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Der Liebhaber

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Der Liebhaber

Suhrkamp,

15 min read
12 take-aways
Text available

What's inside?

Die empörende Liebesbeziehung zwischen einem jungen Mädchen und einem reichen Chinesen. Ein Bestseller und moderner Klassiker.

Literatur­klassiker

  • Liebesroman
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Die Geschichte einer französischen Lolita

Diese wohl legendärste Amour fou der Weltliteratur sorgte bei ihrer Veröffentlichung zunächst für Empörung, um nur wenig später mit Frankreichs bedeutendstem Literaturpreis ausgezeichnet zu werden. Die Ich-Erzählerin träumt sich in diesem autobiografisch geprägten Roman zurück in ihre Jugend in Indochina, erinnert sich dabei an die qualvolle Enge in der vaterlosen Familie, an die verhängnisvolle Beziehung ihrer Brüder zueinander und an ihre manisch-depressive Mutter. Einziger Lichtblick und Ausweg aus diesem familiären Gefängnis scheint die exotische Beziehung zu einem chinesischen Millionärssohn, der fast doppelt so alt ist wie sie. Mit Lust gibt sie sich ihm hin, genießt dabei auch den Skandal und das Urteil, dass sie lediglich eine billige, kleine Prostituierte sei. Die Brüder wissen den Reichtum des Chinesen für sich zu nutzen, und das Mädchen lässt sie gewähren, ja es macht sich sogar vor, dass sie den Chinesen nur des Geldes wegen liebe. Erst auf der Rückfahrt nach Frankreich - die wegen des Skandals unvermeidlich ist - wird ihr bewusst, dass sie den Chinesen wirklich geliebt hat. Marguerite Duras ist mit diesem Buch einer der bewegendsten Liebesromane aller Zeiten gelungen.

Take-aways

  • Der Liebhaber gilt als der am stärksten autobiografisch geprägte Roman von Marguerite Duras. Sie schrieb ihn im Alter von 70 Jahren.
  • Fernöstliche Exotik und das Thema des sexuellen Erwachens machen das Geheimnis dieses literarischen Erfolgs aus.
  • Ein junges französisches Mädchen in Indochina, die Ich-Erzählerin des Romans, wird die Geliebte eines fast doppelt so alten, reichen Chinesen.
  • In ihrer Familie erlebt die Erzählerin die Hölle auf Erden: die Mutter manisch-depressiv, der ältere Bruder brutal, der jüngere ein Gehetzter.
  • Die Mutter setzt große Hoffnungen in ihre Kinder, sie liebt den älteren Sohn abgöttisch, vernachlässigt darüber jedoch die anderen beiden.
  • Ihr ganzes Geld steckt sie in Ländereien, doch als sie mit dem Erwerb unfruchtbaren Landes betrogen wird, fällt sie in tiefe Verzweiflung; die Familie ist finanziell ruiniert.
  • Die Liaison mit dem reichen Chinesen bringt der Tochter nicht nur finanzielle Vorteile, sondern hilft ihr auch, sich von ihrer Familie zu lösen.
  • Der chinesische Liebhaber unterwirft sich dem väterlichen Verdikt, die "kleine weiße Hure" nicht zu heiraten.
  • Die Beziehung der Französin zu dem Chinesen wird von der weißen Gesellschaft in Indochina nicht goutiert, die Geschichte gerät zum Skandal.
  • Die heuchlerische Kolonialgesellschaft mit ihrem übertriebenen Patriotismus und ihren Konventionen erscheint den Liebenden wie ein Käfig.
  • Die Erzählerin muss Indochina verlassen, weil sie aufgrund ihrer Liebe zu dem Chinesen in der Kolonie keine Zukunft hat.
  • Die Autorin erhielt für den Roman den bedeutendsten französischen Literaturpreis. 1991 wurde das Buch von Jean-Jacques Annaud verfilmt.

Zusammenfassung

Leben in der Kolonie

Als der Vater der Erzählerin noch lebte, wohnte die Familie in einem ehemaligen Palast des Königs von Kambodscha in Phnom Penh. Dort blieb die Familie auch, als der Vater erkrankte und nach Frankreich zurückkehrte. Seit seinem Tod zieht die Familie durchs Land und lebt dort, wo die Mutter als Lehrerin gerade Arbeit findet. Finanziell sind Mutter und Kinder nicht sonderlich gut gestellt, die Familie befindet sich auf der untersten Stufe der französischen Kolonialgesellschaft in Indochina. Das Leben in der Kolonie ist vom Warten geprägt, vor allem die Frauen widmen sich ganz der Erhaltung ihrer selbst. Das Leben auf den so genannten Außenstationen ist unerträglich, es herrschen Angst und Ungewissheit: Einige Frauen verfallen dem Wahnsinn, andere werden wegen einer jüngeren einheimischen Geliebten sitzen gelassen, wieder andere bringen sich um. Dennoch sind Mutter und Tochter diesem Leben und besonders dem Klima verfallen: Sie lieben die lauen Nächte und fahren in seltenen glücklichen Momenten gemeinsam hinaus aufs Land, um sich in das Blau des Himmels zu versenken.

Die Familie

Im Schatten des älteren Bruders, der von der Mutter abgöttisch geliebt wird, wachsen die Tochter und der jüngere Bruder auf. Einen tödlichen Hass hegen die beiden Jüngeren gegen den Älteren, der ihnen die Liebe der Mutter stiehlt. Er ist wie angetrieben von einer animalischen Kraft, einem Zerstörungstrieb, er ängstigt seinen kleinen Bruder und schlägt ihn oft grundlos. Auch bestiehlt er seine Mutter und die Bediensteten, ja versucht sogar, die loyalste Dienstbotin zu vergewaltigen, kann aber immer mit der Nachsicht der Mutter rechnen. Der Brutalität des Älteren steht die Machtlosigkeit des Jüngeren gegenüber. Die Schwester ist das verbindende Element, und nur sie wagt ab und zu ein Widerwort. Wie Ödnis, wie unfruchtbare Salzerde, die nie etwas hervorbringen werde, seien die Brüder, meint die Erzählerin.

„Ich bin fünfzehneinhalb, es gibt keine Jahreszeiten in diesem Land, wir leben in einer einzigen heißen, eintönigen Jahreszeit, wir leben in der langen heißen Zone der Erde, kein Frühling, keine Wiederkehr.“ (S. 9)

Als die Mutter spürt, dass die Tochter erwachsen wird, versucht sie eine gute Partie für das Mädchen zu finden. Der einzige Weg, zu Geld zu kommen, führt über die Tochter. Dem älteren Bruder wird es erst nach dem Tod der Mutter gelingen, auf eigenen Füßen zu stehen; sehr spät im Leben wird er eine Stelle als Laufbursche in einer Schifffahrts-Versicherungsgesellschaft annehmen. Zuvor aber wird er die Schwester berauben, die ihm Unterschlupf gewährt, und das Erbe der Mutter in nur einer Nacht verspielen. Der jüngere Bruder wird in Saigon an einer Lungenentzündung sterben, als die Japaner die Stadt besetzt halten. Die Erzählerin will sich schon sehr früh von diesen verhängnisvollen Familienbanden lösen, die von einer zermürbenden Hassliebe geprägt sind. Ihre Familie sei aus Stein, eine Festung, deren Bewohner scheintot seien, reflektiert sie später. Sie will ausbrechen und setzt auf die Schriftstellerei. Dass sie schreiben will, kündigt sie schon sehr früh an, ihre Mutter aber möchte aus ihr eine Mathematikerin machen.

Die Mutter

Die Mutter kämpft auf den von ihren Ersparnissen erworbenen Ländereien jahrelang vergebens gegen die Natur, doch jedes Jahr wird das Land von Neuem überschwemmt. Hätte die Mutter um die Gepflogenheiten des Landes gewusst, darum, dass sie die Beamten hätte bestechen müssen, um gutes Land zu bekommen, wäre ihr diese Niederlage erspart geblieben. Darüber, dass ihr ganzes Geld in diesen Ländereien steckt und sie betrogen wurde, verzweifelt die Mutter. In dieser Zeit kümmert sie sich kaum um ihre Kinder, überlässt sie vielmehr sich selbst. Die beiden Jüngeren wissen dies gut für sich zu nutzen, sie lassen sich von wilden Flussströmungen mitreißen und streifen durch den gefährlichen Dschungel. Die Tochter wird sich aufgrund dieser Erfahrungen der Freiheit in ihrer Jugend später nur schwer einengenden gesellschaftlichen Konventionen beugen können, dem jüngeren Bruder hingegen fehlt selbst elementarstes Wissen, sodass er später lediglich einen kleinen Job als Buchhalter ergattern wird.

„Ich habe viel über diese Personen meiner Familie geschrieben, doch als ich es tat, lebten sie noch, die Mutter und die Brüder, und ich habe um sie herumgeschrieben, um diese Dinge herum, ohne bis zu ihnen vorzudringen.“ (S. 13 f.)

Auf einem Foto, das die Erzählerin zum Anlass nimmt, um über ihre Mutter nachzudenken, zeigt sich diese nachlässig, mit abwesendem und schläfrigem Blick. Ein gewisser Überdruss zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, der plötzlich zu kommen und genauso schnell zu vergehen scheint. Die Gründe für die Gefühlsschwankungen, für die Stimmungen und Launen hat die Tochter nie herausgefunden; sie erkennt aber, dass letzten Endes die Gesellschaft die Mutter in die Verzweiflung getrieben hat. Einzig während der alljährlichen Hauswäsche, wenn das ganze Gebäude auf den Kopf gestellt wurde, erlebte die Tochter ihre Mutter ausgelassen und fröhlich.

Die Flussüberquerung

Die Tochter soll eine gute Ausbildung erhalten, deshalb schickt die Mutter sie nach Saigon. Dort besucht die Erzählerin tagsüber ein Gymnasium für besser gestellte Töchter aus französischen Familien, wohnt aber in einem Pensionat für Mischlinge. Nur in den Ferien kehrt sie nach Sadec zurück, wo die Mutter eine Schule leitet. In einem dieser Sommer nimmt sie den Bus zurück nach Saigon. Für sie ist der Platz neben dem Busfahrer reserviert, der ausschließlich Weißen vorbehalten ist. Als sie an einem Nebenarm des Mekong ankommen, setzen sie mit einer Fähre über. Später wird die Erzählerin diese Flussüberquerung als zentrales Moment in ihrer Jugend deuten: Sie lässt ihre Kindheit am anderen Ufer zurück und wird zur Frau. Sie spürt die Kraft, mit der die Flüsse dem Ozean zuströmen, nachdem sie sich zuvor durch den Schlamm der Reisfelder und die Ebene der Vögel geschlängelt haben. Sie fürchtet, die Strömung könne so stark werden, dass die Taue reißen und die Fähre abtreibt.

„Ich habe nie geschrieben, wenn ich zu schreiben glaubte, ich habe nie geliebt, wenn ich zu lieben glaubte, ich habe nie etwas anderes getan, als zu warten vor verschlossener Tür.“ (S. 43)

Später erinnert sich die Erzählerin ganz genau, wie sie an jenem Tag ausgesehen hat, sie beschwört diese Szene immer wieder herauf: Geschminkt war sie, hatte ihre Lippen dunkelrot angemalt und ihre Sommersprossen mit Creme abgedeckt. Sie trug ein altes, tief ausgeschnittenes Kleid von der Mutter, einen Ledergürtel um die Hüfte, Schuhe mit hohen Absätzen und einen Männerhut mit flacher Krempe. Sie erinnert sich, wie sie damals schon mit der Maskerade spielte, mit der Verführung.

„Das Klappern der Holzschuhe hämmert gegen den Kopf, die Stimmen sind gellend, Chinesisch ist eine Sprache, die geschrien wird, so wie ich mir immer die Wüstensprachen vorstelle, es ist eine unglaublich fremde Sprache.“ (S. 68)

Auf der Fähre fällt ihr eine schwarze Limousine mit Chauffeur auf, darin kann sie schemenhaft einen elegant gekleideten Chinesen ausmachen. Der Mann steigt aus dem Wagen und geht auf sie zu, er wirkt ein wenig verschüchtert und bietet ihr eine Zigarette an. Offenbar bereitet es ihm Mühe, die Rassenschranken zu überwinden. Er erzählt ihr, dass er von ihrer Mutter und dem Pech mit den Ländereien gehört habe. Dann berichtet er von sich selbst und seinem Studium in Paris und dass er wie ihre Mutter in Sadec wohne. Als er ihr anbietet, sie nach Saigon mitzunehmen, und sie in der Limousine Platz nimmt, entfaltet sich vor ihrem inneren Auge bereits eine glänzende Zukunft mit Auto, Chauffeur und Essen in teuren Restaurants.

Der Liebhaber

In der französischen Kolonie Indochina verwalten Chinesen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts eingewandert sind, den gesamten Grundbesitz. Die Mutter des Chinesen ist gestorben, der Vater mit dem Verkauf von Immobilien und Ländereien reich geworden, mittlerweile jedoch opiumsüchtig. Er wird später die Heirat mit der "kleinen weißen Prostituierten" ablehnen; er sagt sogar, dass er lieber sterben würde als einzuwilligen, doch gegen die Liebe ist er machtlos.

„Seine erste Regung sei es zu töten, Leben auszulöschen, über Leben verfügen, zu verachten, zu verjagen, zu quälen.“ (über den älteren Bruder, S. 91)

Als der Chinese die junge Frau bittet mitzukommen, willigt sie ein, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Beim ersten Mal ist sie genaue Beobachterin, registriert, dass er zittert, und nimmt seine Liebeserklärung ein wenig belustigt entgegen. Es gefällt ihr, deshalb lässt sie alles mit sich geschehen. Er aber weiß, dass sie seine Liebe nicht erwidert, denn sie reizt nur die körperliche Lust. Das Mädchen fordert ihn auf, das mit ihm zu tun, was er auch mit anderen Frauen tue, woraufhin er ihr die Kleider vom Leib reißt und sie nackt ins Bett trägt. Als alles vorüber ist, wundert sich die Erzählerin, dass sie es gewagt hat, ein unausgesprochenes Verbot der Mutter zu verletzen. Sie erzählt ihrem Liebhaber von ihrer Familie, von ihrer Armut, und er verspricht, ihr Geld zu geben. Täglich holt der Chinese das Mädchen mit seiner schwarzen Limousine vom Gymnasium ab und bringt es abends ins Pensionat. Ihr Liebesnest richten sie in einer Wohnung im Süden Saigons ein, in Cholen, dem Chinesenviertel. Hier hängen exotische Gerüche in den Gassen, Düfte nach gerösteten Erdnüssen, nach chinesischen Suppen und Kräutern.

Liebe schafft Leiden

Im Laufe der Beziehung, die anderthalb Jahre dauert, wächst die gegenseitige Anziehung: Unvergessliche Nachmittage der Begierde und Leidenschaft wechseln sich ab mit tieftraurigen Momenten, in denen beide um die Unmöglichkeit ihrer Beziehung wissen. Die Erzählerin sieht die Partnerschaft später als ein "Experiment", in dem Kommunikation nicht wirklich möglich war. Jeden Tag dasselbe Ritual: Er holt sie von der Schule ab, wäscht sie mit dem Wasser aus einem Krug, küsst sie am ganzen Körper, liebt sie und fährt sie abends ins Pensionat. Als der Mutter die Tragweite dieser Beziehung klar wird, geht sie, angefeuert vom älteren Sohn, mit Fäusten auf das Mädchen los, beschimpft sie als Hure und will sie aus dem Haus jagen. Der Tochter gelingt es jedoch, die Mutter zu beruhigen.

„Regelmäßig brechen Kämpfe zwischen meinen Brüdern aus, ohne ersichtlichen Grund, es sei denn dem klassischen, dass der ältere Bruder zum kleinen sagt: Geh raus hier, du störst. Kaum hat er es ausgesprochen, schlägt er zu.“ (S. 100)

Immer häufiger bleibt das Mädchen dem Pensionat fern, was jedoch keine Folgen nach sich zieht: Man will die wenigen weißen Gesichter, die man für das eigene Image braucht, nicht vertreiben und nimmt auch Inkonsequenzen bei der Einhaltung von pädagogischen Richtlinien in Kauf. Zudem beschwört die Mutter die Erzieherinnen, der Tochter alle Freiheiten zu lassen, weil sie sonst ausbüchsen und die Mutter ihre ganze Hoffnung verlieren würde. Gerüchte über die Beziehung ihrer Tochter zu dem reichen Chinesen dringen zwar weiterhin zu ihr, doch sie schenkt ihnen offiziell keinen Glauben. Ja sie hält es für ganz unmöglich, dass ihr unschuldiges Kind sich auf solch eine Sache einlassen könnte - verflucht aber im gleichen Atemzug diesen "dreckigen Chinesen". Im Gymnasium werden die Klassenkameradinnen dazu angehalten, kein Wort mehr mit der "kleinen Hure" zu wechseln, die sich jeden Abend von einem "dreckigen Chinesenmillionär" streicheln lässt. Der Liebhaber fürchtet um die Entdeckung ihrer Beziehung, die rechtliche Folgen für ihn hätte, denn man könnte ihn wegen Verführung einer Minderjährigen anklagen.

Begegnung mit der Familie

Eines Tages begegnen sich die Familie des Mädchens und der Chinese. Die Mutter und die Brüder lassen sich in teure Restaurants ausführen, sie nutzen den Reichtum des Liebhabers aus. Die Brüder schlagen sich die Bäuche voll, reden aber die ganze Zeit über nicht mit dem Chinesen, schauen ihn nicht einmal an. Wenn er spricht, hört ihm keiner zu. Irgendwann schweigt er dann. Die Tochter schämt sich für den schwächlichen Körper ihres Liebhabers, der sich in Gegenwart des Bruders fast in nichts auflöst, ja sie empfindet seine Schwäche sogar als Ärgernis. Der Chinese bezahlt die Rechnung, die Familie bedankt sich nicht und verabschiedet sich auch nicht von ihm. Für sie ist klar, dass das Mädchen nur wegen des Geldes mit dem Chinesen zusammen ist. Die Familie leugnet die Beziehung vor sich selbst und in der Öffentlichkeit, ist aber durchaus fordernd und übermittelt ihre Wünsche an den chinesischen Liebhaber über das Mädchen. Der Chinese leidet unter der Feindseligkeit, die ihm entgegengebracht wird, doch das Mädchen weiß ihn zu beschwichtigen: Ihre Familie sei eben so, er dürfe das nicht persönlich nehmen.

Abreise

Als sich die Liebesgeschichte immer mehr zu einem Skandal ausweitet, stellt sich die Mutter endlich den Tatsachen und führt der Tochter vor Augen, dass sie ihre Zukunft in Saigon verspielt habe und nach Frankreich zurückkehren müsse. Das Mädchen lacht statt zu antworten und zuckt lapidar mit den Schultern. Denn die Existenz in dieser Zwischenwelt - geächtet von der weißen Kolonialgesellschaft, geliebt vom Angehörigen einer anderen Rasse -, diese Position am Rand der Gesellschaft gewährt ihr eine Narrenfreiheit, die sie zu genießen gelernt hat.

„(...) der gleiche Aberglaube, der darin besteht, dass man an die politische Lösung des persönlichen Problems glaubt.“ (S. 115 f.)

Erst langsam begreifen die beiden Liebenden, dass die unausweichlich bevorstehende Abreise eigentlich ihr Glück ist. Dem Chinesen wird klar, dass er seine Geliebte nie würde halten können, auch nicht in einer Ehe. Als sich die junge Frau auf dem Schiff ein letztes Mal umdreht, sieht sie, wie der Chinese etwas abseits in seiner schwarzen Limousine kauert. Die Reise zurück nach Frankreich dauert 24 Tage. Erst jetzt wird der Erzählerin bewusst, dass sie den Chinesen geliebt hat. Viele Jahre später, nach Kriegen, Ehen, Kindern und unendlichen Schwierigkeiten, reist der Chinese mit seiner Frau nach Paris. Dort ruft er seine einstige Geliebte an und gesteht ihr seine immerwährende Liebe.

Zum Text

Aufbau und Stil

Bei Der Liebhaber handelt es sich um ein stark autobiografisch geprägtes Bekenntnis. Die Autorin gibt sich zwar nie direkt als Protagonistin des Romans zu erkennen, suggeriert aber, dass sie und die Ich-Erzählerin deckungsgleich sind. Der Text enthält viele Reflexionen der Vergangenheit. Duras reduziert die Handlung auf wenige Figuren, die zudem als Prototypen auch in ihren anderen Romanen auftauchen. Sie tragen keine Namen, heißen nur der jüngere und der ältere Bruder, die Mutter, der Chinese. Die Atmosphäre des kolonialen Indochina weiß die Autorin sehr gut umzusetzen in Beschreibungen von Bildern, Gerüchen und Geräuschen, Farben und Schatten. Die Erzählung - es gibt keine Kapitel, nur eine Gliederung in zahlreiche Absätze, die höchstens zwei Seiten umfassen - springt immer wieder zwischen verschiedenen Schlüsselszenen hin und her, wie etwa der Überquerung des Mekong auf der Fähre oder dem Liebesritual in der Wohnung des Chinesen. Das Beschriebene wirkt oft flüchtig, es ist eine assoziative Aneinanderreihung von Gedanken, in einem kühlen, fast monotonen Ton. Das mitunter verwirrende Nebeneinander verschiedener Zeit- und Erzählebenen zeigt zugleich unterschiedliche Bewusstseinsebenen der Erzählerin an, ähnlich wie in einem inneren Monolog. Ausdrücklich leugnet sie die Möglichkeit einer linearen Erzählung ihres Lebens: "Die Geschichte meines Lebens gibt es nicht. So etwas gibt es nicht. Es gibt nie einen Mittelpunkt. Keinen Weg, keine Linie. Es gibt weiträumige Orte, von denen man glauben macht, es habe hier jemanden gegeben, das stimmt nicht, es gab niemanden." Duras’ Stil zeichnet sich durch eine große Schlichtheit aus; u. a. verwendet sie viele Ellipsen (unvollständige Sätze).

Interpretationsansätze

  • Zwei zentrale Handlungsmomente durchziehen den Roman: die Flussüberquerung, die für die Reifung des jungen Mädchens zur Frau steht, und die Ozeanüberquerung, auf der sich die Erzählerin ihrer wahren Gefühle zu ihrem chinesischen Liebhaber bewusst wird.
  • Die Beziehung zum Chinesen ist ein "Experiment": Die Erzählerin will einerseits die Grenzen ihrer eigenen Verführungskunst ausloten, andererseits will sie sich mittels dieser Beziehung von der Familie lösen und von der Kindheit verabschieden, die ihr nur noch lästig ist.
  • Die Familie ist ein Gefängnis: Ihr entkommt die Erzählerin nur durch den Traum von der Schriftstellerei und durch die Liebesbeziehung mit dem reichen Chinesen. Die Familie erscheint als ein "Durchgangsstadium", das Duras auch in ihren anderen Romanen immer wieder aufs Neue inszeniert. Der ältere Bruder beispielsweise als Prototyp des Negativen schlechthin wird in zahlreichen Texten der Autorin bemüht.
  • Der Roman ist autobiografisch geprägt: Wie Duras selbst schreibt, ist dies der erste Text, in dem sie nicht mehr den Personen und den Dingen ausweicht. Ihre Brüder und ihre Mutter sind bereits gestorben, sodass sie sich an eine offene und ehrliche Auseinandersetzung wagt. Das Buch ist somit eine Art Selbstanalyse und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Jugend.
  • Der Roman ist auch als Aufruf für ein Leben gegen gesellschaftliche Konventionen und für bedingungslose Freiheit zu verstehen.

Historischer Hintergrund

Französisch-Indochina

Im Jahr 1887 fasste Frankreich seine zuvor eroberten Kolonien in Südostasien - Annam, das Khmer-Reich, Cochinchina und Tongking (heute: Laos, Kambodscha und Vietnam) - zur Union Indochina zusammen. Die französische Regierung ermutigte junge Menschen in Frankreich, in diesen Gegenden ihr Glück zu versuchen. Vor Ort förderte die Kolonialregierung auch einzelne einheimische Hochschüler, damit diese in Frankreich studieren und später in der Kolonialverwaltung eingesetzt werden konnten, darunter auch der spätere Führer der kommunistischen Partei Vietnams, Ho Chi Minh. Zwar kehrten viele dieser Studenten in ihre Heimat zurück, sie wurden dort aber nicht alle willige Werkzeuge der Kolonialmacht, sondern wehrten sich zunehmend gegen die Unterdrückung, zumal die Steuerlast hauptsächlich von der armen einheimischen Bevölkerung zu tragen war.

Nach der brutalen Unterdrückung von bürgerlich-nationalen Kräften kam es 1930 zu Aufständen, die jedoch niedergeschlagen wurden. 1945 wurde ganz Indochina von den Japanern besetzt, womit die französische Kolonialherrschaft endete - vorübergehend, denn nach der Kapitulation der Japaner kehrten die Franzosen zurück. Die von Ho Chi Minh geführten Truppen der Viet Minh führten ab 1946 im so genannten Indochinakrieg einen erbitterten Kampf gegen die Kolonialtruppen. Nach der vernichtenden militärischen Niederlage von Dien Bien Phu zog sich Frankreich 1954 aus Indochina zurück.

Entstehung

Marguerite Duras wuchs in Indochina in einer kleinbürgerlichen, engstirnigen und rassistischen kolonialen Gesellschaft auf - und rebellierte dagegen. In einem Interview mit dem französischen Magazin Le Nouvel Observateur erzählte sie später, warum die im Roman geschilderte Begegnung des jungen Mädchens mit dem reichen Chinesen - die es Duras’ Tagebuch zufolge tatsächlich gegeben hat - eine Schlüsselszene ist. Auf dieser Fähre, so Duras, habe sie begonnen, sich von ihrer Familie zu lösen. Sie habe damals ihre Mutter zum ersten Mal in ihrem Leben belogen. Denn dass der Liebhaber ein Chinese war, konnte sie ihr nicht gestehen, es war "gleichbedeutend mit Abstieg".

In den beiden Jahren vor Marguerite Duras’ Abreise nach Frankreich erreichte die kommunistische Agitation für das Ende der Kolonialherrschaft ihren Höhepunkt. In den Gefängnissen wurde gefoltert, viele Aufständische wurden erschossen, jeden Abend fanden Hinrichtungen statt. Duras war sicherlich Zeugin dieser Ereignisse, schrieb aber nicht darüber. Diese apolitische Haltung und die distanzierte Erzählweise prägen die Literatur der Duras, wenngleich gelegentlich Anspielungen auf Krieg, Kollaboration und japanische Besetzung Indochinas fallen. Politisch ließen sich persönliche Probleme nicht lösen, sagt die Ich-Erzählerin an einer Stelle im Roman.

Den Roman Der Liebhaber schrieb die Autorin erst ein halbes Jahrhundert nach ihren Erlebnissen in Indochina, sie war bereits 70 Jahre alt. Ihre eigene Biografie hat die Autorin vollkommen ausgeweidet, all ihre Werke zeugen von der Auslotung ihrer eigenen Geschichte oder der ihrer Familie. Egal ob in Roman, Film oder Theaterstück: Die Frage nach Wahrheit und Erfindung drängt sich im Duras’schen Werk stets auf; Fiktion und Wirklichkeit vermischen sich auf geheimnisvolle Weise.

Wirkungsgeschichte

Bei der Veröffentlichung des Romans Der Liebhaber im Jahr 1984 war Marguerite Duras längst bekannt, schon mit dem Drehbuch zu Hiroshima, mon amour (1959) - ein Film von Alain Resnais - wurde ihr international Aufmerksamkeit zuteil. Nach dem Erfolg von Der Liebhaber und der Auszeichnung mit dem Prix Goncourt, dem bedeutendsten Literaturpreis Frankreichs, feierten die Medien Duras, und sie wurde eine populäre Interviewpartnerin. Der Roman wurde in sämtliche Weltsprachen übersetzt, und die Verfilmung unter der Regie von Jean-Jacques Annaud aus dem Jahr 1991 tat ein Übriges, die Verfasserin der Vorlage zu einer weltberühmten Autorin zu machen.

Aufgrund der komplexen und widersprüchlichen Persönlichkeit der Duras setzte sich die Kritik oft viel mehr mit ihrer Person als mit ihrem Werk auseinander, zumal die Autorin bei der Veröffentlichung ihrer Bücher stets sehr viel Wert darauf legte, das Authentische zu betonen. Ihren Lesern versicherte sie, dass ihre Romane wirklich erlebte Geschichten seien. Der Philosoph Michel Foucault war wie viele andere französische Intellektuelle beeindruckt von Marguerite Duras. Allerdings sprach er ihr die von ihr selbst gerühmte Fähigkeit, authentisch zu schreiben, ab und bescheinigte ihr im Gegenteil ein unglaubliches Geschick beim Verbergen des Authentischen.

Über den Autor

Marguerite Duras wird am 4. April 1914 als Marguerite Donnadieu in Gia Dinh, einem Vorort von Saigon, als Tochter eines Lehrerehepaars geboren. Als der Vater stirbt, ist Marguerite sieben Jahre alt. 1928 erwirbt die Mutter Ländereien, die jedoch Jahr für Jahr von Überschwemmungen heimgesucht werden; diese Probleme mit dem Grundbesitz treiben sie nicht nur fast in den Wahnsinn, sondern rauben der Familie auch jegliche gesicherte finanzielle Grundlage. Ab 1930 besucht Marguerite ein Gymnasium in Saigon, in das die Töchter angesehener weißer Familien gehen, lebt aber im Pensionat hauptsächlich mit Einheimischen zusammen. Ihren Tagebuchnotizen lässt sich entnehmen, dass sie tatsächlich eine Liaison mit einem reichen, älteren Chinesen eingeht, vor allem des Geldes wegen. Mit 19 Jahren kehrt sie Indochina für immer den Rücken und geht nach Paris. Obwohl sie sich zum Schreiben berufen fühlt, studiert sie, dem Wunsch der Mutter gemäß, Mathematik, Jura und Politik. Sie heiratet Robert Antelme, einen Schriftsteller und Résistance-Kämpfer, und beginnt ein exzessives Leben, das in die Alkoholabhängigkeit führt. Ihre Wohnung ist während des Zweiten Weltkriegs Treffpunkt berühmter Intellektueller wie Raymond Queneau und Georges Bataille. Auch den späteren französischen Staatspräsidenten François Mitterrand lernt sie in der Résistance kennen. Der internationale Durchbruch gelingt Duras 1959 mit dem Drehbuch zu dem Film Hiroshima, mon amour. Die Autorin setzt sich für die Beendigung des Algerienkriegs ein und nimmt 1968 an den Pariser Studentenaufständen teil. Zwar erlebt sie mit dem Roman Der Liebhaber 1984 einen sensationellen Erfolg und erhält dafür den Literaturpreis Prix Goncourt, letzten Endes aber ist sie völlig vereinsamt und gibt sich ganz dem Alkohol hin. Ihr damaliger Partner, der um 30 Jahre jüngere Yann Andréa, steht ihr als Sekretär, Lebenspartner und Pfleger bei. Marguerite Duras stirbt am 3. März 1996 in Paris.

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