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Die Handschrift von Saragossa

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Die Handschrift von Saragossa

Kein & Aber,

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12 take-aways
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What's inside?

Ein weitgehend unbekanntes Meisterwerk der Romanliteratur: Potockis phantastische, unglaublich verschachtelte Zusammenstellung von Erotik- und Schauergeschichten.

Literatur­klassiker

  • Entwicklungsroman
  • Romantik

Worum es geht

Vexierspiel mit der Wirklichkeit

Lange hat Jan Graf Potocki angeblich an der Verzierung eines Samowars gefeilt, um eine Kugel daraus zu formen und sich damit den Todesschuss zu setzen. Noch länger aber feilte er an diesem Roman, und manchmal hat es den Anschein, als habe er sich selbst verirrt in diesem komplexen Werk. Wer den Erzählfäden folgt, mit denen Potocki seine Leser ködert, wer von all den Abenteuern des Alfons van Worden liest, die dieser im Laufe von 66 Tagen erlebt oder erzählt bekommt, der wird vergebens hoffen, eindeutige Antworten auf die pausenlos aufgeworfenen philosophischen und religiösen Fragen zu erhalten. Denn der Autor legt die Antworten verschiedenen Protagonisten in den Mund und variiert sie: etwa in Diskussionen darüber, ob die Philosophie über den Aberglauben und das Übernatürliche siegt oder was Moral und Tugend wirklich bedeuten. All jene Figuren, die - wie beispielsweise der Clan der Gomelez - sich für eine gemeinsame Sache einsetzen, um gewisse moralische Grundsätze zu verwirklichen, werden letzten Endes ihres Ziels beraubt; die Sinnhaftigkeit zielstrebigen Wirkens wird grundsätzlich in Frage gestellt. Potocki hat mit diesem weithin unbekannten Roman ein äußerst faszinierendes Werk geschaffen, das seiner Zeit weit voraus war und in der Weltliteratur seinesgleichen sucht.

Take-aways

  • Dieser mehrfach verschachtelte Reise-, Abenteuer-, Schelmen- und Schauerroman ist ein einzigartiges Kaleidoskop Europas im 18. Jahrhundert.
  • Im Mittelpunkt steht die Reise des flämischen Edelmanns Alfons van Worden nach Spanien, auf der er Kabbalisten, Zigeunern und Dämonen begegnet.
  • In einer gespenstischen Nacht wird Alfons von zwei Frauen verführt, die vorgeben, seine Cousinen zu sein und einen Nachkommen für das Geschlecht der Gomelez zu suchen.
  • Am nächsten Morgen erwacht er unter einem Galgen, zwischen zwei Leichen.
  • Er trifft den Zigeunerhauptmann Avodoro, der seine Zuhörer verwirrt, indem er schier endlose Geschichten erzählt, die in andere Episoden münden.
  • Der Mathematiker Velásquez ist ein typischer Repräsentant der Aufklärung, der Kabbalist Uzeda und seine Schwester Rebekka verkörpern eher dunkle Mächte.
  • Der Clan der Gomelez hütet das Geheimnis um eine Goldader, in das Alfons eingeweiht wird, nachdem er eine Vielzahl von Prüfungen gemeistert hat.
  • Viele Jahre später ist die Goldader erschöpft, der Höhlentempel der Gomelez wird gesprengt und der Reichtum verteilt.
  • Mit seinen Verweisen auf dunkle Mächte gilt der Roman als Hymne auf Geheimbünde.
  • Nach dem Vorbild von Dekameron, Tausendundeiner Nacht und Don Quijote sind zahlreiche Abenteuer-, Liebes- und Schauergeschichten in die Haupthandlung eingebettet.
  • Die bis ins Äußerste ausgereizte Anwendung der Verästelung macht den Roman zum Vorläufer der postmodernen Literatur.
  • Die Handschrift von Saragossa, obwohl von Potocki auf Französisch geschrieben, gehört zum Kanon der polnischen Nationalliteratur.

Zusammenfassung

Die Geschichte des Alfons van Worden

Alfons van Worden, Spross einer ehrwürdigen flämischen Ritterfamilie, ist auf dem Weg nach Madrid und durchquert die gespenstische Sierra Morena. Nachdem seine beiden Diener plötzlich verschwunden sind, kommt er für eine Nacht in der Herberge Venta Quemada unter. Dort tauchen nach Mitternacht plötzlich zwei maurische Damen auf, die sich als seine Cousinen ausgeben: Emina und Zubeida. Sie stellen sich vor als Töchter von Djasir Gomelez, des Herrschers von Tunis. Alfons, so erklären die Schwestern, sei mütterlicherseits ebenfalls ein Nachfahre der Gomelez, sie seien also miteinander verwandt. Die beiden Damen verführen Alfons und versuchen ihn vom Christentum abzubringen. Er aber steht hartnäckig zu seinem Glauben. Als er am nächsten Morgen aufwacht, fährt ihm der Schreck in die Glieder: Statt zwischen den verführerischen orientalischen Schwestern liegt er - unter einem Galgen, zwischen den Leichnamen von zwei Räubern!

„Mit welchen Worten kann ich das Entsetzen beschreiben, das mich packte? ... Ich lag unter dem Galgen von Los Hermanos. Die Leichen von Zotos zwei Brüdern hingen nicht oben, sie lagen links und rechts neben mir.“ (Alfons van Worden, S. 39)

Alfons trifft einen Einsiedler, der ihn bei sich aufnimmt, und einen "vom Teufel Besessenen", dem in der gleichen Herberge Schreckliches widerfahren ist. Am dritten Tag nach seinem geheimnisvollen Erlebnis wird Alfons im Namen der Inquisition verhaftet und in ein Verlies geworfen. Just in dem Moment, als ihn ein Dominikanermönch foltern will, rettet ihn der Räuber Zoto - ein Bruder der beiden Gehenkten und ebenfalls ein Gomelez. Er führt den jungen van Worden in sein Höhlenschloss, wo dem Reisenden vom Ewigen Juden ein Brief überreicht wird, in dem ihm König Ferdinand IV. verbietet, direkt nach Madrid aufzubrechen. Der König gewährt ihm einen dreimonatigen Urlaub, den Alfons im Schloss des Kabbalisten Don Uzeda - den er über den Räuber Zoto kennen lernt - antritt. Uzeda und seine Schwester Rebekka laden Alfons ein, weil sie hoffen, durch ihn mehr über das Geheimnis jener Herberge erfahren zu können. Sie glauben, dass die beiden Frauen, die Alfons verführt haben, Dämonen sind, denn die Geschwister haben ebenfalls schreckliche Dinge in der Herberge erlebt. Sie mussten dort erfahren, dass die Dämonen mächtiger sind als sie selbst, obwohl sie von ihrem Vater in die Geheimnisse der Kabbala eingeweiht wurden und durchaus über gewisse Mächte verfügen. Alfons schweigt jedoch eisern. Allmählich wird ihm klar, dass er auf eine Probe gestellt werden soll und dass hinter den abenteuerlichen Dingen, die ihm widerfahren, nicht etwa Geister, sondern ganz handfeste Interessen diesseitiger Personen stehen.

Die Geschichte des Zigeunerhauptmanns Avodoro

In der Nähe des Schlosses von Uzeda lassen sich Zigeuner nieder. Deren Hauptmann Avodoro fordert Alfons und die Kabbalisten auf, sich ihnen anzuschließen. Avodoro erwähnt, dass er wie Zoto im Dienst der Gomelez steht, was Alfons zunehmend irritiert. Die Geschichte des Avodoro über eine in einen Dämon verwandelte Frau verwundert ihn noch mehr, hat er diese Erzählung doch erst kurz zuvor in der Bibliothek des Kabbalisten gelesen. Der Zigeunerhauptmann berichtet, dass er bei seiner Tante aufwuchs, da sein Vater den Tod seiner Frau, die bei der Geburt des Sohnes gestorben war, nie verwinden konnte. Eines Tages unternahmen die beiden eine Reise und lernten Maria de Torres kennen. Deren Schwester Elvira wurde fälschlicherweise des Ehebruchs angeklagt. Sie starb bei der Geburt ihrer Tochter. Don Sancho de Peña Sombre, der verdächtigt wurde, der Liebhaber zu sein, floh nach Amerika, doch wegen der Tragik des Schicksals und um seine Unschuld zu beweisen, versprach er, keine andere Frau als nur Elviras Tochter zu heiraten. Als das junge Mädchen, benannt nach der Mutter Elvira, älter wurde, verliebte sie sich jedoch in ihren Cousin Lonzeto, den Sohn der Maria de Torres. Eines Tages entschloss sich Don Sancho de Peña Sombre, inzwischen Vizekönig von Mexiko, nach Spanien zurückzureisen, um sein Versprechen einzulösen und die junge Elvira zu heiraten - sehr zum Leidwesen des Mädchens und ihres Geliebten.

„Was er aber gesagt hatte, gab mir viel zu denken; er hatte Ehre, Zartgefühl, akkurateste Rechtschaffenheit von Menschen gerühmt, denen man mit dem Hängen noch eine Gnade erwiesen hätte. Der Missbrauch dieser Werte brachte alle meine Vorstellungen in Verwirrung.“ (Alfons über den Räuber Zoto, Seite 94 f.)

Als die Familie de Torres nun dem jungen Avodoro und seiner Tante begegnete, heckten sie gemeinsam einen Plan aus: Avodoro sollte sich als Elvira verkleiden und den beiden jungen Liebenden dadurch die Flucht ermöglichen. Schon beim ersten Anblick verliebte sich der Vizekönig unsterblich in die angebliche Elvira; Avodoro und seine Tante indes fürchteten immer mehr den Tag, an dem der Schwindel ans Licht kommen würde. Da half nur noch eines: Die falsche Elvira verkündete, allen weltlichen Freuden entsagen zu wollen und ins Kloster zu gehen. Damit schien die Gefahr vorerst gebannt, und der Vizekönig kehrte nach Mexiko zurück. Von seiner Tante in ein Kloster gesteckt, heckte der junge Avodoro dort viele Streiche aus, bis er eines Tages fliehen musste und Unterschlupf bei der Herzogin von Sidonia fand. Als er sich endlich auch aus deren Klauen befreien konnte, machte er sich auf nach Madrid, verkleidete sich als Bettler und bot verschiedenen Rittern seine Dienste an. Dort beobachtete er auch ganz aus der Nähe seinen Vater, konnte jedoch nichts gegen dessen unglückselige Verheiratung mit der Verwandten eines schamlosen Gecken namens Don Roque Busqueros ausrichten, die den Vater zu Grunde richtete.

„Wie ich über das, was mir zugestoßen war, nachdachte und nichts davon begriff, wagte ich nicht mehr daran zu denken, da ich darüber den Verstand zu verlieren fürchtete.“ (Alfons van Worden, S. 151)

Mit dem Tod des Vaters war Avodoros Kindheit beendet. Gemeinsam mit seinem Herrn, dem Ritter von Toledo, verdingte er sich in fremden Diensten und verliebte sich in die stolze Herzogin von Avila. Aus dieser komplizierten Beziehung ging eine Tochter hervor, die die Herzogin jedoch gut zu verstecken wusste. Über Avodoro brauten sich derweil schwere Wolken des Unheils zusammen, nirgends konnte er sich niederlassen, überall waren ihm Widersacher auf der Spur. Eines Tages erhielt er die Nachricht, dass seine Tochter gestorben sei. Schließlich trat Avodoro in die Dienste der Gomelez, wurde zum Aufpasser mohammedanischer und heidnischer Zigeuner, heiratete zwei Frauen und hat nun zahlreiche Töchter.

Die Geschichte des Geometers Don Pedro de Velásquez

Der Mathematiker Velásquez stößt zum Lager des Zigeunerhauptmanns und erzählt, wie seinem Vater als jungem Mann einzig wegen seiner Zerstreutheit sein Erbe, seine Frau und sein Rang abhanden gekommen sind. Velásquez selbst wuchs in Ceuta, einer kleinen Stadt an der Straße von Gibraltar, auf, wo sein Vater Statthalter war. Seine Mutter war vom Geschlecht der Gomelez. Dem Wunsch des Vaters, er möge nur ja nicht mit der Wissenschaft in Berührung kommen und sich lieber ganz den weltlichen Vergnügungen hingeben, kam er nicht nach, im Gegenteil: Er erschloss sich die Mathematik in einer kleinen Zelle, in die er gesperrt wurde, weil er sich weigerte, tanzen zu lernen. Sein Vater ließ ihn schließlich gewähren. Velásquez’ einziges Ziel war fortan die Erforschung der Rechenkunst und die Übertragung derselben auf die allgemeine Ordnung des Universums. Da rief ihn ein reicher Onkel an sein Sterbebett. Also machte er sich auf die Reise, durchquerte dabei die Sierra Morena und verbrachte eine fürchterliche Nacht in jener schon bekannten Herberge - auch er erwachte am nächsten Tag unter dem Galgen.

„Selbst in meiner Unbeständigkeit war ich unbeständig, denn bei meinem ruhelosen Umherstreifen verfolgte mich immerzu die Vorstellung eines stillen Glücks und eines weltabgewandten Lebens, und nur die Lust am Wechsel hat mich stets wieder der Abgeschiedenheit entrissen.“ (Zigeunerhauptmann Avodoro, S. 185)

Rebekka, die Schwester des Kabbalisten, schwört den geheimen Studien ab, weil sie ein normales Leben führen möchte, und findet zunehmend Gefallen an der Argumentation des Geometers. Dieser ist begeistert von der logischen Denkfähigkeit Rebekkas. Immer wieder eingestreut in seine Erzählung sind die Ausführungen des Ewigen Juden, der ganz im Bann des Kabbalisten steht und sich vergeblich gegen dessen Kräfte wehrt.

Die Geschichte des Marqués de Torres

Eines Tages passiert eine Karawane das Lager der Zigeuner, und es stellt sich heraus, dass Marqués Lonzeto de Torres mit ihr reist. Ihm hat Avodoro einst durch das Versteckspiel die Heirat mit Elvira ermöglicht. Als Lonzeto damals endlich seine geliebte Elvira heiraten durfte, dann aber seine Mutter und kurz hintereinander seine beiden kleinen Söhne starben, siedelten Elvira und er nach Mexiko über, wo sie vom Vizekönig großmütig empfangen wurden. Elvira gab sich fortan den Vergnügungen am Hof hin, wohingegen der Marqués sich von diesem Treiben abwandte und sich in die stolze Tlascala von Montezuma verliebte. Er setzte sich zudem für die Rechte der Einheimischen ein, die unter der kolonialen Knechtschaft litten, und zog damit den Unmut seines Mäzens, des Vizekönigs, auf sich. Die Kazikentochter und der Marqués de Torres entbrannten in unausgesprochener Liebe zueinander, bis eines Tages Tlascala von einem rätselhaften Fieber heimgesucht wurde: Der Fluch des Montezuma kam über sie, der besagt, dass diejenige, die ihr Herz an einen Menschenräuber verliert - und damit sind die Spanier gemeint -, fürchterliche Qualen leiden muss. Unterdessen wurde der Marqués in einen Aufstand verwickelt und in den Kerker geworfen. Als Tlascala das falsche Gerücht zu Ohren kam, dass der Marqués zum Tode verurteilt sei, starb sie. Dies berührte den Marqués im Innersten. Dennoch gelang es ihm, sich nach geraumer Zeit wieder seiner Frau Elvira anzunähern, und sie gebar eine Tochter. Nach dem Tod Elviras reisten Vater und Tochter nach Spanien, und auf dem Weg nach Madrid sind sie auf die Leute Avodoros getroffen.

Die Geschichte der Gomelez

Ein Derwisch - der sich später als Großscheich der Gomelez herausstellt - weiht Alfons van Worden in die Geschichte der Gomelez ein. Begründet wurde der Clan im achten Jahrhundert in Spanien von einem maurischen Geschlecht. Der Begründer Masud nahm den Titel eines Scheichs an und ließ in den Bergen der Alpujarras einen verzweigten Höhlentempel anlegen. Dort entdeckte er eine gewaltige Goldader. Masud ließ davor eine kleine Moschee errichten und gab vor, sich täglich zum Gebet zurückzuziehen, während er in Wirklichkeit Gold abbaute - bis er irgendwann feststellte, dass weltlicher Reichtum allein ihn nicht befriedigte. Daraufhin wählte er sechs Familienoberhäupter aus, ließ sie einen Eid schwören und enthüllte ihnen schließlich das Geheimnis der Goldader. Während der Verfolgung der Mauren in Spanien verbreiteten sich Gerüchte um die Schätze in der Höhle. Da ließ Scheich Billah Gomelez das Geheimnis auf ein Pergament schreiben. Dieses schnitt er in sechs Streifen, die er an die Familienoberhäupter verteilte. Das Geheimnis durfte nur an Menschen weitergegeben werden, die zur Familie der Gomelez gehörten und ihren Heldenmut und ihre Rechtschaffenheit bei Mutproben unter Beweis gestellt hatten.

„,Es ist wahr’, antwortete Velásquez, ‚ich habe die Ungeduld oft an anderen beobachtet, und es schien mir, sie sei ein Unlustgefühl, das sich von einem Augenblick zum anderen steigert, ohne dass man das Gesetz bestimmen könnte, nach dem sich diese Steigerung vollzieht.’“ (S. 318 f.)

Während der Großscheich die Geschichte seiner Kindheit und Jugend erzählt, erwähnt er auch eine junge Frau, in die er sich verliebt hat. Diese war niemand anders als die Tochter des Zigeunerhauptmanns Avodoro. Der junge Scheich wurde von seiner Familie, nachdem sie seine Liebschaft entdeckt hatte, weggeschickt, um das Kriegshandwerk zu erlernen; zwei Jahre später kehrte er wieder zurück und überlebte als Einziger die Pest, die in den Höhlengängen wütete. Er setzte die Goldader unter Wasser und begab sich nach Madrid, wurde aber die ganze Zeit verfolgt. Eines Tages gab sich sein Verfolger zu erkennen: Es war ein Uzeda, und zwar der Vater des Kabbalisten. Er hatte die Aufgabe, darauf zu achten, dass das Geheimnis um die Goldader bewahrt blieb und die Regeln in den Höhlen befolgt wurden. Da aber im afrikanisch-muslimischen Zweig der Gomelez-Familie die männlichen Nachfahren ausblieben, suchte man im christlichen Zweig nach einem würdigen Nachfolger. Die Wahl fiel auf Alfons van Worden. Er soll nun das Erbe der Gomelez antreten. Zu diesem Zweck hat er zahlreiche Abenteuer bestehen müssen, die er mit Heldenmut und Bravour gemeistert hat. Und der Einsiedler, der ihn nach seiner gespenstischen Nacht in der Herberge aufnahm, war niemand anders als der Großscheich der Gomelez selbst, der Alfons prüfen wollte.

Alfons van Worden tritt sein Erbe an

Nachdem Alfons in sämtliche Geheimnisse eingeweiht ist, reist er endlich, nach 66 Tagen, weiter nach Madrid, wo er am 20. Juni 1739 eintrifft. Dort erfährt er vom Tod seines Vaters. Er durchläuft eine glanzvolle militärische Karriere, die ihn u. a. nach Italien führt, wo ihn die Nachricht erreicht, er solle sich unverzüglich zum Schloss Uzedas begeben. Dort trifft er alle wieder, deren Geschichten ihm erzählt worden sind, und erfährt, dass die Goldader erschöpft ist. Die Höhlen werden gesprengt, und der restliche Reichtum wird verteilt.

„(...) die Suche nach dem Glück kann mit der Lösung einer Gleichung höheren Grades verglichen werden. Sie kennen das letzte Glied, und Sie wissen, dass es das Produkt aller Wurzeln ist. (...) Ebenso verhält es sich mit dem menschlichen Leben. Man gerät ebenfalls an imaginäre Größen, die man für reale Werte gehalten hat.“ (Velásquez, S. 319)

1760 wird Alfons Oberkommandant einer Flotte, die nach Tunis reisen soll, um mit den Berbern Frieden zu schließen. Dort angekommen, begegnet er nicht nur seiner Cousine Emina wieder, sondern auch ihrem gemeinsamen Sohn, der als Bey die Stadt regiert. Zubeida, die andere Cousine, hat ihm eine Tochter namens Fatima geboren. Da sie von einer Sklavin christlich erzogen wurde, nimmt Alfons sie mit nach Spanien. Dort heiratet sie den Sohn des Mathematikers Velásquez und der Kabbalistin Rebekka. Beim Bankier Moro, ebenfalls ein Gomelez, holt Alfons schließlich eine Rolle ab. Sie enthält die Niederschrift seiner 66 Tage in Spanien vor 25 Jahren. Er verschließt sie in einer Eisenkiste, in der Hoffnung, dass ein Nachkomme sie eines Tages findet.

Zum Text

Aufbau und Stil

Dieser äußerst verschachtelte Roman kann verschiedenen Gattungen zugeordnet werden, u. a. dem Schauerroman, dem Abenteuer- und Reiseroman sowie dem erotischen Roman, wie er im 18. Jahrhundert verbreitet war. Der Titel des Buches, das in 66 Tage bzw. Kapitel unterteilt ist, deutet die fingierte erste Rahmenhandlung an, wonach ein französischer Offizier in einer verfallenen Hütte in der Nähe Saragossas ein Manuskript findet. In offensichtlicher Anlehnung an das Dekameron, an Tausendundeine Nacht und an Don Quijote sind die zahlreichen Abenteuer- und Liebesszenen, die Schauermärchen und Genealogien jüdischer und maurischer Familien eingebettet in die Handlung um Alfons van Worden. In 66 Tagen durchquert dieser die Sierra Morena, wird vom Clan der Gomelez auf die Probe gestellt, erlebt dabei die abenteuerlichsten Geschichten, während er am Lagerfeuer des Zigeunerhauptmanns durch die Erzählungen anderer Reisender einen Überblick über Europa an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gewinnt. Vielfach tauchen Parallelen zwischen den Erzählungen auf, Geschichten gehen ineinander über, und Personen treten wiederholt in jeweils anderem Kontext auf: Die konventionelle Form des Erzählens, wie sie seinerzeit üblich war, wird so geradezu ad absurdum geführt. (Dies wird im Buch selbst dem Mathematiker zu viel, sodass er zum Täfelchen greifen muss, um all die Verästelungen nachzuzeichnen.) Potockis Roman aus dem frühen 19. Jahrhundert wirkt so beinahe wie ein modernes, wenn nicht gar postmodernes Werk, das seiner Zeit weit voraus war.

Interpretationsansätze

  • Die Handschrift von Saragossa ist eine Hymne auf eine Geheimgesellschaft. Das Ziel der Gomelez ist die Errichtung einer Weltherrschaft von Gleichgesinnten, die auf humanistischen Idealen beruht, wie sie auch die Freimaurer postulieren.
  • Der Roman propagiert wichtige Tugenden der Aufklärung, wie Toleranz und Interesse an Kulturen, und platziert sie außerhalb des christlich-europäischen Abendlandes. Potocki zeigt zudem den Triumph des Rationalen über das Übernatürliche, insbesondere in der Figur des Mathematikers Velásquez, und versucht zu belegen, dass sich alle Erscheinungen mit Vernunft erklären lassen. Darin steht er ganz in der Tradition der Aufklärung.
  • Die Handschrift von Saragossa ist durchdrungen vom kosmopolitischen Geist des Verfassers. Nation und Volkszugehörigkeit sind für Potocki nicht ausschlaggebend, sehr wohl aber menschliche Tugenden.
  • Die Suche nach Heimat ist ein zentrales Thema. Sämtliche Protagonisten in diesem Roman sind auf der Suche nach einem Zuhause, sie sind ständig unterwegs. Die Ruhelosigkeit der Zeit, bedingt durch die Napoleonischen Kriege, schlägt sich im Roman auch stilistisch durch den Bruch mit einer linearen Erzählweise nieder.
  • Angelegt wie ein Reise- oder Abenteuerroman entpuppt sich die Handschrift von Saragossa schließlich als Entwicklungsroman: Alfons van Worden nimmt aufgrund der Abenteuer und Erzählungen diverser Personen Abschied von seinem übertriebenen und längst überholten Ehrenkodex, stellt sich ganz in den Dienst der Gesellschaft und wird zum überzeugten Anhänger der kritischen Vernunft und der Toleranz.
  • Die Väter spielen in diesem Roman die Rolle der Vermittler bestehender Traditionen - nur dass diese Traditionen ihre Gültigkeit verlieren. Mit dem Infragestellen väterlicher Prinzipien wird auch die bestehende gesellschaftliche Ordnung angezweifelt.
  • Der Roman ist ein Verwirrspiel um Identitäten, Wahrheit und Perspektiven: Dieselbe Begebenheit wird oft unterschiedlich erzählt, und jeder der Protagonisten fragt sich, was denn die Wahrheit ist. Nichts ist wirklich, nichts ist sicher: Alles ist möglich, das Wahre und Falsche zugleich.

Historischer Hintergrund

Vernunft versus Okkultismus

Die Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert setzte sich u. a. zum Ziel, durch Wissenschaft und Vernunft ein "erleuchtetes Zeitalter" herbeizuführen. Unzählige Wissenschaftler, darunter als Speerspitzen Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert, fassten das Wissen ihrer Zeit in ihrer Enzyklopädie der Wissenschaften, Künste und Gewerbe zusammen. Dieses Mammutwerk setzte sich skeptisch mit Religion, Aberglauben und Vorurteilen auseinander und stellte neben den Werken Voltaires und Rousseaus einen Meilenstein auf dem Weg zur Französischen Revolution dar. In die Enzyklopädie flossen sowohl Kenntnisse von fernen Völkern und fremden Lebensformen ein als auch wissenschaftliche Theorien und Überlegungen. Zur gleichen Zeit traten damals Geheimbünde auf den Plan, die sich am Vorabend der Französischen Revolution über ein neues Herrschaftssystem Gedanken machten, wie beispielsweise die Freimaurer, die Werte wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität vertraten. In ihrem Umfeld tummelten sich allerdings auch undurchsichtige Gestalten wie beispielsweise der Abenteurer und Hochstapler Cagliostro. In der Literatur waren es u. a. die Frühromantiker, die einen Weg abseits der betonten Rationalität der Aufklärung zu suchen begannen; sie strebten danach, Geist und Natur zu vereinen, und griffen auch auf die Mystik sowie auf Überlieferungen von alten und fremden Völkern zurück.

Entstehung

Die Verquickung von aufklärerischem Geist, wie ihn die Enzyklopädisten vertraten, mit geheimbündlerischen, obskuren Untergangsvisionen war der Nährboden für Die Handschrift von Saragossa. Jan Graf Potocki ging durch die Schule der Aufklärung und des Rationalismus, war ein Sympathisant der Französischen Revolution und Parteigänger der Enzyklopädisten. Dennoch kommt in seinem Werk auch eine gewisse Faszination für das Übernatürliche und Irrationale zum Ausdruck - insofern ist er ein Kind seiner Zeit, das sich mit den diversen Philosophien auseinander setzt, die sich parallel entwickeln und so manches Mal im Widerspruch zueinander stehen. Potocki war fasziniert von den Geheimbünden und unterhielt enge Kontakte zu Freimaurern. Trotz - oder gerade wegen - seiner aufklärerischen Grundhaltung wurde er selbst Freimaurer und schloss sich in Paris jener Bewegung an, die die Monarchie stürzen und eine universelle tolerante Herrschaft von Gleichgesinnten errichten wollte. Die Geschichte der Gomelez erinnert an das Gesellschaftssystem, das die Freimaurer im Sinn hatten. Des Weiteren fanden Potockis ethnologische Kenntnisse und seine kabbalistischen Studien Eingang in die Handschrift. Potocki begann mit der Niederschrift des Romans im Jahr 1797, angeblich um damit seine Frau zu unterhalten, und arbeitete daran bis zu seinem Tod 1815. 1805 veröffentlichte er in St. Petersburg die ersten Kapitel des auf Französisch verfassten Textes, 1809 erschien in Leipzig eine deutsche Teilübersetzung unter dem Titel "Abentheuer in der Sierra Morena, aus den Papieren des Grafen von ***". Immer wieder tauchten leicht abgeänderte Fragmente auf, da Potocki seine Texte ständig überarbeitete.

Literaturhistorisch lässt sich der Roman schwer einordnen. Zum einen greift Potocki in seinen Gespenstergeschichten in das mystische Arsenal der Antike zurück, lässt aber andererseits die Vernunft letzten Endes immer die Oberhand gewinnen. Offensichtlich ist der Versuch, alle Gesellschaften und Lebensformen nach dem Vorbild der französischen Enzyklopädisten auf Papier zu bannen. Dieses Ansinnen wird jedoch gleichzeitig durch Ausflüge in die Welt des Phantastischen und des Übernatürlichen konterkariert. Das Werk schwebt somit gewissermaßen zwischen Aufklärung und Frühromantik.

Wirkungsgeschichte

Eine erste vollständige Übersetzung der Handschrift von Saragossa erschien 1847 in polnischer Sprache. Zugleich kursierten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Fragmente und Abschriften in Europa, ohne dass der Verfasser immer bekannt war. Einige Autoren bedienten sich einzelner Fragmente des Romans und veröffentlichten diese unter eigenem Namen, wie beispielsweise Washington Irving 1855 in seiner Erzählsammlung Wolfert’s Roost and Other Stories. Eine deutsche Ausgabe aus dem Jahr 1961 geht auf die polnische Übersetzung zurück. Die Quellenlage ist also ziemlich kompliziert. Dessen ungeachtet kann dieses Werk als ein gewagtes literarisches Experiment und als Wegbereiter der Postmoderne gesehen werden, als Vorbote von Texten Italo Calvinos und Jorge Louis Borges’.

1964 wurde Die Handschrift von Saragossa von Wojciech Jerzy Has in Polen verfilmt und fand zahlreiche Bewunderer. Der Komponist Krzysztof Penderecki schrieb die Musik zum Film. Der Roman gilt inzwischen als wichtiges Werk der polnischen Nationalliteratur. Er übt zudem bis heute Einfluss auf andere Schriftsteller aus; so bezieht sich etwa der im Jahr 2005 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Arno Geiger in seinem Familien- und Gesellschaftsroman Es geht uns gut (2005) auf Die Handschrift von Saragossa und deren komplexe Erzählkonstruktion.

Über den Autor

Jan Graf Potocki wird am 8. März 1761 in Pików als Sohn einer adligen Familie geboren. Als junger Mann studiert er in Genf und Lausanne, interessiert sich für Mathematik und Naturwissenschaften und setzt sich schließlich intensiv mit der Archäologie und insbesondere der Ethnologie auseinander. Innerhalb kurzer Zeit lernt er acht Sprachen. Er lässt sich in Wien an der Militärakademie ausbilden und wird Mitglied des Malteserordens. Der Kosmopolit ergreift für die Anhänger der Französischen Revolution Partei und verkehrt mit den Enzyklopädisten um Diderot. 1785 heiratet er Julia Lubormiska, mit der er zwei Söhne hat. Fünf Jahre nach Julias Tod heiratet er 1799 die wohlhabende Costancja Potocka, die ihm drei weitere Kinder gebärt. 1788 kehrt Potocki nach Polen zurück, gründet eine Druckerei und einen Verlag und richtet wenig später einen literarischen Salon ein. Potocki ist der Erste, der über Polen mit einem Heißluftballon aufsteigt. Zwischen 1789 und 1810 veröffentlicht er etliche Schriften zur Geschichte der slawischen Völker. Er gilt damit als Begründer der Slawistik. Er macht sich vor allem als Forschungsreisender einen Namen, notiert Lebensformen und beobachtet die Geschichtenerzähler in den Basaren von Istanbul. 1805 nimmt Potocki an einer Expedition nach China teil, die aber nur bis ins mongolische Ulan Bator kommt. Nach seinem Tod wird sogar versucht, ein Archipel im Gelben Meer nach ihm zu benennen, um seine Forschungen zu würdigen. Diese Bezeichnung hat sich aber nicht durchgesetzt. Die letzten Jahre verbringt der Freigeist vereinsamt auf seinem Gut im ukrainischen Uladowka. Am 20. November 1815 (oder, je nach Quelle, am 2. oder 11. Dezember) nimmt er sich das Leben - mit einer Kugel, die er angeblich in monatelanger Kleinarbeit aus der Verzierung eines Samowars zurechtgefeilt hat. Wenngleich Potockis Leistung als Wissenschaftler heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, so hat er doch als Autor der Handschrift von Saragossa Eingang in die (Literatur-)Geschichte gefunden.

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