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Dichtung und Wahrheit

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Dichtung und Wahrheit

Insel Verlag,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

Ein Leben wie ein Roman: Goethes Selbstbildnis seiner Jugendjahre ist einer der Höhepunkte der autobiografischen Literatur.


Literatur­klassiker

  • Autobiografie
  • Weimarer Klassik

Worum es geht

Wie ich wurde, was ich bin

"Aus meinem Leben" lautet der eigentliche Titel dieses als Dichtung und Wahrheit bekannten Werkes: Goethes Jugenderinnerungen, an denen er erst als älterer, reifer Mann zu arbeiten begann und die ihn bis zu seinem Tod beschäftigten. Das Buch umfasst das Leben des Dichters vom Tag seiner Geburt am 28. August 1749 "mit dem Glockenschlag zwölf" bis zu seiner Abreise aus Frankfurt nach Weimar, als er 26 Jahre alt war. Der Hauptschauplatz ist Frankfurt; Studienaufenthalte führten Goethe nach Leipzig und Straßburg, zudem unternahm er einige Reisen an Rhein und Lahn und in die Schweiz. Mit dieser Schrift wollte Goethe im Alter Rechenschaft ablegen, wie er zu dem wurde, was er war. Er wollte ergründen, wie sich aus seinen persönlichen Anlagen durch Erziehung, Erlebnisse, Erfahrungen und geistige Anregungen sein Charakter gebildet hatte. In diesem Sinne schuf Goethe den Bildungsroman seiner eigenen Person. In vielfach überarbeiteter Form schildert er darin die konkrete Welt, die ihn geprägt hat: nicht chronologisch, nicht thematisch, sondern nach Möglichkeit immer "das Ganze". Das Werk ist mit Sicherheit einer der Gipfel, vielleicht sogar der Höhepunkt schlechthin der deutschsprachigen autobiografischen Literatur.

Take-aways

  • Dichtung und Wahrheit ist kein reiner Tatsachenbericht, sondern, wie der Titel schon andeutet, eine mit viel dichterischer Freiheit verfasste Autobiografie.
  • Goethe legt dar, wie seine angeborenen Anlagen in Wechselwirkung mit der Umwelt, seinen Erlebnissen und seiner Erziehung seinen Charakter geformt haben.
  • Das Buch umfasst die Zeitspanne vom Tag seiner Geburt bis zur Abreise nach Weimar, als er 26 Jahre alt ist.
  • Hauptorte von Goethes Kindheit und Jugend sind vor allem das heimatliche Frankfurt und die Studienorte Leipzig und Straßburg.
  • Goethe wächst als Kind einer angesehenen Familie der bürgerlichen Oberschicht in wohlgeordneten, vermögenden Verhältnissen auf.
  • Der gebildete, ernste und strenge Vater unterrichtet Goethe und seine Schwester größtenteils selbst.
  • Der Sohn ist schon als Junge vielseitig interessiert und begabt; vor allem sein sprachlich-dichterisches Talent zeigt sich früh.
  • Diese Vielseitigkeit führt aber auch zu Orientierungslosigkeit und geistiger Zerstreuung.
  • Der Vater besteht auf einer juristischen Ausbildung, die in Leipzig begonnen und in Straßburg erfolgreich zum Abschluss gebracht wird.
  • Goethe begegnet vielen einflussreichen Persönlichkeiten der damaligen Intellektuellenszene.
  • Seine literarischen Anfangserfolge führen schließlich zum Aufbruch nach Weimar, wo der Grundstein für die Karriere als Dichterfürst gelegt wird.
  • Goethe nahm das Werk erst mit über 60 Jahren in Angriff. Es beschäftigte ihn bis zu seinem Tod.

Zusammenfassung

Die Knabenzeit

Goethe wirft zu Beginn seiner Lebenserinnerungen einen Blick auf die astrologische Sternenkonstellation seiner Geburtsstunde, die eine glückliche gewesen sein muss, denn trotz grober Fehler der Hebamme überlebt der Kleine. Goethes Vaterhaus liegt am Hirschgraben in Frankfurt, also eher am Stadtrand der Freien Reichsstadt. Es ist stattlich, aus mehreren Gebäudeteilen zusammengefügt, hat aber noch einen mittelalterlichen Charakter. Der Vater Johann Caspar wird es in wenigen Jahren umbauen. Goethe hat eine ein Jahr ältere Schwester, Cornelia. Der Vater ist ein vermögender Mann. Er ist Jurist und geht gelegentlich anwaltlichen Tätigkeiten nach. In seiner Jugend hat er eine ausgedehnte Reise nach Italien unternommen. Stiche und Bilder von italienischen Stadt- und Landschaftsansichten zieren die Wände des Hauses, und der Vater spricht sehr oft von dem Bildungserlebnis dieser Reise. So wird ein geistiges Bild Italiens schon bei dem Knaben lebendig. Goethe und seine Schwester lernen neben Latein, Französisch und etwas Englisch auch Italienisch. Selbst in der Hausmusik, die in der Familie sehr gepflegt wird, spielen italienische Musik und italienischer Gesang eine herausragende Rolle.

„Am 28sten August 1749, mittags mit dem Glockenschlag zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich: Die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sich freundlich an, Merkur nicht widerwärtig (...)“ (S. 15)

Goethes Mutter Katharina Elisabeth ist eine geborene Textor. Ihr Vater bekleidete das Schultheißenamt; Goethes Großvater Johann Wolfgang Textor war also der Bürgermeister Frankfurts. Der Unterricht wird den Kindern im Haus erteilt, zu einem großen Teil vom Vater selbst sowie durch einen Hauslehrer. Nur während des Hausumbaus wird Goethe zeitweilig auf eine öffentliche Schule geschickt. Dies ist für ihn eine unangenehme Erfahrung, wegen der "rohen Masse von jungen Geschöpfen", gegen die er sich kaum zur Wehr zu setzen weiß. Durch den Umbau des Elternhauses, alles nach Plänen des Vaters und unter dessen direkter Aufsicht, verwandelt sich das Fachwerkhaus in ein bürgerliches Barockpalais. Die Innenausstattung ist wohldurchdacht, sehr bequem und alles ist peinlich sauber. Darauf achtet der Vater, ein ernster, ordnungsliebender Mensch, sehr.

Ein geschichtsträchtiger Ort

Frankfurt ist Krönungsstadt der deutschen Kaiser. Goethe erfährt durch Unterricht und Selbststudium sehr viel über die deutsche Geschichte. Sobald er sich als herangewachsener Junge frei bewegen kann, ist er allein oder mit Kameraden sehr viel auf den Gassen und Straßen der Stadt unterwegs. Vom dicht bebauten Römerberg mit dem Bartholomäusdom bis hinüber nach Sachsenhausen auf dem anderen Mainufer lernt er jeden Winkel kennen. Unter Schaudern durchwandelt Goethe die unvorstellbar dicht besiedelte Judengasse am östlichen Stadtende und zeigt sich immer wieder beeindruckt vom geschäftigen Handelstreiben zur Messezeit.

Friede und Unfriede

Der junge Goethe ist tief erschüttert von der Nachricht des Erdbebens und der Flutwelle, die im Jahre 1755 Lissabon zerstören. Trotz mancher kleinerer lokaler Kriege hat das Deutsche Reich, als dessen Mittelpunkt sich Frankfurt empfindet, eine lange Periode des Friedens erlebt. Das "außerordentliche Weltereignis" des zerstörerischen Erdbebens erschüttert bei vielen den behaglichen Glauben an eine von Gott geordnete Welt. Wie die meisten Frankfurter sind die Goethes überzeugte, wenn auch nicht übertrieben frömmlerische Protestanten. Schon in früher Jugend schwankt Johann Wolfgang zwischen einer skeptischen Gläubigkeit, einem Ungenügen am protestantischen Ritus und an Predigen und einer immer wieder erneuerten Hinwendung zu eigenem Bibelstudium. Er setzt sich u. a. in einem Aufsatz über die Sakramente mit der Religion auseinander. In späterer Jugend ist er einmal fast so weit, sich einer "Brudergemeinde" anzuschließen, einer protestantischen Vereinigung, die sich am Urchristentum zu orientieren versucht. Quasi in letzter Sekunde zuckt er davor zurück. Sein Bestreben geht dahin, das Eigentliche der Religion zu erfassen; immer wieder kommt ihm auch der Gedanke, dass Gott durch die Natur erfahrbar sei.

„Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige, was wir von andern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung besitzen.“ (S. 15)

Der familiäre und politische Frieden wird zeitweilig durch den Siebenjährigen Krieg beeinträchtigt, den der preußische König Friedrich II. 1756 vom Zaun bricht, indem er mit 60 000 Soldaten in Sachsen einmarschiert und Dresden teilweise zerstört. Der junge Goethe ist eindeutig "fritzisch gesinnt". Er verherrlicht den Preußenkönig als Helden, doch der Rest der Familie, vor allem die Großeltern, verspotten sein Idol, sodass Goethe das geliebte Sonntagsmahl bei ihnen verleidet wird.

Die Franzosen in Frankfurt

1759 marschieren französische Heere durch Deutschland, und Frankfurt wird ein wichtiger Stützpunkt ihrer Armee. Goethes Vater muss in seinem neuen, perfekt auf die privaten Bedürfnisse der Familie zugeschnittenen Haus die Einquartierung des französischen Armeerichters Graf Thoranc hinnehmen. Der provenzalische Adlige verhält sich zwar wie ein vollendeter Edelmann und ist bemüht, die Unannehmlichkeiten so gering wie möglich zu halten, aber Goethes Vater ist dennoch jahrelang zutiefst verbittert. Während seines Aufenthalts im Hause Goethe lernt Graf Thoranc auch eine Reihe Frankfurter und Darmstädter Maler kennen, für die er sich begeistert. Für sein Schloss in der Provence gibt er eine Fülle großformatiger Gemälde in Auftrag, vor allem Landschaftsszenen im Geschmack der Zeit, die immer wieder überarbeitet werden. Goethe nimmt daran lebhaften Anteil, sein Interesse für die Malkunst wird geweckt.

„Die Siege, die Großtaten, die Unglücksfälle, die Wiederherstellungen folgten aufeinander, verschlangen sich und schienen sich aufzuheben; immer aber schwebte die Gestalt Friedrichs, sein Name, sein Ruhm in kurzem wieder oben. Der Enthusiasmus seiner Verehrer ward immer größer und belebter, der Hass seiner Feinde bitterer (...)“ (S. 83 f.)

Zum Jüngling herangewachsen, beginnt er sich für das Theater zu interessieren und selbst erste Verse zu dichten. Diese Art von poetischer Übung ist in der damaligen Zeit bei jeder sich bietenden geselligen Gelegenheit weit verbreitet. Jede Empfindung, jedes Ereignis wird von einem Gedicht begleitet. Goethe selbst fällt schon früh auf, wie leicht und gut ihm das gelingt, vor allem auch, wenn es um die beliebten Spottreime geht.

„Aus der Ferne machte jedoch der Name Klopstock auch schon auf uns eine große Wirkung. Im Anfang wunderte man sich, wie ein so vortrefflicher Mann so wunderlich heißen könne; doch gewöhnte man sich bald daran und dachte nicht mehr an die Bedeutung dieser Silben.“ (S. 92)

Ein glanzvolles Ereignis in Goethes Jünglingsjahren bilden die Feierlichkeiten um die Krönung von Joseph II., dem Sohn der Kaiserin Maria Theresia, zum römisch-deutschen König, die Goethe als 14-Jähriger miterlebt. Mittendrin wird er unschuldig in einen Betrugsskandal verwickelt. Der Fall um einen seiner jugendlichen Freunde wird gerade in diesen Tagen gerichtlich untersucht und die peinlichen Verhöre erschüttern die Nerven des jungen Mannes derart, dass er längere Zeit krank wird. Nicht zuletzt hängt es auch mit diesem Skandal zusammen, dass er seine erste Liebe Gretchen nie wieder sieht, da sie die Stadt verlässt.

Die Studienjahre

Vom Vater bereits allgemein und in Sprachen und Rechtssachen unterrichtet, wird Goethe nun zum weiteren Studium nach Leipzig geschickt, wo schon der Vater die Universität besuchte. In Leipzig interessiert sich Goethe aber mehr für Literatur, Philosophie und Kunst und unternimmt eine Reise nach Dresden, hauptsächlich um sich in der dortigen Galerie tagelang die Werke großer italienischer Meister anzuschauen.

„Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah.“ (über die Judengasse, S. 167)

Der Galeriedirektor Adam Friedrich Oeser, "ein abgesagter Feind des Schnörkel- und Muschelwesens", weist ihn auf Johann Joachim Winckelmann hin, den für die kommende Epoche maßgebenden Klassizisten. Vor allem in seinen jungen Jahren schwankt Goethe sehr zwischen dem schriftstellerischen und dem bildenden Künstlertum, denn er besitzt auch ein Talent zum Zeichnen. Seine juristischen Bemühungen führen allerdings nicht weit und so kehrt er schließlich ins heimische Frankfurt zurück.

„Der bildende Künstler sollte sich innerhalb der Grenzen des Schönen halten, wenn dem redenden, der die Bedeutung jeder Art nicht entbehren kann, auch darüber hinauszuschweifen vergönnt wäre.“ (S. 354)

Der Vater schickt ihn nun zum weiteren Studium nach Straßburg, wo Goethe zuallererst den Dom, das Straßburger Münster, besichtigt und bewundert. Wieder betreibt er das Jurastudium eher nebenbei, bringt es aber immerhin zu einem guten Abschluss. Außerdem interessiert Goethe sich hier sehr für Medizin, hört medizinische Vorlesungen und besucht klinische Kurse. Sehr angetan ist er von der Landschaft im Elsass und in der Umgebung; eine längere Reise zu Pferde führt ihn mit Akademiekollegen bis nach Lothringen und ins Saargebiet. Dessen Berge kommen ihm zwar recht rau vor, aber von den Bergwerken ist er höchst fasziniert, vor allem vom "brennenden Berg" bei Dudweiler, wo ein in Brand geratenes Kohleflöz Rauchschwaden aufsteigen lässt.

„Nun wurde ich auf einmal durch Herder mit allem neuen Streben und mit allen den Richtungen bekannt, welche dasselbe zu nehmen schien.“ (S. 452)

Die Begegnungen mit zwei Menschen sind in der Straßburger Zeit von herausragender Bedeutung: Häufig besucht Goethe die Landpfarrerstochter Friederike Brion und ihre Eltern im benachbarten Sesenheim. Dort ist er sehr willkommen und verbringt viele gesellige Stunden im Kreis der Familie und ihrer Freunde. Diese Aufenthalte, gewürzt mit allerlei Verkleidungs- und Märchenpossen, kommen ihm wie ein Wirklichkeit gewordener Roman vor, auch wenn ihn die "entsetzlichen Rheinschnaken" dermaßen plagen, dass sie ihn an dem Gedanken zweifeln lassen, es "habe ein guter und weiser Gott die Welt erschaffen". Die Neigung zu Friederike Brion ist letztlich nicht so stark, dass er in Straßburg oder gar in Sesenheim seine Zukunft sieht.

„Ein Individuum, einzig, ausgezeichnet, wie man es nicht gesehn hat und nicht wieder sehn wird, sah ich lebendig und wirksam vor mir. Er hingegen verriet im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, dass er mich anders erwartet habe.“ (über Lavater, S. 678)

Bedeutender für seinen Werdegang ist die persönliche Bekanntschaft mit Johann Gottfried Herder, der als Prinzenerzieher nach Straßburg gekommen ist. Die lange Genesungszeit Herders nach einer missglückten Augenoperation ermöglicht Goethe ein häufiges Zusammensein mit dem Dichter und Theologen, der Goethe sehr stark beeinflusst. Schließlich kreuzen sich in Straßburg auch Goethes Wege mit denen des exzentrischen Sturm-und-Drang-Dichters J. M. R. Lenz.

Die unsteten Jahre

Am Tag seiner Promotion, dem 6. August 1771, ist Goethe fast 22 Jahre alt und weiß nicht, welche Zukunft vor ihm liegt. Seine "vielfachen Exzentritäten", die Art, wie er seine Zeit in eine Vielzahl von Tätigkeiten zersplittert, hat ihm bisher kein Ziel gewiesen. Wieder in Frankfurt, versucht er sich in einer Stellung als Rechtsreferendar am Reichskammergericht in Wetzlar. Doch dieses Gericht befindet sich wegen eines Korruptionsskandals faktisch gerade mitten in der Auflösung, bietet ihm also auch keine Perspektive. Nach einer Wanderung entlang der Lahn bis nach Koblenz beginnt er im väterlichen Haus als Anwalt zu arbeiten. Er begegnet dem durchreisenden Schweizer Philosophen Johann Caspar Lavater, der in der Stadt beinahe wie ein Messias empfangen wird. Eine Reise den Rhein entlang bringt Goethe nach Koblenz, Düsseldorf und Köln, wo ihn der noch unvollendete Dom eher deprimiert als erfreut. In Düsseldorf bewundert er in der Galerie die von ihm sehr geschätzte niederländische Malerei.

„Ich war dazu gelangt, das mir innewohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten, umso mehr, als ich darauf gewiesen war, die äußere Natur als den Gegenstand desselben anzusehen.“ (S. 748)

Zurück in Frankfurt setzt er sich wieder intensiver mit der Bibel und religiösen Fragen auseinander, es entstehen die Idee zu einer Erzählung über den "Ewigen Juden" und der Plan eines Mohammed-Dramas. Über den durchreisenden Prinzenerzieher Carl Ludwig von Knebel ergibt sich ein erster Kontakt zum weimarischen Hof und eine Bekanntschaft mit Teilen der fürstlichen Familie. Noch immer ist Goethe unschlüssig, welche berufliche Laufbahn er einschlagen soll: eine anwaltliche Tätigkeit wie vom Vater gewünscht und vorgezeichnet, wozu eine Stadt wie Frankfurt reichlich Möglichkeiten bietet? Oder eher eine literarische oder künstlerische Existenz? In dieser Zeit lernt er mit Lili Schönemann, der Tochter eines Offenbacher Bankiers, eine weitere junge Frau kennen, mit der er sich sogar verlobt, für die er sich aber letztlich auch nicht entscheiden kann.

„Man hat im Verlaufe dieses biografischen Vortrags umständlich gesehen, wie das Kind, der Knabe, der Jüngling sich auf verschiedenen Wegen dem Übersinnlichen zu nähern gesucht; erst mit Neigung nach einer natürlichen Religion hingeblickt, dann mit Liebe sich an eine positive festgeschlossen; ferner durch Zusammenziehung in sich selbst seine eignen Kräfte versucht und sich endlich dem allgemeinen Glauben freudig hingegeben.“ (S. 854)

Auf Anregung der befreundeten Grafen Stolberg und mit Unterstützung des Vaters bricht Goethe kurz entschlossen zu einer längeren Reise in die Schweiz auf. Dort werden der Rheinfall, Zürich und vor allem die Gegend rund um den Vierwaldstätter See erwandert und besichtigt, also das Wilhelm-Tell-Kernland. Auf eine Weiterreise nach Italien, die ihm vom Vater sehr nahegelegt wurde, verzichtet Goethe zu diesem Zeitpunkt. Auf der Rückreise besucht er Lavater in Zürich.

In Frankfurt wird der Kontakt zum weimarischen Hof erneuert. Goethe hat inzwischen schon einen gewissen Ruhm erlangt, als Verfasser von Werken wie Die Leiden des jungen Werther, Götz von Berlichingen, Egmont und Clavigo sowie auch aufgrund von Veröffentlichungen im Göttinger Musenalmanach, einer seinerzeit hoch angesehenen Zeitschrift. Bei Hofe wünscht man, ihn näher kennenzulernen. Diese Begegnungen verlaufen erfreulich und führen am Ende von Goethes Jugendjahren zu der entscheidenden Wende seines Lebens. Gegen den Rat seines Vaters, der prinzipiell gegen "familiare" Verbindungen zu Fürstenhöfen ist, entscheidet sich Goethe, in weimarische Dienste einzutreten.

Zum Text

Aufbau und Stil

Dichtung und Wahrheit gliedert sich in vier Teile zu jeweils fünf Büchern, sodass das Werk insgesamt 20 Bücher enthält. Diese Kapitel sind jeweils mit der Ordnungszahl (Erstes, Zweites, Drittes Buch etc.) überschrieben. Der Abschluss des einen und der Beginn des folgenden Teils bedeutet nicht zwingend einen wirklichen Handlungseinschnitt: Beispielsweise fährt Goethe im elften Buch (dem ersten Buch des dritten Teils) direkt mit der Sesenheim-Erzählung um Friederike Brion fort, wovon soeben schon im zehnten Buch die Rede war.

Interpretationsansätze

  • Dichtung und Wahrheit ist keine reine Faktensammlung, kein streng chronologischer Lebensabriss und auch kein Selbstkommentar, sondern ein mit viel künstlerischer Freiheit verfasster Roman zum Leben des Dichters.
  • Das Werk lässt sich auch als Bildungsroman lesen: Goethe möchte nachvollziehen, wie und unter welchen Einflüssen sich seine Persönlichkeit bereits in der Jugend gebildet hat. Mit Wilhelm Meisters Lehrjahre hat Goethe selbst bereits den Prototyp des Bildungsromans geschaffen - mit seinen autobiografischen Aufzeichnungen passte er sein eigenes Leben in dieses Schema hinein.
  • Für Goethe entwickelt sich jede Persönlichkeit unter dem Einfluss der Zeitumstände. Wäre er zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort geboren, wäre er ein anderer geworden.
  • Der Titel Dichtung und Wahrheit bedeutet nicht etwa, dass die Erinnerungen zur Hälfte wahr und zur Hälfte erdichtet seien. Goethe versucht vielmehr, die eigentliche Wirklichkeit der Erscheinungen zu erfassen, die Wahrheit mit den Mitteln der Dichtung darzustellen. Er will in der Erinnerung seine Jugendzeit und vor allem ihre geistigen Strömungen so abbilden, wie er sie persönlich erfahren hat. Dadurch entsteht ein höchst authentisches Bild dieser Jahre, jedoch ohne Anspruch auf absolute Korrektheit.
  • Dichtung und Wahrheit ist kein Werk aus einem Guss. Die über lange Zeiträume entstandenen Einzelteile werden aber durch das übergreifende Thema ("Aus meinem Leben") und durch Goethes meisterhafte Sprache zusammengehalten.

Historischer Hintergrund

Die Wegbereiter der deutschen Klassik

Wenn man sich eine Vorstellung von der Literatur des Spätbarock machen will, so kann man sich diese Dichtung ungefähr so denken wie eine der unzähligen Opern von Händel oder Vivaldi: mythologische Handlungen und Haupt- und Staatsaktionen mit antiken Helden, Herrschern, Rittern, Zauberern, überhöht mit göttlichen Gestalten und gewürzt mit etwas Liebeskummer. Insgesamt eine künstliche Fantasiewelt, die mit der Wirklichkeit wenig bis gar nichts gemein hatte. Gegen diese Art von Literatur wandten sich die führenden Intellektuellen der Generation vor Goethe, die fast alle Theologen waren oder eine theologische Ausbildung genossen hatten. Der älteste unter ihnen war der Schweizer Johann Jacob Bodmer. Er verfasste Stücke nach Stoffen des Alten Testaments, gab mittelalterliche Dichtung der Minnesänger und Teile des Nibelungenlieds heraus. Etwa zur gleichen Zeit wies Friedrich Gottlieb Klopstock mit seinem allseits begeistert gefeierten Epos Der Messias der deutschen Literatur einen neuen Weg, indem er sie aus formalen Zwängen befreite und mit echten Empfindungen belebte. Ein enger Vertrauter Bodmers war Johann Gottfried Herder, berühmt durch seine Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772).

Herder und seine intellektuellen Freunde glaubten, ursprüngliche, natürliche Dichtung im Volkslied, in spätmittelalterlicher Literatur und im Sagengut der Völker gefunden zu haben. Herders literarische Laufbahn führte ihn in Straßburg mit Goethe zusammen, dem er die englische Literatur nahebrachte, vor allem Shakespeare. Dessen Übersetzer Christoph Martin Wieland hatte den Briten in Deutschland bekannt gemacht. Für Shakespeare begeisterten sich nun alle. Auch Wieland stand in Kontakt mit Bodmer und wurde später als Prinzenerzieher nach Weimar berufen. Weniger durch seine Schriften denn als charismatischer Prediger erfolgreich war der Schweizer Johann Caspar Lavater. Bekannt wurde er vor allem als Verfasser der Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775-78). Lavater war ein schwärmerischer Geist, ein entschiedener Gegner der Rationalität der Aufklärung. Er und viele andere verlangten von der Dichtung echte Empfindung, poetische Eingebung, Naturgefühl, Wirklichkeitsnähe, so wie es z. B. Gotthold Ephraim Lessing mit seinen Dramen Emilia Galotti oder Minna von Barnhelm vorexerziert hatte.

Entstehung

Der Herbst 1809 gilt als die Zeit, in der Goethe mit der Abfassung von Dichtung und Wahrheit begann, dem Werk, dessen voller Titel "Aus meinem Leben. Wahrheit und Dichtung" lauten sollte. Aus Gründen des Wohlklangs hat Goethe den Titel später verändert. Die Entstehung des Buches erfolgte mit großem zeitlichen Abstand von den geschilderten Ereignissen. Goethe wollte sich als älterer, reifer Mann Rechenschaft darüber ablegen, wie er wurde, was er war, und was davon schon in frühester Lebenszeit angelegt war. Er machte sich dazu chronologische Pläne auf einzelnen Papierbögen und füllte sie nach und nach mit Text. Durch den großen Zeitabstand zwischen Bericht und Berichtetem waren nicht alle seine Erinnerungen mehr zutreffend. Goethe versuchte dem durch Quellenstudium in Dokumenten und Korrespondenzen und durch vielerlei Gespräche mit Zeugen aus dem Familien- und Freundeskreis abzuhelfen. Die Texte wurden immer wieder überarbeitet, auseinandergerissen und neu zusammengeschoben, sodass der Lektüreeindruck eines zusammengerückten Gebirges zurückbleibt. Die Veröffentlichung erfolgte ab 1811 (Erster Teil); 1812 und 1814 folgten die Teile zwei und drei, der vierte Teil blieb uneinheitlich und wurde ein Jahr nach Goethes Tod (1833) herausgegeben.

Wirkungsgeschichte

Dichtung und Wahrheit galt bis ins späte 19. Jahrhundert hinein als faktengetreues Dokument über das Leben des allseits verehrten Dichters. Dass dieser autobiografische Text in Wirklichkeit nicht nur Wahrheit, sondern auch eine Menge Dichtung enthält und mithin eine Art "Roman in eigener Sache" ist, wurde von dem Schriftsteller und Literaturhistoriker Friedrich Gundolf, herausgearbeitet. Von Goethes sonstigen Werken ist in Dichtung und Wahrheit erstaunlich wenig die Rede, denn Goethe wollte kein Selbstkommentator oder Selbststilisierer sein: Er erklärt kaum, unter welchen Umständen die einzelnen Werke entstanden sind, was bei so manchem Leser Enttäuschung hervorgerufen haben soll.

Das Werk gilt als Höhepunkt der autobiografischen Literatur. Die Autobiografie, das literarische Selbstbildnis, ist ein typisch abendländisch-neuzeitliches literarisches Genre. Goethe kannte alle zu seiner Zeit gängigen Typen wie etwa Erinnerungs- und Erlebniserzählungen, Bekenntnisse sowie Memoiren und nahm sie alle in sein Werk auf. Mag Goethes Dichtung und Wahrheit auch die berühmteste deutschsprachige Autobiografie sein, so war das Genre damit natürlich nicht abgeschlossen: Viele spätere Schriftsteller (und Politiker, Wissenschaftler etc.) haben ebenfalls ihr Leben Revue passieren lassen und sich dabei teilweise am Vorbild Goethes orientiert.

Über den Autor

Johann Wolfgang von Goethe wird am 28. August 1749 in Frankfurt am Main geboren und wächst in einer gesellschaftlich angesehenen und wohlhabenden Familie auf. Nach dem Privatunterricht im Elternhaus nimmt der inzwischen 16-Jährige auf Wunsch seines Vaters ein Jurastudium in Leipzig auf, das er 1770 in Straßburg mit dem Lizentiat beendet. Dort macht er die Bekanntschaft von Johann Gottfried Herder und verfasst erste Gedichte. In Frankfurt eröffnet Goethe eine Kanzlei, widmet sich aber vermehrt seiner Dichtung. 1774 veröffentlicht er Die Leiden des jungen Werther; einige Dramen folgen. 1775 bittet ihn der Herzog Karl August nach Weimar; Goethe macht dort eine schnelle Karriere als Staatsbeamter. Nach zehn Jahren Pflichterfüllung am Hof reist er 1786 nach Italien. Diese "italienische Reise" markiert einen Neuanfang für sein Werk. 1788 kehrt Goethe nach Weimar zurück und lernt Christiane Vulpius kennen, mit der er bis zur Heirat 1806 in "wilder Ehe" zusammenlebt. Nach anfänglichen Differenzen freundet sich Goethe 1794 mit Friedrich Schiller an, in dessen Zeitschrift Die Horen Goethe mehrere Gedichte veröffentlicht. Die beiden Dichter verbindet fortan eine enge Freundschaft, auf der die Weimarer Klassik und ihr an der griechischen Antike orientiertes Welt- und Menschenbild aufbaut. Als "Universalgenie" zeigt sich Goethe an vielen Wissenschaften interessiert: Er ist Maler, entwickelt eine Farbenlehre, stellt zoologische, mineralogische und botanische Forschungen an, wobei er die Theorie einer "Urpflanze" entwickelt. 1796 erscheint der Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1808 das Drama Faust I und 1809 der Roman Die Wahlverwandtschaften. Ab 1811 arbeitet Goethe an seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit. Kurz vor seinem Tod vollendet er Faust II. Am 22. März 1832 stirbt Goethe im Alter von 83 Jahren in Weimar. Er gilt bis zum heutigen Tag als der wichtigste Dichter der deutschen Literatur. Seine lyrischen Werke, Dramen und Romane liegen als Übersetzungen in allen Weltsprachen vor.

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    L. H. vor 9 Jahren
    Goethes Vita hat viele andere angeregt, z.B. Thomas Mann. Auch die Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters wurde durch Goethe beeinflusst. Kenner betonen, dass die deutsche Sprache der Goethezeit qualitativ einzigartig war. Autobiografien sind der selektiven Erinnerung ihrer Verfasser unterworfen. Vieles wird falsch erinnert. Im Fall eines einzigartigen Dichters wie Goethe finde ich das weniger gewichtig als bei bedeutenden Politikern wie z.B. Bismarck oder Churchill.