung des bonapartistischen Regimes und dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 kehrt Renan ans Collège de France zurück. 1878 wird er Mitglied der Académie française, 1888 Großoffizier der Ehrenlegion. Renan stirbt am 2. Oktober 1892 in Paris.

Hat Ihnen die Zusammenfassung gefallen?

Buch oder Hörbuch kaufen

Diese Zusammenfassung eines Literaturklassikers wurde von getAbstract mit Ihnen geteilt.

Wir finden, bewerten und fassen relevantes Wissen zusammen und helfen Menschen so, beruflich und privat bessere Entscheidungen zu treffen.

Für Sie

Entdecken Sie Ihr nächstes Lieblingsbuch mit getAbstract.

Zu den Preisen

Für Ihr Unternehmen

Bleiben Sie auf dem Laufenden über aktuelle Trends.

Erfahren Sie mehr

Studenten

Wir möchten #nextgenleaders unterstützen.

Preise ansehen

Sind Sie bereits Kunde? Melden Sie sich hier an.

Kommentar abgeben

  • Avatar
  • Avatar
    R. S. vor 4 Jahren
    Die Zusammenfassung zu "Das Leben Jesu" kurz, informativ und gibt einen guten Einblick. Zum Gedanken der Auferstehung möchte ich auf das Turiner Grabtuch hinweisen. Es ist ein Relikt, dass zwingt über die Besonderheit von Jesus nach zu denken.
  • Avatar
    A. vor 6 Jahren
    echt gut, fesselt mich jedes Mal wenn ich es lese

Mehr zum Thema

Verwandte Kanäle