Join getAbstract to access the summary!

Die Einsamkeit des Langstreckenläufers

Join getAbstract to access the summary!

Die Einsamkeit des Langstreckenläufers

Diogenes Verlag,

15 min read
12 take-aways
Text available

What's inside?

Eine anarchische Erzählung vom Sieg eines Einzelnen über alle Anpassungszwänge der Gesellschaft.

Literatur­klassiker

  • Kurzprosa
  • Nachkriegszeit

Worum es geht

Zorniger junger Mann

Die Einsamkeit des Langstreckenläufers ist eine meisterhafte Erzählung von Alan Sillitoe, der, aus ärmsten Verhältnissen stammend, sich darin den Zorn über die eigene Kindheit vom Leibe schrieb. Seine Hauptfigur, der 17-jährige Colin Smith, kennt die Handgreiflichkeiten der Eltern und den Hunger von frühster Jugend an. Nach einem Einbruch in eine Bäckerei landet er in einer Besserungsanstalt im Süden Englands, wo ihm der Direktor einen Tauschhandel vorschlägt: Colin soll als Langstreckenläufer für das große Sportfest trainieren und den prestigeträchtigen Pokal für die Anstalt holen; der Direktor will sich im Gegenzug um Colins Zukunft kümmern. Der Junge ist jedoch alles andere als korrumpierbar, die vorgeschobene Freundlichkeit des Direktors ist ihm ein Gräuel. Er verliert den Wettkampf mit voller Absicht und findet dadurch zu sich selbst; in der Einsamkeit des Laufens ist er glücklich. Sillitoes Text zählte Ende der 50er Jahre zu einem der radikalsten Beiträge der „Angry Young Men“, einer englischen Literatengruppe, die sich mit sozialen Missständen auseinandersetzte.

Take-aways

  • Die Einsamkeit des Langstreckenläufers ist eine der berühmtesten Erzählungen des 20. Jahrhunderts.
  • Sie ist ein radikales Credo an das Individuum: Der Ich-Erzähler würde lieber sterben, als sich gesellschaftlichen Normen anzupassen.
  • Der Erzähler der Geschichte ist der Arbeiterjunge Colin Smith, der nach einem Diebstahl in einer Besserungsanstalt sitzt.
  • Nach dem Tod von Colins Vater ist die Familie durch eine Versicherungsprämie kurzfristig zu Reichtum gekommen.
  • Um den Wohlstand zu verlängern, ist Colin mit einem Freund in eine Bäckerei eingebrochen.
  • Jetzt, im Gefängnis, erregt er wegen seines Talents als Langstreckenläufer die Aufmerksamkeit des Anstaltsdirektors.
  • Dessen Freundlichkeit hält er jedoch für fadenscheinig: Colin soll wohl lediglich im alljährlichen Sportwettkampf den Pokal für die Anstalt holen.
  • Der Hoffnungsträger findet die Heuchelei des Direktors unerträglich. Auf der Zielgeraden läuft er auf der Stelle und lässt einen anderen gewinnen.
  • Für Colin bedeutet der Unterschied zwischen den Klassen zwangsläufig Krieg: „wir“ gegen „die“.
  • Sillitoe war einer der ersten Autoren, die gezielt Slang und Vulgärsprache verwendeten.
  • Er wird zur Bewegung der „Angry Young Men“ gezählt, in deren Werken es um Klassenkonflikte geht.
  • Die Verfilmung des Buches durch Tony Richardson war 1962 der erfolgreichste Beitrag der englischen Free-Cinema-Bewegung.

Zusammenfassung

In Gedanken frei

Der 17-jährige Colin Smith erzählt von seiner Zeit als Insasse einer Besserungsanstalt in Essex. Gleich nach seiner Ankunft lässt ihn der Direktor zum Langstreckenläufer ausbilden. Damit Colin seinen morgendlichen Trainingslauf über die gefrorenen Felder und Waldwege absolvieren kann, darf er im Gegensatz zu den anderen Jungen jeden Tag um fünf in der Früh für zwei Stunden die Anstalt verlassen. Trotzdem denkt er nicht an Flucht. Er weiß, man würde ihn ohnehin wieder einfangen, und für diese Schmach ist er zu stolz.

„Sobald ich ins Borstal kam, machten sie mich zum Langstreckenläufer (...), denn Laufen ist bei uns zu Hause immer großgeschrieben worden, besonders das Weglaufen vor der Polizei.“ (S. 5)

Colin unterteilt die Menschen in zwei Kategorien: „wir“ und „die“. Wir, das sind die Jungs aus der Arbeiterklasse, die Familien, die es über Generationen hinweg niemals zu etwas gebracht haben, die Männer, die im Gefängnis sitzen, im Krieg erschossen werden oder sich in Freiheit bestenfalls mit Gaunereien über Wasser halten können. Auf der anderen Seite stehen „die“: Leute wie der Anstaltsleiter, feine Damen und Herzöge, die ohne ihre Dienerschaft nicht einmal ihren eigenen Haushalt führen könnten, spießige Geschäftsleute, die bei der Polizei anrufen, um Jungs wie Colin verhaften zu lassen. Er ist sich bewusst, dass „die“ jetzt und für alle Zeit die Zügel in der Hand haben. Aber Colin fühlt sich trotzdem frei – in seinen Gedanken.

„Die sind schlau, und ich bin schlau. Wenn die und wir dieselben Ideen hätten, kämen wir glänzend miteinander aus, aber die stimmen nicht mit uns überein, und wir stimmen nicht mit ihnen überein, so ist es nun mal, und so wird’s auch immer bleiben.“ (S. 6)

Wenn er am frühen Morgen seinen Passierschein vorzeigt und nur mit einem dünnen Hemd bekleidet die Anstalt verlässt, dann beschwert er sich nicht über die eisige Kälte. Er weiß, dass er sich in einer halben Stunde warmgelaufen haben wird, und er liebt es, an der frischen Luft und im Laufrhythmus über sein Leben und dessen Zusammenhänge nachdenken zu können.

Zwei verschiedene Ehrlichkeiten

Colin weiß, dass der Direktor ihn nur deshalb zum Training vor die Tür lässt, weil er ihn für einen talentierten Läufer hält, der im alljährlichen Sportwettkampf der Borstals (Erziehungsanstalten) den Siegerpokal holen könnte. Wann immer Colin vom Direktor angesprochen wird, tut er so, als würde er sich auf das Spiel einlassen und tatsächlich den Pokallauf gewinnen wollen. In Wahrheit hat Colin das aber ganz und gar nicht vor.

„Ein Stück blaues Band und einen Pokal geben sie uns als Preis, nachdem wir uns beim Rennen und Springen abgestrampelt haben wie die Rennpferde, bloß dass wir nicht so gut behandelt werden wie Rennpferde, das ist das Einzige.“ (S. 7)

Er verachtet den Direktor, der ihm weiszumachen versucht, der Sport diene Colins Wiedereingliederung in die Gesellschaft, während er tatsächlich nur sich und seine Anstalt mit dem Pokal schmücken will. Für Colin ist der Direktor ein leidenschaftsloser Schwächling. Ja, die gesamte etablierte Gesellschaft ist für den Jungen mehr tot als lebendig: Diese Leute mögen Macht haben über Menschen wie ihn, aber sie haben nicht mal die Kraft für einen kurzen Dauerlauf. Als Colin von der Anstaltsleitung zu mehr Ehrlichkeit im Leben ermahnt wird, bekommt er vor Lachen Seitenstechen. Ehrlicher als diese Waschlappen ist er allemal! Wenn er an der Macht wäre, würde er die ganzen Direktoren, Polizisten, Politiker und Geschäftsleute nicht, Freundlichkeit heuchelnd, in Besserungsanstalten unterbringen, sondern anständig an die Wand stellen und abknallen lassen.

Krieg zwischen den Klassen

Für Colin gibt es keinen Zweifel, es herrscht Krieg zwischen „denen“ und „uns“. Insofern ist er gar nicht so traurig, im Borstal gelandet zu sein. Hier lernt er wenigstens die Einschüchterungsmechanismen der Gesellschaft zu durchschauen. Die herrschende Klasse hat die Besserungsanstalt, den Knast und den Strang nur deshalb erfunden, um Leute wie ihn vom Diebstahl abzuhalten. Colin kennt den wahren Feind, die Mächtigen, und darum würde er niemals Soldat werden und auf andere Soldaten schießen, die ebenso arme Kerle sind wie er. Das wäre für ihn der Kampf im falschen Krieg.

„Das ist ein schönes Leben, sag ich mir immer, wenn du dich von den Bullen und Borstal-Bossen und den übrigen schuftsfratzigen braven Bürgern nicht kleinkriegen lässt.“ (S. 11)

Colin erinnert sich an einen Sommertag in seiner Kindheit, als er zusammen mit drei Vettern das Picknick einer Gruppe von Kindern aus besserem Haus überfallen und geplündert hat. Er nimmt sich vor, sich so bereitzuhalten, wie es die reichen Kinder bei ihrem Picknick damals hätten tun sollen: immer in Habachtstellung vor dem Gegner.

„Zugegeben, wir sind beide schlau, aber ich bin schlauer, und am Schluss werde ich siegen, auch wenn ich vielleicht mit zweiundachtzig im Kittchen sterbe, weil ich aus meinem Leben mehr Lust und Leidenschaft raushole, als er je aus seinem rausholen wird.“ (über den Direktor, S. 13)

Während der Direktor vermutlich glaubt, dass die Jungen in seiner Anstalt sich bessern und rechtschaffene Leute werden wollen, überlegt sich Colin manchmal, ob er den Mann nicht darüber aufklären sollte, wie seinesgleichen wirklich denken. Aber andererseits: Wenn er allein herausgefunden hat, dass „oben“ und „unten“ sich im Krieg befinden, dann kann das der Direktor bitteschön auch selber tun.

Verlockender Reichtum

Als Colins Vater an Kehlkopfkrebs starb, bekam seine Mutter von der Versicherung 500 £. Damit lebte die Familie zumindest vorübergehend in bis dahin unbekanntem Wohlstand. Die Mutter kaufte einen Fernseher für die Kinder, einen Pelzmantel für sich selbst und ein neues Bett für ihre zahlreichen Verehrer. Abend für Abend saßen Colin und seine Geschwister nun bei Schinkenbroten und Limonade vor dem Fernseher und machten große Augen. Bisher waren sie an den Schaufenstern in der Stadt ohne Interesse vorbeigelaufen – jetzt, wo die vielen guten Sachen in der Werbung direkt vor ihnen auf der Mattscheibe flimmerten, hätten sie am liebsten noch mehr Geld gehabt, um das alles zu kaufen.

„Vielleicht ist man tot, sobald man die Oberhand über jemand gewinnt.“ (S. 14)

Als die 500 £ aufgebraucht waren, ging Colin nicht auf Arbeitssuche, sondern ließ sich durch die Stadt treiben, in der Hoffnung, dass ihm ein Zufall neues Geld zuspiele. In einer nebligen Nacht kam er mit seinem Freund Mike an dem offenen Fenster einer Bäckerei vorbei. Colin kann sich heute nicht mehr erinnern, wer von beiden zuerst die Idee zum Einbruch hatte. Mike wurde jedenfalls später freigesprochen, er selbst als Anstifter verurteilt, was ihm aber nicht als ungerecht aufstößt. Er hofft, dass es Mike da draußen gut geht.

In der Bäckerei

An jenem Abend stiegen beide durch das offene Fenster ins Büro der Bäckerei. Mike entdeckte eine Geldkassette und wollte sofort wieder verschwinden. Colin hätte das Büro eigentlich noch gründlicher durchsuchen wollen, fand aber dann, dass Mike und er Partner seien, und erachtete es als wichtiger, zusammenzuhalten. Draußen auf der Straße gab Mike die Kassette an Colin weiter, der sie sich unter den Pullover steckte und hoffte, dass sein Freund und er von keinem Polizisten angesprochen würden.

„Sei ehrlich. Das ist, wie wenn er sagt: Sei tot wie ich, da tut’s dir nicht mehr weh, aus deinem hübschen kleinen Elendsloch in ein Borstal oder ein Gefängnis zu ziehn.“ (S. 15)

Unentdeckt kamen sie bei Colin zu Hause an, und Mike brach die Kassette mit einem Hammer auf. Den Inhalt teilten sie gerecht auf: etwa 78 £ für jeden. Colin war heilfroh, dass der Bäcker offenbar genauso wenig für das Bankwesen übrighatte wie er selbst und das Geld einfach im Büro herumliegen ließ, sodass zwei ordentliche Kerle wie er und Mike es dann einsammeln konnten.

Ein scheinbar sicheres Versteck

Hätten Colin und Mike das Geld gleich ausgegeben und wären etwa mit neuen Anzügen durch die Nachbarschaft spaziert, hätte sie garantiert jemand bei der Polizei verpfiffen. Denn selbst in Colins Straße gab es Leute, die zwei Pennys reicher waren als die andern und – so Colins Theorie – jederzeit die Ärmeren in den Knast bringen wollten, um ihre zwei Pennys zu verteidigen. Die Jungs versteckten das Geld darum im Regenrohr neben der Tür zu Colins Wohnung.

„Ihr seht also, wie sie mich ins Borstal geschickt haben, haben sie mir das Messer gezeigt, und seitdem weiß ich was, was ich vorher nicht gewusst hab: Zwischen mir und denen herrscht Krieg.“ (S. 17)

Einige Tage später wurde Colin von seiner Mutter geweckt und an die Tür gerufen. Ein baumlanger Polizist mit Hitler-Schnauzbart stand da, der wissen wollte, wo er am vergangenen Freitag gewesen sei – in der Einbruchsnacht. Seine Mutter stand Colin zur Seite und behauptete, er habe zu Hause ferngesehen. Der Polizist glaubte davon kein Wort. Er wisse, dass Colin außer Haus gewesen sei, sagte er und bot ihm einen Deal an: Wenn er verrate, wo sich das Geld befinde, käme er mit einer Bewährungsstrafe davon. Colin ließ sich jedoch auf nichts ein und behauptete, abgesehen von dem einen Shilling in seiner Hosentasche von keinem Geld zu wissen. Am Abend beschlossen er und Mike, nicht zu fliehen, sondern das Geld im Regenrohr zu lassen und zu warten, bis sich die Situation beruhigen würde.

Verhängnisvoller Regen

In den nächsten Tagen folgten weitere Verhöre, sogar Hausdurchsuchungen. Die Polizei sah in den Kamin und unter den neuen Teppich, fand jedoch nichts. An einem regnerischen Morgen klingelte der Polizeibeamte mit dem Hitler-Schnurrbart noch einmal an der Tür, und Colin beging den großen Fehler, den durchnässten Beamten aus reiner Gehässigkeit draußen stehen zu lassen. Der Polizist behauptete, eine Frau habe Colin und Mike am Tag zuvor gemeinsam gesehen und als die Diebe erkannt – ein Trick, auf den Colin nicht hereinfiel, da er und Mike an diesem Tag gar nicht zusammen unterwegs gewesen waren. Der Regen wurde stärker, Colin machte sich noch eine Weile über den Beamten und seinen Beweismangel lustig – und stellte dann zu seinem Entsetzen fest, dass dieser ihm gar nicht mehr zuhörte: Eine Fünf-Pfund-Note war aus ihrem Versteck im Regenrohr gespült worden, es folgten eine weitere und ein bunter Zehn-Shilling-Schein – Colin war überführt.

Die Einsamkeit des Langstreckenläufers

Am Tag des großen Sportfests wird Colin vom Anstaltsdirektor einem Abgeordneten des britischen Unterhauses vorgestellt. Wenn Colin aus dem Borstal freigelassen werde, habe er womöglich eine große Karriere als professioneller Läufer vor sich, sagt der Direktor und verspricht, sich um einen guten Trainer zu kümmern, wenn Colin ihm heute nur brav den Pokal hole. Colin ist verlockt und stellt sich vor, wie er es zu etwas bringen und sich eine flotte Sekretärin leisten wird. Aber dann zerfällt das Bild: Auch als professioneller Läufer wird er am Ende von der Pistolenkugel eines Polizisten eingeholt werden. Und so hält Colin an seinem Vorhaben fest, die Pläne des Direktors zu durchkreuzen.

„(...) ich frag mich, ob ich in der Laufbranche der Einzige mit diesem System bin, das Laufen vor lauter Nachdenken zu vergessen (...)“ (S. 53)

Er stellt sich vor der Ehrentribüne in Startposition und hofft, dass die feinen Herren all ihr Geld auf ihn gesetzt haben. Nach dem Startschuss bleibt er auf der zweiten Position, hat aber so viele Reserven, dass er den führenden Läufer jederzeit überholen könnte. Colin weiß, dass er den anderen Jungen taktisch haushoch überlegen ist. Er denkt an die Aufforderung des Direktors, er solle ehrlich sein, und stellt abermals fest, dass der Direktor, der Sympathie für ihn, den Gefangenen, heuchelt, selbst nicht ehrlich ist. Colin zieht den Polizeibeamten mit dem Hitler-Schnurrbart vor, der ihn offen verachtet und eingesperrt hat. Dann überholt er doch den Läufer vor sich, läuft allein über die Felder und entdeckt, dass es für ihn nur ein einziges ehrliches und wirkliches Gefühl gibt: die Einsamkeit des Langstreckenläufers.

Wiederholungstäter aus Überzeugung

Colin weiß, dass der Direktor sich an ihm rächen und ihn die miesesten Küchenarbeiten machen lassen wird, wenn er ihm den Pokal nicht bringt. Aber damit kann er leben. Es ist Krieg, und selbstverständlich hat die andere Seite das Recht, zurückzuschlagen. Colin muss an seinen Vater denken, den er am Morgen nach dessen Tod blutverschmiert im Schlafzimmer gefunden hat. Das Leben des Vaters war nicht leicht, besonders durch Colins Mutter, die ständig neue Liebhaber hatte; Colin musste immer wieder dazwischengehen, wenn sein Vater die Mutter verprügelte. Aber er beschwert sich nicht, sein Leben ist immer noch besser als das angepasste Dasein, das der Direktor für ihn ausgesucht hat. Ihm fällt ein, wie sich auch der Vater bis in den Tod hinein verweigert hat, wie er jede Hilfe ablehnte und die Ärzte vor die Tür setzte, um in Ruhe zu Hause zu sterben. Dass er den Wettlauf verlieren soll, stimmt Colin jämmerlich, aber er will ebenso auf seiner Absicht bestehen, wie sein Vater damals die Schmerzen ausgehalten hat. Auf der Zielgeraden schießen ihm die Tränen in die Augen, er weint und beginnt auf der Stelle zu laufen, damit ihn der nachfolgende Läufer überholen kann. Die Anfeuerungsrufe des Publikums gellen in seinen Ohren, aber Colin weigert sich bis zum Schluss, als Erster durchs Ziel zu gehen.

„Dann bog er in eine Waldzunge, wo ich ihn nicht mehr sehn konnte, und ich konnt überhaupt niemand sehn, und nun wusste ich, was die Einsamkeit des Langstreckenläufers ist, der durchs Gelände läuft, wobei mir klar war, dass bei mir dieses Gefühl das einzig Ehrliche und Wirkliche ist, was es auf der Welt gibt (...)“ (S. 54 f.)

Die letzten sechs Monate im Borstal sind wie erwartet nicht leicht, da ihn der Direktor mit allen erdenklichen Drecksarbeiten zu schikanieren versucht. Doch dann wird Colin entlassen und muss wegen einer Rippenfellentzündung nicht einmal zum Militär. Gerade hat er ein größeres Ding gedreht, sich zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Geschichte aber noch nicht fassen lassen. Sein Manuskript soll veröffentlicht werden, sobald er wieder ins Gefängnis kommt, weshalb er es zur Sicherheit einem Freund übergibt. Der soll sich dann anstelle von Colin um einen Verleger kümmern.

Zum Text

Aufbau und Stil

Alan Sillitoes Erzählung Die Einsamkeit des Langstreckenläufers ist der atemlose Monolog eines Ich-Erzählers in drei Kapiteln. Im ersten Kapitel berichtet Colin Smith noch kaum etwas von seiner persönlichen Geschichte, sondern stellt dem Leser, nach einer kurzen Beschreibung der Situation im Borstal, sein Weltbild vor. Der Text ist anfänglich eher eine hemdsärmelig-politische Grundsatzerklärung als eine anschaulich erzählte Folge von Ereignissen – die dann aber prompt das zweite Kapitel liefert. Hier berichtet Colin von seiner Vorgeschichte, insbesondere von dem Einbruch in die Bäckerei, für den er in die Besserungsanstalt gesperrt worden ist. Das dritte Kapitel knüpft wieder in der Gegenwart des Borstals an und erzählt vom Tag des großen Wettkampfs, von Colins Lauf zu sich selbst. Sillitoes Kurzroman ist kreisförmig strukturiert: Colins Überlegungen zum Krieg zwischen den Klassen wiederholen sich mehrmals, sie entwickeln sich in langsamen Zirkeln. Der Text bildet – das ist Sillitoes großer Kunstgriff – die Denkbewegung seines Erzählers in der keuchenden Sprache des Langstreckenläufers ab. Colin ist ein derber Küchenphilosoph, er schimpft und flucht, und er versucht ununterbrochen die Welt und sich selbst zu erklären, ohne dabei je intellektuell zu klingen. Der wüste Working-Class-Slang verweist mit jeder Zeile des Texts auf die Herkunft seines Protagonisten; die jugendliche Frische dieser Sprache scheint Jahrzehnte nach ihrer Niederschrift allerdings etwas verbraucht.

Interpretationsansätze

  • Der Klassenkampf erscheint im Roman als unüberwindlicher Zustand der Gesellschaft; die beiden sozialen Schichten stehen sich unvereinbar gegenüber. Die herrschende Klasse kann die Unterschicht jederzeit zum Tod verurteilen, in den Krieg schicken oder auf der Flucht erschießen. Umgekehrt wirkt die Oberschicht auf Colin so schlaff und leblos, dass er alle, die Macht über ihn haben, für „tote Kerle“ hält.
  • Colin ist zwar mit seinen Kameraden solidarisch, aber nicht in politischer Hinsicht; er ist kein Klassenkämpfer im eigentlichen Sinn. Zum einen wird er eher von egoistischen Motiven getrieben als von ideologischen Überlegungen: Er wird zum Dieb, weil er den Wohlstand beibehalten will, der seiner Familie nach dem Tod des Vaters kurzzeitig zufällt. Zum anderen sucht er die Einsamkeit: Nur beim Langstreckenlauf ist er wirklich glücklich.
  • Das Laufen kann als Symbol für Colins unbändige Lebenskraft gelesen werden. Im sportlichen Bereich unterscheidet er sich von der herrschenden Klasse, hier kann er mehr erreichen als andere, hier ist sogar der Direktor von ihm abhängig. Dementsprechend kann Colin sich über das Laufen gegen die herrschende Klasse auflehnen: Er verweigert dem Direktor den Gewinn des begehrten Siegerpokals.
  • Die beiden Bedeutungen des Wortes Ehrlichkeit scheinen in Sillitoes Text unvereinbar zu sein. Für den Direktor hält ein ehrlicher Mensch sich an das Gesetz und achtet den Besitz und das Leben der anderen. Für Colin kann dagegen auch ein Dieb und sogar ein Mörder ehrlich sein, solange er immer offen zu seinen Überzeugungen steht.
  • Sillitoe stellt den Nutzen der staatlichen Resozialisierungsmaßnahmen infrage. Colin wird zu sehr alleingelassen. Der Direktor will den Pokal, hat aber kein persönliches Interesse an dem Jungen. Colin muss den Tod seines Vaters und seine kaum vorhandenen Karrieremöglichkeiten ohne Beistand überdenken – und entschließt sich in der Besserungsanstalt zu einer Ganovenlaufbahn.

Historischer Hintergrund

Stockender Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg

Während man in der Bundesrepublik Deutschland bereits vom Wirtschaftswunder profitierte und den Aufschwung genoss, hatte die britische Bevölkerung noch länger unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs zu leiden. Großbritannien beteiligte sich an Nahrungslieferungen in die von den Alliierten besetzten Gebiete, woraufhin im eigenen Land noch strengere Rationierungen notwendig wurden als während des Kriegs. Zucker und Süßigkeiten waren erst 1953 wieder frei erhältlich, Obstsorten wie etwa Bananen blieben auch darüber hinaus noch knapp. Die Konservative Partei unter Winston Churchill gewann in diesem Klima des allgemeinen Mangels 1951 die Wahl, indem sie die klassischen Inhalte der Arbeiterpartei übernahm. Sowohl das staatliche Gesundheitswesen als auch der soziale Wohnungsbau, beide zuvor von der Labour Party angestoßen, blieben weiterhin auf dem Programm.

Weniger Übereinstimmung herrschte auf dem Gebiet der Außenpolitik. Als im Juli 1956 der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser den bis dahin von Großbritannien mitverwalteten Suezkanal verstaatlichte, versuchte die konservative Regierung unter Churchills Nachfolger Anthony Eden, ihren Einfluss in der Region zu wahren. Durch eine militärische Intervention provozierte sie die so genannte Suezkrise. Wie sich herausstellte, besaß die ehemalige britische Weltmacht im 20. Jahrhundert jedoch nicht mehr genügend Autorität, um ohne Einverständnis der neuen Supermächte in das politische Weltgeschehen einzugreifen. Von den USA wurde der Konflikt scharf verurteilt, die UdSSR drohte gar mit der Entsendung von Truppen zur Unterstützung Ägyptens, sodass die Kampfhandlungen im November 1956 eingestellt werden mussten. Eden trat aus Schmach über den misslungenen Coup im Januar 1957 von seinen Ämtern zurück. Da die arabischen Staaten den Angriff auf Ägypten mit einem Ölboykott bestraften, verschärften sich Großbritanniens Finanzprobleme, und auch die englische Bevölkerung bekam die Folgen der Suezkrise zu spüren. Linke Politiker und Intellektuelle waren daher der Meinung, dass Großbritannien sich besser weiterhin um die Probleme im eigenen Land kümmern sollte, als der verlorenen internationalen Großmachtstellung nachzuweinen.

Entstehung

Alan Sillitoe trat 1946 der britischen Royal Air Force als Funker bei und verbrachte in ihrem Dienst zwei Jahre in Malaysia. Als er dort an Tuberkulose erkrankte, wurde er nach England zurückgeflogen und für 16 Monate in ein Armeekrankenhaus verlegt. Die Zeit im Lazarett nutzte Sillitoe für ein Literaturstudium auf eigene Faust: Er verschlang die Klassiker der Weltliteratur von der Antike bis zur Gegenwart. Mit einer Versehrtenrente im Alter von 21 Jahren entlassen, beschloss er, in Südfrankreich und Spanien zu leben, um seine Genesung abzuschließen. Er wurde auf Mallorca sesshaft, wo er bis 1958 lebte. Hier schrieb er mehrere Romane, von denen jedoch kein einziger veröffentlicht wurde – was Sillitoe nach eigenen Aussagen aber für keinen großen Verlust hielt. Schließlich erschien 1958 Samstagnacht und Sonntagmorgen, 1959 Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, die beiden Bücher, die ihn berühmt machten.

Rückblickend sagte Alan Sillitoe, seine eigenen Jugenderfahrungen hätten Pate gestanden für den Zorn von Colin Smith. Seine stärksten Erinnerungen seien jene an die ständige Sorge ums Geld, an das fehlende Essen, an die Depressionen seines Vaters und an die z. T. handgreiflichen Auseinandersetzungen seiner Eltern.

Wirkungsgeschichte

Spätestens mit der Veröffentlichung von Die Einsamkeit des Langstreckenläufers wurde Alan Sillitoe den „Angry Young Men“ zugeordnet. Der Begriff war ursprünglich geprägt worden, um den Helden in John Osbornes Theaterstück Blick zurück im Zorn zu beschreiben, bezeichnete später aber eine Gruppe von Dramatikern und Romanschriftstellern, die sich für eine realistische Darstellung von sozialer Ungerechtigkeit einsetzten und dabei Partei für die Arbeiterklasse ergriffen. Zu den „Angry Young Men“ wurden neben Sillitoe und Osborne auch der spätere Nobelpreisträger Harold Pinter und der Existenzialist Colin Wilson gezählt.

Alan Sillitoe selbst sah sich nicht als Klassenkämpfer, sondern bestand darauf, lediglich individuelle Schicksale zu schildern. Aber auch wenn er nicht zur Leitfigur des politischen Kampfs werden wollte, war seine Verbindung zu den „Angry Young Men“ zumindest auf stilistischer Seite erkennbar: Wie sie setzte er gezielt auf die Verwendung von Slang und Vulgärsprache und ließ bevorzugt unangepasste Charaktertypen auftreten.

Berühmt geworden ist die Verfilmung von Die Einsamkeit des Langstreckenläufers durch Tony Richardson mit Tom Courtenay in der Hauptrolle. Mit seiner kargen Ästhetik beeinflusste der 1962 gedrehte Film wesentlich die britische Free-Cinema-Bewegung und zog eine ganze Welle von sozial engagierten Filmen nach sich. Großen Einfluss hatte das Werk außerdem auf die deutsche 68er-Generation, bei der sowohl Film als auch Buch sehr beliebt waren.

Über den Autor

Alan Sillitoe wird am 4. März 1928 im mittelenglischen Nottingham geboren. Sein Vater ist ein zumeist arbeitsloser Gerber, der sich mit Gelegenheitsjobs vergeblich über Wasser zu halten versucht und zumindest einmal für das Anhäufen unbezahlter Rechnungen ins Gefängnis muss. Die Mutter arbeitet aushilfsweise in einer Kabelfabrik. Die Kindheit Sillitoes ist geprägt von der Armut der Familie und dem z. T. gewalttätigen Zorn des Vaters. Schon früh beginnt Sillitoe sich für Literatur zu interessieren: Vom Großvater bekommt er seinen ersten Roman geschenkt, während der Schulzeit schreibt er kleine Geschichten. Seine erste Kurzgeschichte über einen seiner Cousins wird von seiner Mutter allerdings verbrannt. Als er kein Stipendium für die High School bekommt, schließt er die Schule mit 14 ab und arbeitet in verschiedenen Fabriken in Nottingham. 1946 tritt er der Royal Air Force bei, wird als Funker nach Südostasien versetzt und kehrt nach zwei Jahren an Tuberkulose erkrankt zurück. Aus der Zeit im Lazarett stammen Sillitoes erste Gedichte und Erzählungen, die jedoch erst später veröffentlicht werden. Um 1951 lernt er die amerikanische Lyrikerin Ruth Fainlight kennen; die beiden gehen zunächst nach Südfrankreich und leben dann auf Mallorca, wo 1958 Sillitoes erster Roman Saturday Night and Sunday Morning (Samstagnacht und Sonntagmorgen) entsteht. Mit dem Erfolg des Buches und dem des Nachfolgers The Loneliness of the Long-Distance Runner (Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, 1959) entschließt sich das Paar, nach London zurückzukehren und zu heiraten. Die ersten beiden Bücher bleiben die meistgelesenen des Autors, der bis heute ungebrochen produktiv ist: Nahezu im Jahresrhythmus legt er einen neuen Roman oder Lyrikband vor. Er gilt als einer der wichtigsten englischen Erzähler der Gegenwart.

Hat Ihnen die Zusammenfassung gefallen?

Buch oder Hörbuch kaufen

Diese Zusammenfassung eines Literaturklassikers wurde von getAbstract mit Ihnen geteilt.

Wir finden, bewerten und fassen relevantes Wissen zusammen und helfen Menschen so, beruflich und privat bessere Entscheidungen zu treffen.

Für Sie

Entdecken Sie Ihr nächstes Lieblingsbuch mit getAbstract.

Zu den Preisen

Für Ihr Unternehmen

Bleiben Sie auf dem Laufenden über aktuelle Trends.

Erfahren Sie mehr

Studenten

Wir möchten #nextgenleaders unterstützen.

Preise ansehen

Sind Sie bereits Kunde? Melden Sie sich hier an.

Kommentar abgeben

Mehr zum Thema

Verwandte Kanäle