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Jakob der Lügner

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Jakob der Lügner

Suhrkamp,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

Ein Roman über das Schicksal der Juden im Dritten Reich, der von ein wenig Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit erzählt – tief ergreifend und komisch zugleich.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Nachkriegszeit

Worum es geht

Lügen um zu überleben

Jurek Beckers Jakob der Lügner, der 1969 in der DDR erschien, zählt zu den großen Werken der deutschen Literatur, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen. Auf ebenso bewegende wie humorvolle Weise erzählt der Roman von Jakob Heym, Bewohner eines polnischen Ghettos, der wider Willen zum Helden wird. Durch Zufall hört er die hoffnungsvolle Nachricht vom Vormarsch der Roten Armee, die er nicht für sich behalten kann. Um seine Glaubwürdigkeit zu unterstreichen, gibt er vor, trotz des strikten Verbots im Besitz eines Radios zu sein. Was mit einer Notlüge beginnt, gerät rasch außer Kontrolle. Um die Hoffung und den Lebensmut der Ghettobewohner zu stärken, erfindet Jakob immer neue Nachrichten. Der äußerlich schwache Mann wird so zum Hoffnungsträger und zur moralischen Stütze der Juden im Ghetto - bis er selbst unter der Last seiner Verantwortung zusammenbricht. Beckers Debütroman ist eine Parabel auf die Macht der Fantasie und die Kraft des Wortes. Mit überraschender Leichtigkeit gelingt ihm das Kunststück, auf ironische, bisweilen groteske Weise von den Schrecken des Holocaust zu sprechen, ohne dabei jemals geschmacklos zu wirken. Seine Tragikomödie verzichtet auf Pathos und setzt stattdessen auf Humor - auch wenn einem das Lachen mitunter im Hals stecken bleibt.

Take-aways

  • Jakob der Lügner gehört zu den großen deutschsprachigen Romanen über den Holocaust.
  • Das Buch erzählt auf bewegende und zugleich humorvolle Weise die Geschichte eines Mannes, der ungewollt zum Widerstandskämpfer wird.
  • Durch Zufall hört der Ghettobewohner Jakob auf dem Polizeirevier, die Russen stünden nur noch 400 Kilometer vom Ghetto entfernt.
  • Er berichtet einem Kollegen davon und gibt vor, ein Radio zu besitzen - was den Juden bei Todesstrafe verboten ist.
  • Die Nachricht vom Vormarsch der Roten Armee verbreitet sich im Ghetto. Plötzlich haben die Menschen wieder Hoffnung und Lebenskraft.
  • Um diese Stimmung aufrechtzuerhalten, denkt sich Jakob immer neue Lügen aus.
  • Als er die Belastung nicht mehr aushält und einem Freund gesteht, er habe gar kein Radio, nimmt dieser sich das Leben.
  • Jakob lügt also weiter - bis die Realität ihn einholt und die Ghettobewohner von den Nazis ins KZ abtransportiert werden.
  • Der Roman ist eine Parabel über die Macht der Fantasie.
  • In einer unmenschlichen Zeit setzt Jakob mit seinen Lügen ein Zeichen der Menschlichkeit.
  • Jurek Becker gelingt es in seinem Debütroman, die schwierige Balance zwischen Tragödie und Komödie zu halten.
  • Der Roman wurde zu einem Welterfolg und machte seinen Autor schlagartig über die Grenzen der DDR hinaus bekannt.

Zusammenfassung

Die Nachricht vom Vormarsch der Russen

Der namenlose Erzähler stellt sich als ehemaliger Bewohner eines polnischen Ghettos vor. Bäume sind seine Obsession: Als Kind fiel er einmal von einem Apfelbaum und brach sich die Hand, unter einem Baum küsste er seine erste Liebe, unter einem Baum wurde seine Frau von den Deutschen erschossen. Die Geschichte, die er erzählt, handelt von Jakob Heym, einem anderen Ghettobewohner, der äußerlich keine Ähnlichkeit mit einem Baum hat. Er ist eher klein und ängstlich, stets darum bemüht, den strengen Gesetzen der deutschen Besatzer zu gehorchen. Früher hat Jakob eine kleine Schenke besessen, in der er Kartoffelpuffer und Eis verkaufte. Unter den anderen Ghettobewohnern gilt er als ein rechtschaffener, zuverlässiger Mann.

„Es gibt doch solche Männer, von denen man sagt, ein Kerl wie ein Baum, groß, stark, ein bisschen gewaltig, solche, bei denen man sich jeden Tag für ein paar Minuten anlehnen möchte. Jakob ist viel kleiner, er geht dem Kerl wie ein Baum höchstens bis zur Schulter.“ (S. 9)

Eines Abends wird Jakob von einem Wachposten angehalten. Er soll sich auf dem Polizeirevier melden, weil er nach acht Uhr auf der Straße sei, ein Vergehen, für das Juden die Todesstrafe droht. Jakob gehorcht. Auf dem Korridor des Reviers hört er zufällig im Radio, das in einer Wachstube läuft, russische Truppen hätten 20 Kilometer vor Bezanika eine Niederlage erlitten. Es stellt sich heraus, dass es erst kurz nach halb acht ist, und Jakob wird ohne Strafe nach Hause geschickt. Er beschließt, den Vorfall unter seinen Bekannten zu verschweigen. Denn wer als Jude das berüchtigte Revier lebend wieder verlässt, könnte leicht in den Verdacht geraten, ein Spitzel der Deutschen zu sein. Obwohl ihm der Schrecken noch in den Gliedern sitzt, ist Jakob euphorisch gestimmt. Die Nachricht, dass die Russen ungefähr 400, vielleicht sogar nur 300 Kilometer von Lodz entfernt sind, gibt ihm neuen Mut. Plötzlich hat sein Leben wieder einen Sinn.

Die erste Lüge

Kurz darauf erzählt Jakob seinem Kollegen Mischa, mit dem er auf dem streng bewachten Güterbahnhof einen Waggon Zementsäcke entlädt, von der guten Nachricht, dass die Russen nicht mehr allzu fern sind. Doch Mischa, ein kräftiger junger Mann und ehemaliger Boxer, glaubt ihm nicht und hat ohnehin anderes im Sinn. Er wartet nur auf einen günstigen Augenblick, um ein paar Kartoffeln zu stehlen, die er auf einem der Waggons entdeckt hat. Um Mischa vor einer Dummheit zu bewahren, die ihn das Leben kosten könnte, sagt Jakob, dass er ein Radio habe. Mischa weiß, dass auf den Besitz eines Radios im Ghetto Todesstrafe steht, und ist sprachlos vor Überraschung. Plötzlich erscheint ihm Jakobs Aussage, die Russen stünden vor Bezanika, glaubwürdig. Vor Freude vergisst er sogar seinen Hunger und die Kartoffeln. Jakob hingegen ärgert sich, dass er die Lüge von dem Radio in die Welt gesetzt hat. Er beschließt, Mischa bei der nächsten Gelegenheit die Wahrheit zu sagen. Doch das Gerücht ist bereits in Umlauf gebracht: Schon in der Mittagspause wird er von seinem ehemaligen Schulkameraden Kowalski auf sein Radio und die Nachricht vom Vormarsch der Russen angesprochen.

Neue Hoffnung im Ghetto

Die frohe Botschaft verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Ghetto. Mischa besucht seine Geliebte Rosa zu Hause bei ihren Eltern. In die trübe Runde platzt er mit einem Heiratsantrag hinein, den er mit der Nachricht vom Vormarsch der Russen begründet. Aber erst als er das Schweigegebot bricht und als Quelle seiner Information Jakob Heyms Radio nennt, glaubt man ihm. Aus Angst, dass die Gestapo davon erfahren und eine Durchsuchung aller Häuser veranlassen könnte, zerstört Rosas Vater, der ehemalige Schauspieler Felix Frankfurter, sein eigenes Radio, das er all die Jahre im Keller seines Hauses versteckt, aber nie eingeschaltet hat. Auch auf dem Güterbahnhof weiß inzwischen jeder über Jakobs Radio und die Russen Bescheid. Alle reißen sich darum, mit Jakob Kisten zu schleppen, um neue Einzelheiten zu erfahren. Plötzlich steht der unscheinbare, ängstliche Mann im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Trotz der Schikanen und schweren Arbeit herrscht unter den Zwangsarbeitern fast eine gute Stimmung. Nur Jakob ärgert sich, weil es ihm nicht gelungen ist, die Ausbreitung des Gerüchts einzudämmen. Doch statt die Sache mit dem Radio richtigzustellen, lässt er sich erneut auf eine Lüge ein. Als Kowalski ihn fragt, ob die Russen inzwischen weiter vorgerückt seien, spricht Jakob von drei Kilometern. Es ist das erste Mal, dass er bewusst lügt, um die neue Hoffnung und den Überlebenswillen unter den Menschen im Ghetto zu erhalten.

Zukunftspläne und Warnungen

Bei Jakob auf dem Dachboden hält sich die achtjährige Lina versteckt. Seit ihre Eltern in ein Konzentrationslager abtransportiert worden sind, kümmert sich Jakob um das Mädchen, das mit einer schweren Erkältung im Bett liegt. Während Professor Kirschbaum, ehemaliger Chefarzt des Krakauer Krankenhauses und renommierter Herzspezialist, Lina untersucht, steht Jakob am Fenster, blickt über die Stadt und denkt zum ersten Mal seit Langem wieder an die Zukunft. Wenn die Russen das Ghetto erst einmal befreit haben, wird er seine Schenke wieder öffnen. Er wird Lina adoptieren, sie wird in die Schule gehen. Nicht nur bei Jakob, im ganzen Ghetto werden nun wieder Zukunftspläne geschmiedet, alte Schulden angemahnt, Hochzeiten gefeiert, und die Selbstmordrate geht zurück. Es gibt aber auch die Ängstlichen wie Felix Frankfurter, die in Jakobs Radio eine Quelle ständiger Gefahr sehen und vor einem großen Unglück warnen. Herschel Schtamm, ein strenggläubiger Jude, geht Jakob aus dem Weg, aus Angst, er könnte später einmal als Mitwisser beschuldigt werden. Er betet sogar täglich zu Gott, dieser möge das Radio zerstören. Als eine fünftägige Stromsperre die Verbindung zur Außenwelt unterbricht, deutet Herschel dies als Zeichen Gottes. Auch Jakob ist über den Stromausfall erleichtert, weil er sich nun keine neuen Meldungen ausdenken muss.

Im Lügennetz verstrickt

Der Erzähler beklagt in der Rückschau, es habe im Ghetto keinen Widerstand gegen die Deutschen gegeben. Dabei nimmt er sich selbst von der Kritik nicht aus: Statt sich zu wehren, habe er sich wie alle anderen Bewohner strikt an die Verordnungen gehalten. Ihr Widerstand beschränkte sich darauf, Jakob nach den neuesten Nachrichten aus dem Radio zu fragen.

„Keine drei Sätze sind ihm über die Lippen gekommen, ohne dass von seiner Angst die Rede war, aber ich will von seinem Mut erzählen.“ (über Jakob, S. 44)

Unter dem Ansturm der Fragen sieht sich Jakob immer mehr in die Enge getrieben. Er wünscht sich handfeste Informationen, um der Hoffnung neue Nahrung zu geben. Eines Tages beobachtet er auf dem Güterbahnhof einen Wachposten, der mit einer Zeitung im Toilettenhaus verschwindet. Trotz des strikten Verbots schleicht sich Jakob in einem unbeobachteten Moment auf die Toilette und stopft sich die Reste der Zeitung unter das Hemd. Da naht ein Wachposten, Jakob droht entdeckt zu werden. Nur das mutige Eingreifen des bisher eher furchtsamen Kowalski, der absichtlich einen Kistenberg umstößt und damit die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, verhindert die Katastrophe in letzter Sekunde. Kowalski wird für seine Unachtsamkeit von dem Soldaten verprügelt und übel zugerichtet. Die Zeitung, für die Jakob sein Leben riskiert hat, enthält statt der erhofften Frontberichte nur Sportmeldungen und Todesanzeigen.

„Lina hat seit zwei Jahren keine Eltern, sie sind weggefahren, sie sind in den Güterzug gestiegen und weggefahren und haben das einzige Kind alleine zurückgelassen.“ (S. 76)

Die Nachricht vom Vormarsch der Russen ist inzwischen bis zu Lina vorgedrungen. Als das Mädchen Jakob darauf anspricht, bringt er es nicht übers Herz, sie zu enttäuschen. Er malt ihr eine Welt nach dem Sieg der Russen aus, in der es keine Judensterne, dafür schöne Kleider und immer genug zu essen gibt. Durch eine unbedachte Äußerung Kowalskis erfährt Lina, dass Jakob selbst die Quelle der Information ist und im Besitz eines Radios sein soll. Um nicht mehr lügen zu müssen, beschließt Jakob zu erzählen, sein Radio sei kaputtgegangen.

Der Geschichtenerfinder

Jakob fühlt sich schuldig für einen schrecklichen Vorfall auf dem Güterbahnhof: Der fromme Herschel Schtamm näherte sich gegen das ausdrückliche Verbot einem Waggon auf dem Abstellgleis, in dem Juden zum Abtransport zusammengepfercht waren. Er flüsterte ihnen durch die Luftlöcher zu, dass die Befreiung durch die Russen unmittelbar bevorstehe, und ermutigte sie, noch ein wenig durchzuhalten. Dafür wurde er von der Wache erschossen. Herschels Tod ist für Jakob der Anlass, das angeblich kaputte Radio wieder in Betrieb zu nehmen. Um die Hoffnung der Menschen nicht zu ersticken, nimmt er das Lügen wieder auf.

„Jetzt sind um ihn herum lauter Juden, zum ersten Mal in seinem Leben nichts als Juden, er hat sich den Kopf über sie zerbrochen, er wollte herausfinden, was es ist, wodurch sie sich alle gleichen, vergeblich, sie haben untereinander nichts Erkennbares gemein, und er mit ihnen schon gar nicht.“ (über Kirschbaum, S. 80)

Hat Jakob vorher nur widerstrebend und mit schlechtem Gewissen Lügen erzählt, so beschließt er nun, Geschichten im großen Stil zu verbreiten. Er will die Russen immer weiter vorrücken und sie große Schlachten gewinnen lassen und dabei nicht an Einzelheiten sparen. Auf Drängen der neugierigen Lina, die schon die ganze Wohnung nach dem geheimnisvollen Apparat durchsucht hat, geht er mit ihr in den Keller, um ihr das Radio vorzuführen. Während sie dasitzt und lauscht, ohne hinsehen zu dürfen, imitiert er aus dem Hintergrund die Stimmen im Radio: ein Interview mit Winston Churchill, einen Märchenonkel und sogar eine Blechblaskapelle. Das Mädchen scheint keinen Verdacht zu schöpfen, doch in Wahrheit hat sie Jakobs Schwindel durchschaut. Das Radio funktioniert nun offiziell wieder, und die Meldungen stimmen die Bewohner des Ghettos hoffnungsfroh. Gleichzeitig wird aber auch Kritik laut. Professor Kirschbaum beschuldigt Jakob, durch die Verbreitung der Nachrichten setze er sie alle einer großen Gefahr aus. Jakob verteidigt sich: Durch Hoffnung halte er die Menschen am Leben, schließlich sei seit einiger Zeit kein einziger Selbstmord mehr begangen worden.

Selbstmord und Deportationen

Am folgenden Tag kommen zwei Männer von der Gestapo zu Professor Kirschbaum und fordern ihn auf, sie zum Gestapo-Chef Hardtloff zu begleiten, der am Morgen eine Herzattacke gehabt hat. Noch auf dem Weg zu Hardtloffs Villa schluckt Kirschbaum eine tödliche Dosis Tabletten, um der Nazigröße nicht helfen zu müssen. Hardtloff stirbt, die Fahnen im Ghetto wehen auf Halbmast und auf dem Güterbahnhof fällt das Mittagessen aus. Um den vor Hunger und Erschöpfung halb ohnmächtigen Rechtsanwalt Leonard Schmidt wieder aufzurichten, erwähnt Jakob eine angebliche Meldung von der verzweifelten Lage der Deutschen an der Ostfront.

„Wer jetzt noch erschossen wird, so kurz vor Schluss, der hat plötzlich eine Zukunft verloren, um Himmels willen nur keinen Grund mehr geben für Majdanek oder Auschwitz, sofern Gründe Bedeutung haben, Vorsicht, Juden, höchste Vorsicht und keinen unüberlegten Schritt.“ (S. 83)

Wenig später erfährt Mischa, alle Häuser der Straße, in der Rosa wohnt, würden gerade geräumt und ihre Bewohner in ein Lager abtransportiert. Verzweifelt läuft er durch die Stadt auf der Suche nach Rosa. Er findet sie, als sie gerade ahnungslos in ihre Straße einbiegen und nach Hause zu ihren Eltern gehen will. Unter allerlei Ausreden gelingt es Mischa, sie davon abzuhalten und in seine eigene Wohnung zu bringen. Als Rosa vom Fenster auf die Straße blickt, erkennt sie im Zug der vorbeiziehenden Menschen ihre Nachbarn. Bevor sie ihre Eltern sehen kann, reißt Mischa sie vom Fenster fort, doch Rosa hat begriffen. Sie beginnt an Jakobs Erzählungen zu zweifeln. Als sie ihn aufsucht, um ihn zur Rede zu stellen, wird sie Zeugin der Verhaftung seiner Nachbarin Elisa Kirschbaum, der Schwester des Professors.

Jakobs Kapitulation vor der Wirklichkeit

Je hoffnungsloser die Lage, desto kühner werden die Meldungen, die Jakob erfindet: Die Rote Armee stehe nur noch gut 140 Kilometer vom Ghetto entfernt. Doch allmählich schwindet der Glaube an ein gutes Ende. Immer öfter begegnet Jakob Zweifeln. In einem Anfall von Schwäche gesteht er Kowalski, dass er gar kein Radio besitzt und nicht weiß, ob die Russen überhaupt jemals kommen werden. Zu seiner Überraschung zeigt Kowalski Verständnis, ja sogar Achtung für Jakobs Verhalten und erweist sich damit als wahrer Freund. Seine Hoffnung auf Rettung aber ist nun gestorben. In der Nacht erhängt er sich in seiner Wohnung. Als Jakob am Morgen nach Kowalskis Selbstmord trübsinnig zur Arbeit geht, sieht er schon von Weitem eine Menschenmenge vor dem verschlossenen Tor des Güterbahnhofs stehen, an dem eine Bekanntmachung hängt: Die Arbeiter werden aufgefordert, sich auf dem Platz vor dem Polizeirevier einzufinden und ihre Wohnungen unverschlossen zu hinterlassen. Alle Hoffnungen richten sich nun auf Jakob. Jeder will von ihm hören, dass die drohende Deportation ein Scherz ist und die Russen schon hinter der nächsten Ecke warten. Doch Jakob schweigt und wagt nicht, ihnen in die Augen zu sehen. Das Ghetto wird geräumt, die Juden in Güterwagen ins Konzentrationslager abtransportiert.

„Und der Widerstand, wird man fragen, wo bleibt der Widerstand?“ (S. 98)

Eine letzte Lüge ringt sich Jakob doch noch ab: Beim Kofferpacken erzählt er der kleinen Lina zu ihrer großen Freude, sie würden eine schöne Reise unternehmen. In dem engen, stickigen Waggon, in dem die Menschen zusammengepfercht sind, schließt der Erzähler Freundschaft mit Lina und Jakob. Wenige Tage später erfährt er von ihm die ganze Wahrheit über das Radio. Als einer der wenigen Überlebenden wird er Jakobs Geschichte später erzählen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Das Buch, das auf eine Kapiteleinteilung verzichtet, ist in einzelne, teilweise selbstständige Episoden gegliedert. Die Geschichte wird von einem namenlosen Ich-Erzähler vorgetragen, der weitgehend im Hintergrund bleibt und sich nur gelegentlich mit Kommentaren oder eigenen Erinnerungen einmischt. Er gehört zu den wenigen Überlebenden des Ghettos und hat die ganze Geschichte von Jakob selbst auf dem Weg ins Konzentrationslager erfahren. Manche Szenen hat er als Augenzeuge miterlebt, meistens aber beruft er sich auf die Aussagen seines Gewährsmannes Jakobs oder anderer Zeugen. Immer wieder betont der Erzähler, dass er bei der Schilderung von Einzelheiten auch auf seine Fantasie angewiesen ist, weil er nicht genau weiß, wie sich alles zugetragen hat. In vielen Passagen zieht er sich ganz zurück, nimmt die Perspektive einer seiner Figuren ein. Dadurch entsteht beim Leser der Eindruck, unmittelbar am Geschehen teilzuhaben. Die Sprache des Buches ist präzise, manchmal auch komisch und grotesk. Der Erzähler passt sich der Sprechweise der Protagonisten an, imitiert ihre Alltagssprache und verzichtet ganz auf einen hohen, pathetischen Ton. In einem beiläufigen, fast lakonischen Stil vermischt er Alltägliches und Schreckliches, Banales und Bedeutendes. Durch die so erzeugte ironische Distanz gelingt es ihm, von furchtbaren Leiden zu sprechen, ohne je in Pathos oder Sentimentalität zu verfallen.

Interpretationsansätze

  • Das Buch dreht sich um die Frage, warum es keinen Widerstand der Juden gegen die Nazis gegeben hat. Im Lauf der Geschichte kommt der Erzähler immer wieder auf die eine Frage zurück, die ihn so sehr belastet: Warum haben die Juden im Ghetto - er selbst eingeschlossen - sich nicht gewehrt, sondern die Verordnungen der Deutschen auswendig gelernt und befolgt? Jakobs Geschichte zeigt, dass es doch Widerstand gegeben hat - wenn auch nicht auf spektakuläre, sondern auf leise Art.
  • Der Roman führt uns die Vielfalt jüdischen Lebens vor Augen. Vom Strenggläubigen bis zum assimilierten Juden, vom kleinen Arbeiter bis zum renommierten Professor sind die verschiedensten Typen vertreten. Die Nazis, die einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Menschen willkürlich den Stempel "Jude" aufdrückten, unterstellten eine Einheit, die niemals existiert hat.
  • Becker vermeidet Klischees: Die Juden erscheinen nicht als edelmütige Opfer, sondern als Menschen wie du und ich. Sie sind egoistisch und ängstlich, eigennützig und hilfsbereit, sie streiten und verlieben sich. Becker verzichtet nicht nur auf eine einseitige Heroisierung der Opfer, sondern auch auf eine Dämonisierung der deutschen Täter, denen er bisweilen sogar menschliche Züge verleiht.
  • Die Figur Jakobs entspricht nicht dem Klischee vom antifaschistischen Widerstandskämpfer und sozialistischen Helden, das in der DDR propagiert wurde. Nicht aus einer politischen Weltanschauung heraus, sondern aus reiner Menschlichkeit leistet der unscheinbare, ängstliche Mann seinen geheimen Widerstand gegen die Nationalsozialisten.
  • Das Märchen, das Jakob mit verstellter Radiostimme der kleinen Lina erzählt, liefert einen Schlüssel zum Verständnis des ganzen Romans. Es handelt von einer kranken Prinzessin, die sich nach einer Wolke sehnt und zu sterben droht, weil sie keine bekommt. Erst als der Gärtnerjunge ihr erklärt, Wolken bestünden aus Watte, und ihr ein Stück Watte schenkt, wird sie wieder gesund. Ebenso wie der Gärtnerjunge die Prinzessin mithilfe einer Illusion heilt, hält Jakob durch seine Lügen den Überlebenswillen der Ghettobewohner wach. Der Roman handelt von der Macht der Illusion, die eine bedrückende Wirklichkeit zu verändern vermag, wenn man nur bereit ist, daran zu glauben.

Historischer Hintergrund

Der Prager Frühling und die Dichter

Ab Mitte der 60er Jahre verstärkte sich in den sozialistischen Staaten der Ruf nach Demokratisierung, der 1968 in dem so genannten Prager Frühling gipfelte: Die kommunistische Partei in der Tschechoslowakei unter Alexander Dubcek versuchte sich zu reformieren und zu demokratisieren. Truppen des Warschauer Pakts machten diesen Bestrebungen rasch ein Ende.

Während die DDR-Führung im Unterschied zur Tschechoslowakei stets ihre Treue zur Sowjetunion betonte, gab es auch hier besonders unter Schriftstellern eine Reihe von Anhängern der Reformideen. Ähnlich wie andere Autoren, etwa Stephan Hermlin oder Christa Wolf, bekannte sich auch Jurek Becker zwar zur Idee des Sozialismus. Doch er wandte sich gegen eine einseitige Darstellung des antifaschistischen Widerstands und eine Verherrlichung der DDR zum Sieger der Geschichte. Jenseits oberflächlicher Anklagen ging es diesen Schriftstellern darum, Verhaltensmuster wie Opportunismus und unbedingten Gehorsam aufzudecken, die dem Nationalsozialismus, aber auch dem Staatssozialismus zugrunde lagen. Gleichzeitig pochten sie auf ästhetische Autonomie und wehrten sich gegen eine Instrumentalisierung der Kunst durch die Politik.

Entstehung

Als Jurek Becker 1965 die Arbeit an dem Drehbuch Jakob der Lügner begann, hatte er sich in der DDR als Film- und Fernsehautor der DEFA bereits einen Namen gemacht. Aufgrund mangelnder Kooperationsbereitschaft der polnischen Kulturbehörden wurde das Projekt 1966 wieder zurückgezogen. In seinem Ärger über die Ablehnung arbeitete Becker das Drehbuch kurzerhand zu einem Roman um.

Die Idee stammte von Beckers Vater, selbst ein Überlebender des Holocaust, der seinem Sohn von einem Helden aus dem Ghetto erzählte, der ein Radio besaß und verbotenerweise Nachrichten verbreitete, um den Lebensmut seiner Mitmenschen zu stärken, bis er an die Gestapo verraten und erschossen wurde. Jurek Becker veränderte die Geschichte, indem er das reale Radio durch ein erfundenes ersetzte und aus dem heroischen Widerstandskämpfer einen eher ängstlichen Antihelden machte. Beckers Vater war von dieser Darstellung seiner Geschichte so enttäuscht, dass er nach Erscheinen des Romans den Kontakt zu seinem Sohn abbrach und lange Zeit kein Wort mehr mit ihm sprach.

Nach eigener Aussage hatte Jurek Becker keinerlei Erinnerung mehr an seine Kindheit im Ghetto und in den Konzentrationslagern. In seiner literarischen Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus sah er selbst den Versuch, verdrängte Kindheitserfahrungen aufzuspüren. Ein anderes Thema, das Becker sein Leben lang beschäftigte, war die eigene Beziehung zum Judentum. Er verstand sich nicht als Jude und lehnte die Vorstellung strikt ab, dass es bestimmte Merkmale gebe, die einen Menschen zum Juden machten. Als Atheist wehrte er sich dagegen, allein aufgrund seiner Herkunft dem Judentum zugeordnet zu werden.

Wirkungsgeschichte

Jakob der Lügner war Jurek Beckers Romandebüt, es machte ihn schlagartig über die Grenzen der DDR hinaus bekannt. Das Buch, für das er 1971 den Heinrich-Mann-Preis der DDR und den Schweizer Charles-Veillon-Preis erhielt, wurde in viele Sprachen übersetzt. Bei der Kritik löste das Werk unterschiedliche Reaktionen aus: Während etwa Marcel Reich-Ranicki in dem Roman eine gelungene Darstellung nationalsozialistischer Gräuel mit den Mitteln des Humors erkannte, bemängelten andere die Leichtigkeit, mit der sich Becker einem so ernsten Thema näherte.

Einige DDR-Kritiker vermissten zudem eine eindeutige politische Botschaft und ein sozialistisches Bewusstsein. Denn in Jakob der Lügner missachtete Jurek Becker die offizielle Kunstdoktrin der DDR, die von den Schriftstellern eine heroische Darstellung des antifaschistischen Widerstands erwartete. Indem er seine Hauptfigur Jakob als einen Durchschnittsmenschen ohne jede politische Haltung oder gar sozialistisches Bewusstsein zeichnete, widersetzte er sich den Vorgaben der parteilinientreuen Kulturpolitik. Auch der ständige Perspektivwechsel und die Rolle des unzuverlässigen Erzählers in dem Roman entsprachen nicht den Vorstellungen des sozialistischen Realismus, der eindeutige Wahrheiten und politische Appelle an den Leser forderte.

Dennoch verfilmte die DEFA, die das Drehbuch ursprünglich abgelehnt hatte, Jakob der Lügner 1974 unter der Regie von Frank Beyer. Es sollte die einzige DDR-Produktion bleiben, die jemals eine Nominierung für den Oscar in der Kategorie "Bester ausländischer Film" erhielt. Die Hollywood-Neuverfilmung aus dem Jahr 1999 mit Robin Williams und Armin Müller-Stahl, der schon im Original mitgespielt hatte, stieß dagegen auf geringere Resonanz.

Über den Autor

Jurek Becker wird offiziell am 30. September 1937 als Sohn eines jüdischen Prokuristen im polnischen Lodz geboren. Der Vater gibt diesen Geburtstag an, wahrscheinlich um seinen Sohn älter zu machen und vor der drohenden Deportation aus dem Ghetto zu bewahren. Im Alter von sechs Jahren wird der Junge im Konzentrationslager Ravensbrück, später in Sachsenhausen inhaftiert. Mithilfe eines amerikanischen Suchdienstes gelingt es dem Vater - außer einer Tante der einzige Überlebende von Auschwitz in seiner Familie - den Sohn wiederzufinden. Nach dem Ende des Krieges zieht Jurek Becker mit seinem Vater nach Ostberlin, wo er die deutsche Sprache lernt. 1957 beginnt er das Studium der Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität, wird aber schon 1960 aus politischen Gründen ausgeschlossen. Nach einem kurzen Studium an der Filmhochschule Babelsberg wird er bei der DEFA als Drehbuchautor engagiert. 1969 erscheint sein erster Roman Jakob der Lügner. Nachdem Becker 1976 ein Protestschreiben gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschreibt, wird er aus der SED ausgeschlossen. Ein Jahr später zieht er mit einem zeitlich begrenzten Visum in den Westteil Berlins. Hier schreibt er weitere Romane, darunter Der Boxer (1976) und Bronsteins Kinder (1986), sowie zahlreiche Drehbücher. Für das Drehbuch zur Serie Liebling Kreuzberg, die mit seinem langjährigen Freund Manfred Krug in der Hauptrolle Publikum und Kritiker begeistert, erhält er 1987 den renommierten Adolf-Grimme-Preis. Am 14. März 1997 stirbt Jurek Becker nach einem längeren Krebsleiden.

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