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Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

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Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Suhrkamp,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

Rilkes einziger Roman ist ein Paradebeispiel für die Prosa der Moderne: rätselhaft, nach innen gewandt, symbolisch.

Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Ein Däne in Paris

Es ist ein seltsamer Roman, den der eher als Lyriker bekannte Rainer Maria Rilke der Nachwelt hinterlassen hat. Sein Held ist der junge Däne Malte Laurids Brigge, der sich nach dem Zerfall seiner adeligen Familie in die Metropole Paris aufgemacht hat, um seiner schriftstellerischen Arbeit neue Impulse zu geben. Doch in der Stadt an der Seine findet er vor allem den Moloch, in dem es von Krankheit und Tod, Armut und Aussatz nur so wimmelt. Malte ist hin- und hergerissen zwischen seinen Erinnerungen an die eigene Kindheit, die bereits von Erfahrungen mit dem Tod und teilweise unheimlichen Ereignissen überschattet wurde, und seiner Verarbeitung der rauen Pariser Wirklichkeit. Maltes Aufzeichnungen behandeln besondere Vorkommnisse seines Lebens ebenso wie Reflektionen über gelesene Bücher; sie handeln von der Liebe, von der Angst, ausgestoßen zu sein, und der Suche nach Gott. Rilke schreibt sprunghaft und wechselt häufig die Themen, die im Tagebuchstil so schnell auf den Leser einströmen, dass er oft gar nicht weiß, wo er sich gerade befindet. Die vielen Andeutungen und Symbole machen das Buch zu einer tiefgründigen, aber auch ziemlich schwierigen Lektüre.

Take-aways

  • Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ist der einzige Roman des Dichters Rainer Maria Rilke.
  • Das Werk ist eine Art Tagebuchroman, dessen Ich-Erzähler der 28-jährige Malte Laurids Brigge ist.
  • Malte ist ein verwaister dänischer Adeliger, der zu Beginn seiner Aufzeichnungen nach Paris reist.
  • Die insgesamt 71 Abschnitte des Romans besitzen vordergründig keinen roten Faden, bilden aber ein Netz von Verweisen.
  • Zu den immer wiederkehrenden Themen gehören Erinnerungen an die Kindheit, an Familienfeiern und einzelne Familienmitglieder.
  • Ein Großteil der Aufzeichnungen besteht aus Beobachtungen, die Malte in Paris macht, beispielsweise bei seiner Lektüre in der Nationalbibliothek.
  • Die Themen Krankheit und Tod sind Leitmotive, die sich durch das ganze Buch ziehen.
  • Ein weiterer wichtiger Themenkomplex der Aufzeichnungen besteht im Wesentlichen aus Maltes Betrachtungen zu einigen obskuren historischen Persönlichkeiten.
  • Eine Umdeutung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn bildet den Abschluss.
  • Obwohl mehrere Indizien dafür sprechen, wehrte sich Rilke gegen eine autobiografische Auslegung seines Romans.
  • Die Aufzeichnungen erschienen lange als Stiefkind im vorwiegend lyrischen Werk Rilkes.
  • Heute werden sie als epochemachende Prosa der literarischen Moderne gewürdigt.

Zusammenfassung

In Paris

Der 28-jährige Däne Malte Laurids Brigge beginnt seine Aufzeichnungen am 11. September in der Rue Toullier in Paris. Die Stadt riecht nach Desinfektionsmittel, Frittierfett und Angst. Überall begegnet Malte der Tod. Er sieht ein Baby mit einem grünlichen Ausschlag in einem Kinderwagen und eine Frau, die gebrechlich an einer Wand lehnt. Die Geräusche der Stadt sind seltsam: Quer durch sein Zimmer fährt "die Elektrische", so kommt es Malte vor, wenn er nachts das Fenster öffnet. Doch noch unheimlicher ist die Stille, wenn man gar nichts hören kann. Malte macht sich Gedanken über den Tod: In den Hospitälern wird ja gewissermaßen gewerbsmäßig gestorben. Aber nicht jeder kann sich einen passenden, glamourösen Tod aussuchen, wie die Reichen. Die Armen müssen sich den Tod nehmen, der gerade da ist, auch wenn er ihnen manchmal nicht recht passt. Wie war es denn mit dem Tod von Maltes Großvater, Christoph Detlev Brigge, dem alten Kammerherrn auf Ulsgaard, dem Stammsitz der Familie? Zehn Wochen wollte der Tod bleiben und zehn Wochen schrie er jede Nacht aus dem Kammerherrn, bis er endlich sein Werk vollendet hatte. Jetzt wohnen fremde Leute auf dem Gut. Malte bedauert, dass er ohne Erbe durch die Welt reist, nur mit einem Koffer voller Bücher. Langsam sollte er anfangen, etwas zu arbeiten, sprich: etwas zu schreiben. Eine Studie über den Maler Carpaccio, ein Drama und ein paar Verse hat er geschrieben und findet alles herzlich schlecht. Verse sollte man überhaupt erst dann schreiben, wenn man alt und erfahren ist. Denn nicht Sinneseindrücke und Gefühle, sondern Erfahrung machen gute Verse aus.

Geister der Erinnerung

Die Erinnerung an die Kindheit kehrt zurück. Malte wurde, zwölf oder dreizehn Jahre alt, nach dem Tod der Mutter von seinem Vater auf das Anwesen des Schwiegervaters mitgenommen. Der Graf Brahe hatte ein verwinkeltes Schloss mit hohen Decken, die Malte anfangs große Angst einflössten. Er gewöhnte sich aber schnell daran, wie auch an das zweistündige gemeinsame Mahl mit der Familie. Da war zunächst einmal der Oheim mit dem durch Pulverrauch verbrannten Gesicht, der nach seinem Abschied vom Militär alchemistische Experimente durchführte. Mathilde war eine entfernte Cousine der Mutter, die von unbestimmbarem Alter war und deren Gesichtszüge trug. Auch sie hatte einen Spleen und korrespondierte regelmäßig mit einem österreichischen Spiritisten. Außerdem gab es noch den blassen und schielenden Knaben Erik, Maltes Vetter, und den greisen, herrischen Großvater. Letzterer hatte die Eigenart, dass er von längst Verstorbenen so sprach, als seien diese noch lebendig. Seltsame Dinge ereigneten sich auf dem Schloss: Es kam sogar zu einer Geistererscheinung der lange verstorbenen Christine Brahe, die alle Anwesenden in großen Aufruhr versetzte - bis auf den kleinen Malte, der damals noch nicht wusste, dass die weiße Frau, die plötzlich durch den Raum schwebte, gar nicht mehr am Leben war.

Die Fortgeworfenen

In der Pariser Nationalbibliothek fühlt sich Malte sicher. Als Lesender unter Lesenden gehört er dazu. Nicht dazugehörig fühlt er sich zu den Menschen auf der Straße, den "Fortgeworfenen", den Bettlern und vom Leben ausgespienen Individuen. Insgeheim ahnt er, dass er aber nicht besser ist als sie, und er glaubt auch, dass sie das wissen. Im Grunde genommen geht es ihm wie ihnen: Seine Habseligkeiten musste er in einer feuchten Scheune unterstellen und er lebt nun genauso frei und bindungslos wie diese Menschen. Ein Dichter wollte er werden, hätte man ihm nur die Möglichkeit dazu gegeben. In der Nationalbibliothek benötigt man eine Karte, um eingelassen zu werden. Die immerhin hat er den "Fortgeworfenen" voraus. In den Straßen der Stadt besieht sich Malte die alten, zerfallenen Häuser und malt sich aus, wie sie einst ausgesehen haben. Die vergammelten Wandtapeten, die gelblich, grünlich, grau glitzernden Farbreste, der Firnis aus Moder und Spinnweben kommen Malte so bekannt vor. Er findet diese Dinge wieder in seiner Erinnerung. Das macht ihm Angst und er rennt fort.

Krankheit und Ekel

Wäre Malte nicht so arm und mittellos, würde er sich neue Möbel kaufen und einen Ofen, der nicht qualmt. Sein gebrauchter Lehnstuhl hat schon eine schmierig graue Mulde von den unzähligen Hinterköpfen, denen er ein Ruhepolster war. Wenn Malte das Feuer schürt, das schlechte Holz wendet und dabei angespannt in die Hitze stiert, nimmt ihm das die ganze Kraft für den Tag. Malte hat Fieber, es schüttelt ihn. Der Besuch beim Arzt ist ein frustrierendes Erlebnis. Gehört er nun doch schon zu den "Fortgeworfenen"? Oder wie ist es zu erklären, dass er unter erbärmlichen Umständen mit einer widerlichen Masse von Kranken stundenlang auf einem muffigen Gang auf den Arzt warten muss? Das Öffnen der Türen ist verboten, das Öffnen des Fensters auch und das Herumgehen auf dem Gang ebenso. Die Ärzte sind stumm und sagen nicht, was Sache ist. Zurück auf der Straße folgt Malte einem Mann, der alle paar Minuten hüpfende Bewegungen vollführt, so als ob er über einen Stein stolpern würde. In der Bibliothek sinniert Malte über den Dichter, den er liest, über dessen Wünsche und Ziele und dessen Mühe, sein Werk zu vollenden.

Die unheimliche Hand

Malte denkt an seine Mutter, die er Maman nannte. Seine Erinnerung ist nur schwach. Als Maman dahinsiechte, machte sie keinen Hehl daraus, dass sie sich nach dem Tod sehnte. Sie war manchmal recht seltsam. So schaute sie z. B. immer in alle Schubladen ihres Sekretärs, so als ob es da noch etwas geben würde, das ganz überraschend herausspringen wollte. So eigensinnig war sie aber erst nach dem Tod ihrer Schwester Ingeborg geworden, die verbrannt war. Maman erzählte Malte von einem seltsamen Ereignis: Kurz nach ihrem Tod war Ingeborg als Geist erneut erschienen. Malte selbst hatte als kleines Kind ein ähnlich unheimliches Erlebnis: Er saß auf einem Sessel und malte ein Bild, wobei ihm einer seiner Buntstifte fortrollte und auf dem Boden in einem plüschigen Teppich verschwand. Umständlich kroch Malte von seinem "Hochsitz" herab und tastete den Boden ab. Plötzlich bemerkte er, dass sich von der gegenüberliegenden Wand eine fremde, hagere Hand näherte, die, ebenfalls tastend, ihm entgegenkam. Vom Entsetzen gepackt flüchtete er auf den Stuhl zurück. Im Nachhinein wird er sich klar darüber, dass er solche Ereignisse niemandem erzählen kann, dass sie nur für einen Menschen gemeint und nur von einem verstanden werden können.

Maskeraden der Erinnerung

Malte erinnert sich, wie er als Kind krank war. Es waren verschlafene Vormittage, ewig lange Nachmittage und durchwachte Nächte. Maman hatte sich immer eine Tochter gewünscht, und so spielten sie und Malte oft, dass er ein kleines Mädchen sei: mit Puppenkleidern angetan und hoher Mädchenstimme. Verkleidungen mochte Malte sowieso. Einmal kostümierte er sich in einem abgelegenen Zimmer mit Maske und alten Kleidern - und erschrak danach vor dem großen Spiegel. Es war ihm fast so, als hätte der Spiegel die Wirklichkeit und ihr Abbild vertauscht. Als die Bediensteten den kleinen Malte in Panik vorfanden, lachten sie herzlich über die Maskerade und der Junge selbst fiel in Ohnmacht. Malte erinnert sich auch an das unheimliche Erlebnis, als er mit einer Kerze in der Hand die Galerie entlangschritt und ihm sein Vetter, der kleine Erik, entgegenkam und die Kerze auspustete. Die Erinnerungen gehen noch weiter zurück zu Maltes Großmutter Margarete Brigge, die die eigentliche Herrin des Familiensitzes Ulsgaard war. Sie war eine verschrobene, äußerlich kalte Frau, die es nicht ertragen konnte, wenn jemand in ihrem Haushalt erkrankte, weil sie nicht an das Kranksein erinnert werden wollte. Auch den frühen Tod von Maltes Mutter empfand sie als Affront.

„So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.“ (Paris, S. 7)

Jahre nach dem Tod der Mutter wurde für Malte Abelone immer wichtiger, die Schwester seiner Mutter. Sie schrieben sich, als er auf die Adelsakademie ging. Es entspann sich eine Liebelei und Malte stellt sich nun vor, dass er mit ihr die illustrierten Wandteppiche im Pariser Cluny-Museum besichtigt. Abelone berichtete Malte, wie sie die Memoiren ihres Vaters, des Grafen Brahe, hatte aufschreiben müssen. Der Graf war ein guter, aber ungeduldiger Erzähler, das Schreiben ging ihm nicht schnell genug. Manche Worte konnte Abelone auch nicht schreiben, so wie "Eckernförde" oder "Stigmata". Dann geriet der Graf in Rage.

Der Tod des Vaters

Malte erinnert sich an den Tod des eigenen Vaters: Er lag damals aufgebahrt in der von ihm bewohnten Etagenwohnung. Das Anwesen Ulsgaard war schon in fremden Händen und Malte hatte im Ausland den Tod des Vaters verpasst. Er war anwesend, als die Doktoren kamen, um den Herzstich vorzunehmen. Beim Durchsehen und Verbrennen der alten Briefe und Fotografien des Vaters stieß Malte dann auf ein verwittertes Papier, das die letzten Worte König Christians IV. von Dänemark und dessen Todesangst enthielten. Auch Malte selbst hat diese schon gefühlt, vor allem in großen Städten, wenn Menschen vor seinen Augen starben.

Der passende Deckel

Malte ist zufrieden mit sich, weil er jetzt endlich sehr produktiv ist. Allerdings muss er sich dazu zwingen, nach Hause zurückzukehren, wenn er unterwegs ist, die vielen Zerstreuungen abzuschalten und sich auf seine Schriftstellerei zu konzentrieren. Er erinnert sich an die verschiedenen Nachbarn, die er in seinem Leben schon hatte, z. B. bei seinem Aufenthalt in St. Petersburg. Bei einem Nachbarn in Paris hört Malte den von einer Büchse herunterspringenden Deckel, der über den Boden rollt und dabei einen enormen Krach macht. Malte vergleicht diesen Deckel und seine Büchse mit den Menschen und ihren Beschäftigungen: Weil sie meist nicht zueinanderpassen, versuchen sich die meisten Menschen von ihren Beschäftigungen zu lösen, sie eiern herum und suchen den Lärm und die Zerstreuung. Malte kommt ein kleines grünes Buch aus seinen Kindertagen in den Sinn, in dem er früher herumgeblättert hat. Er erinnert sich an zwei Geschichten daraus. Die eine handelt von Grischa Otrepjow, dem falschen Zar, der ein unrühmliches Ende fand und vom Volk drei Tage lang zerfetzt wurde. Die andere Geschichte handelt vom Untergang Karls des Kühnen: Der Herzog von Burgund starb am 5. Januar 1477 in der Schlacht von Nancy. Seine Leiche wurde erst am 7. Januar gefunden, sodass man ihn am Dreikönigstag suchte und noch am Leben wähnte.

Könige und Päpste

Zu viele Bücher: Malte gesteht sich ein, dass er mit dem Lesen nicht zurechtkommt. Wenn er in der Bibliothek ist, liest er ohne Konzept. Er stößt immer wieder auf Bücher, die er längst hätte lesen müssen, und auf solche, für die er noch nicht bereit ist. Abelone hat er einmal im Gartenhaus einen Briefwechsel vorgelesen, und sie hat ihn dabei ermahnt, nur die Briefe einer gewissen Bettine, nicht aber die Antwortbriefe zu lesen. Wieder denkt Malte an die Armen in den Straßen von Paris, die dort in den Winkeln der Stadt stehen, als seien sie hineinbetoniert. Sie sind Ewige. Sie sind immer da. Sie warten. Lieb haben kann sie nur Jesus. Dieser Gedanke erinnert Malte an König Karl VI. von Frankreich, den er als kranken und wahnsinnigen Mann beschreibt, der aber dennoch vom Volk geliebt wurde. Auch über den Papst Johannes XXII., der einer der Päpste im Exil in Avignon war, denkt Malte nach: Der Papst behauptete, dass mit der Erlösung des Menschen und der Seligkeit nicht vor dem Jüngsten Gericht zu rechnen sei - damit verneinte er die Vorstellung, dass alles nach dem Tode besser werde. Der Papst widerrief seine Meinung jedoch später.

Der verlorene Sohn

Die Erinnerung an eine Nacht, in der Malte als Kind gegen einen Mann lief, der ihm daraufhin zornig mit der Faust drohte, statt ihn zu trösten, vergegenwärtigt ihm, dass die Welt schlecht ist. Nichts wird vergeben, der Bruder trachtet dem Bruder nach dem Leben, jeder kann ein Mörder sein in dieser schweren, mühseligen Zeit. Wie kann man sich dieser fatalen Brutalität entziehen? Die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn betrachtet Malte als Legende eines Menschen, der nicht geliebt werden wollte: Als Kind spürt dieser Sohn die Liebe seiner Familie. Als Heranwachsender merkt er, dass in der liebenden Beobachtung auch Teilnahme, Erwartungen und Besorgtheit liegen, denen er entrinnen will. Er kann nicht in die Nähe des Hauses kommen, ohne beäugt, nicht die Stube betreten, ohne von der ganzen Familie gleichsam ins Rampenlicht gestellt zu werden. Er läuft von zu Hause fort und freut sich daran, allein zu sein, seiner Wege zu gehen und in der Fantasie alles zu sein, was er will, vor allem aber: nicht zu lieben und nicht geliebt zu werden. Er versucht, sich Gott zu nähern, aber vergisst ihn bei dieser harten Aufgabe beinahe. Nach vielen Jahren kehrt er zu den Seinen zurück, fleht sie an, ihn nicht zu lieben. Sie nehmen ihn wieder auf, missdeuten sein Flehen und beantworten es mit Verzeihen. Doch nun ist er gereift und weiß, dass ihre Liebe unmöglich ihm gelten kann. Er kann nur noch schwer geliebt werden. Hier brechen die Aufzeichnungen Maltes ab.

Zum Text

Aufbau und Stil

Rilke schreibt aus der Perspektive des 28-jährigen Dänen Malte, der sich nach Paris aufgemacht hat. Der Roman wirkt auf den Leser fragmentarisch, dennoch lassen sich drei große Themenkomplexe herausdestillieren: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge drehen sich zum einen um Beobachtungen des Pariser Lebens, zum anderen um Maltes sehr ausführliche Kindheitserinnerungen und drittens um einige Darstellungen großer Persönlichkeiten. Die insgesamt 71 Abschnitte des Buches folgen keinem erkennbaren roten Faden, sondern bilden vielmehr ein dichtes Netz aus Korrespondenzen und miteinander verschränkten Bezügen. Manche Literaturwissenschaftler tun sich mit der Zuordnung des Werkes zu einer Gattung schwer; von "Prosagedicht" bis "Tagebuchroman" reichen die Vorschläge. Rilke selbst sprach von "ungeordneten Papieren". Die Auflösung traditioneller Erzählmuster macht aus dem Roman ein typisches Werk der Moderne: Die auf der inhaltlichen Ebene beschriebene Zerrüttung des Individuums wird so auch formal durchgeführt. Viele Passagen lesen sich wie Gedichte in Prosa: Sie sind in sich geschlossen und von einer Sprachgewalt und -fülle, die den unvorbereiteten Leser verwirren mag. Bemerkenswert sind Maltes geradezu minutiöse Beobachtungen: Ob es nun seine Erinnerungen an Kleinkinderlebnisse sind oder die Beschreibung eines hüpfenden Mannes in den Straßen von Paris: Immer sind sie reich an Details über jede Handhaltung, Bewegung oder Perspektive.

Interpretationsansätze

  • Zu den immer wiederkehrenden Themen in den Aufzeichnungen gehören Krankheit und Tod, die Malte in Paris vor allem in Gestalt der "Fortgeworfenen" gegenübertreten, die aber auch in der Darstellung historischer Persönlichkeiten und in der Auswahl seiner Kindheitserinnerungen vorherrschen: Bei Letzteren geht es meist um die Sterbestunden seiner Familienmitglieder.
  • Die vielleicht wichtigste der vielen von Malte angeführten Erzählungen ist die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn, der in die Fremde strebt, dort Unglück erleidet und reumütig zu seinem Vater zurückkehrt. Rilke gibt der vertrauten Geschichte jedoch eine neuartige Wendung: Der verlorene Sohn ist hier einer, der sich aus allen familiären Bindungen zu lösen versucht und am Ende nur noch von Gott geliebt werden kann - "der aber wollte noch nicht". Das biblische Gleichnis wird so umgedeutet, dass es zur Lebenssituation des Malte Laurids Brigge passt.
  • Der Roman ist reich an Andeutungen, Symbolen und Verweisen auf die Literatur und die bildenden Künste. Er setzt darum viel Hintergrundwissen beim Leser voraus, wenn die Lektüre ein Genuss werden soll.
  • Viele Elemente des Romans sind autobiografisch angehaucht: Rilke schrieb unter dem Eindruck seines ersten Aufenthalts in Paris, doch auch Erinnerungen an seine Kindheit in Prag, an eine Reise nach Skandinavien sowie natürlich seine Lektüreerfahrungen spiegeln sich in dem Buch wider.
  • Der Roman ist antirealistisch in dem Sinn, dass hier nicht mehr auf herkömmliche Art und Weise erzählt wird. "Dass man erzählte, wirklich erzählte, das muss vor meiner Zeit gewesen sein", heißt es im Buch. Es gibt keine kontinuierliche Handlung, und die gewohnte lineare Zeitstruktur wird aufgelöst: In Maltes Aufzeichnungen scheinen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen gegenwärtig zu sein.

Historischer Hintergrund

Paris um 1900

Paris war die Metropole des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Um 1900 war es erst rund 50 Jahre her, dass die Stadt komplett umgestaltet worden war: Unter Napoleon III. und dem Städteplaner Baron Georges-Eugène Haussmann entstanden viele der heute noch die Stadt prägenden Bauwerke: der Arc de Triomphe, die Opéra Garnier, der Place de l’Étoile und die breiten Boulevards. Das heutige Wahrzeichen der Stadt, der Eiffelturm, entstand anlässlich der Weltausstellung 1889 - immerhin schon die vierte in Paris, was die Bedeutung der Stadt als Zentrum der Kultur, Politik und Industrialisierung unterstrich. Um 1900 war Paris eine der größten Industriemetropolen mit fast drei Millionen Einwohnern in der Kernstadt und einer weiteren Million in der Agglomeration.

Allerdings war die Infrastruktur mit so vielen Menschen überfordert: Wohnungsnot machte sich breit, der Verkehr wurde zum Problem und die Gesundheitsversorgung war miserabel. Die Menschen drängten sich auf engstem Raum, die Häuser waren in erbärmlichem Zustand: undicht, faulig, stinkend und feucht. Slums bildeten sich, und Krankheiten wie Masern, Typhus oder Tuberkulose grassierten. Der Eindruck von Paris, wie er auch in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge nachzulesen ist, war der einer Stadt der Hospitäler, wo Krankheit und Tod an allen Straßenecken lauerten. Doch nach der Jahrhundertwende vollzog sich ein großer Aufschwung: Die Industrie prosperierte, nach und nach wurden die Häuser an die Kanalisation angeschlossen, die Müllbeseitigung wurde ernst genommen, die Gesundheitsversorgung verbessert und in der so genannten Belle Epoque entstanden einige der prächtigsten Bauten in der Stadtgeschichte.

Entstehung

Nach seinem ersten Aufenthalt in der französischen Hauptstadt 1902/03 arbeitete Rilke von 1904 bis 1910 in Rom und Paris mit Unterbrechungen an den Aufzeichnungen. Über die eigentliche Schaffensperiode ist wenig bekannt. Aus früheren Fassungen im Nachlass des Dichters lässt sich schließen, dass er zunächst neben der Figur des Malte noch einen anderen Erzähler verwendete. Die Ähnlichkeiten von Maltes Erlebnissen in Paris mit Rilkes eigenen legen die Vermutung nahe, Malte könnte Rilkes Alter Ego sein. Allerdings wehrte sich der Autor gegen den Versuch, von seinem fiktiven Helden auf ihn selbst zu schließen. Einige Literaturwissenschaftler vermuten, dass gerade die Vehemenz, mit der Rilke seine Ähnlichkeit mit Malte ablehnte, für diese spreche. Als Rilke mit dem Roman fertig war, schrieb er an seine Vertraute Lou Andreas-Salomé: "Vielleicht musste dieses Buch geschrieben sein, wie man eine Mine anzündet; vielleicht hätte ich ganz weit wegspringen müssen im Moment, da es fertig war."

Wirkungsgeschichte

"Dieses Buch ist hinzunehmen, nicht im Einzelnen aufzufassen. Nur so kommt alles zu seiner rechten Betonung und Überschneidung. (...) Fragmentarisch haben alle diese Episoden ihre Aufgabe, sich innerhalb des Malte mosaikhaft zu ergänzen." So formulierte Rilke in einem Brief die Komposition und sein Werkverständnis der Aufzeichnungen. Bedingt durch die Komplexität und die ungewöhnliche Form stieß der Roman zunächst nicht auf besonders viele Freunde. Er wurde zwar von den zeitgenössischen Kritikern durchaus gelobt, aber letztlich verschwand er doch hinter den viel populäreren Gedichtbänden Rilkes. 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung näherte sich die Literaturwissenschaft Rilkes Roman und entdeckte ihn neu. In einigen Arbeiten über den modernen Roman wurden Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge als epochemachend eingestuft.

Tagebuchromane in ähnlicher Manier gibt es seither in unterschiedlichen Ausprägungen. Zu den bekanntesten gehören Stiller (1954) und Homo faber (1957) von Max Frisch oder die Jahrestage (1970-1983) von Uwe Johnson. Allerdings unterscheiden sich die verwendeten literarischen Techniken teilweise deutlich von denen Rilkes. Einige Literaturwissenschaftler vertreten deshalb die Meinung, dass die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge in der Geschichte des deutschen Romans bisher ohne Nachfolger geblieben sind.

Über den Autor

Rainer Maria Rilke gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichtern. Insbesondere seine Lyrik hat ihn berühmt gemacht. Er wird am 4. Dezember 1875 in Prag geboren, als einziger Sohn des Beamten Josef und der Kaufmannstochter Sophie Rilke. Seine Mutter hat sich immer ein Mädchen gewünscht, und so muss der kleine Rainer Maria diese Rolle übernehmen: Er wird zeitweise als Mädchen erzogen und muss entsprechende Frisuren und Kleider tragen. Nach der Trennung der Eltern im Jahr 1884 schickt ihn der Vater auf die Militärschule, wo der empfindsame Junge unter dem Druck und den Zwängen sehr leidet. Ab 1891 besucht er die Linzer Handelsakademie und schreibt erste Gedichte. 1895 beginnt er ein Studium der Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte in Prag, das er später in München und Berlin fortsetzt. Prägend für Rilkes Leben sind die Philosophie Friedrich Nietzsches sowie seine Reisen, die ihn ab 1899 unter anderem nach Russland, Italien, Spanien, Dänemark und in die Schweiz führen. In der Künstlerkolonie Worpswede lernt Rilke die Bildhauerin Clara Westhoff kennen, mit der er 1901 eine Familie gründet. Doch schon ein Jahr nach der Hochzeit und der Geburt der gemeinsamen Tochter zerbricht dieses Familienmodell. Fluchtartig verlässt Rilke Worpswede in Richtung Paris, wo er die folgenden Jahre überwiegend lebt. Die Freundschaft mit dem Bildhauer Auguste Rodin hat einen großen Einfluss auf Rilkes Werk (darunter Neue Gedichte, 1907). Das Leben in der Metropole Paris spiegelt sich in seinem Stunden-Buch (1905) und dem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) wider. Ab 1912 erlangt sein 1899 verfasstes Frühwerk Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke große Bekanntheit und hohe Auflagen. Nach dem Ersten Weltkrieg, während dem Rilke hauptsächlich in München lebte, siedelt er 1919 in die Schweiz über. In der Nähe von Siders im Kanton Wallis vollendet er zwei seiner poetischen Meisterwerke: die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus (1923). Nach mehreren Kuraufenthalten stirbt Rilke am 29. Dezember 1926 im Sanatorium von Valmont bei Montreux.

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