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Heinrich von Ofterdingen

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Heinrich von Ofterdingen

Reclam,

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10 take-aways
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What's inside?

Märchenhaft und tiefsinnig – der romantische Roman par excellence.

Literatur­klassiker

  • Entwicklungsroman
  • Romantik

Worum es geht

Die Reise zu sich selbst

Viel „Ach“ und „Oh“, zarte Liebesschwüre und heiße Tränen, finstere Wälder und sprudelnde Quellen, schroffe Felsen und düstere Schlösser, goldene Strahlen und funkelnde Steine – und natürlich die blaue Blume, Symbol der Romantik schlechthin. In seinem 1802 erschienenen Roman lässt Novalis nichts aus: Er fährt die ganze Palette an romantischen Accessoires auf und bewegt sich für den heutigen Geschmack dabei mitunter hart am Rande des Kitsches. Die Geschichte um den jungen Heinrich, der auf einer Reise nach Augsburg seine eigentliche Bestimmung zum Dichter und Propheten einer neuen Welt erkennt, ist ein Klassiker der deutschen Romantik und wurde zur Inspiration für Generationen von Dichtern. Lange vor der Erfindung des magischen Realismus lässt Novalis Steine und Bäume sprechen. Traum und Wirklichkeit, reale und surreale Phänomene fließen ineinander, und die durch die Aufklärung rationalisierte Welt erhält ihren Zauber zurück. Wem das alles zu versponnen und esoterisch klingt, der mag sich an die tiefere, ewig gültige Botschaft dieses Romans halten: Folge deinen Anlagen, erkenne deine Bestimmung und werde, der du bist.

Take-aways

  • Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen gehört zu den bedeutendsten Werken der deutschen Romantik.
  • Inhalt: Heinrichs Fahrt nach Augsburg gerät zu einer Reise zu sich selbst. Seine Begegnungen mit Mitreisenden, seine Gespräche mit dem Dichter Klingsohr und die Liebe zu dessen Tochter Mathilde führen ihm seine Bestimmung vor Augen: Er reift zum Dichter und zum Propheten einer neuen Welt heran, in der Mensch und Natur verschmelzen.
  • Heinrich von Ofterdingen ist Fragment geblieben; der frühe Tod des Dichters verhinderte die Fertigstellung.
  • Die Handlung spielt in einem idealisierten, poetisch überhöhten Mittelalter.
  • Das Buch ist bewusst als Gegenentwurf zu Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre konzipiert.
  • Der Roman ist äußerst handlungsarm, dafür reich an Reflexionen und Träumen, Gedichten und Märchen.
  • Grundlegend für die darin enthaltenen Gedanken ist die Philosophie Johann Gottlieb Fichtes.
  • Novalis verarbeitete in dem Roman den frühen Tod seiner Geliebten Sophie von Kühn.
  • Das Werk übte in Deutschland großen Einfluss auf konservative Kreise von Richard Wagner bis Thomas Mann sowie auf die französischen Symbolisten aus.
  • Zitat: „(…) die blaue Blume sehn ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken.“

Zusammenfassung

Die Macht der Träume

Der Tag ist längst angebrochen, doch Heinrich von Ofterdingen liegt nach einer unruhigen Nacht im Bett und gibt sich seinen Fantasien hin. Er hat von unbekannten Gegenden und wilden Tieren geträumt, von Krieg und Liebe, von einer wunderbaren Landschaft und einer blauen Blume, die ihn magisch anzog. Heinrich misst Träumen im Allgemeinen – und besonders diesem – eine große Bedeutung zu: Er sieht in ihnen schicksalhafte Prophezeiungen. Seine Mutter zeigt Verständnis für Heinrichs Schwärmerei, und auch der Vater, ein Schuster, der Träume eigentlich für reine Hirngespinste hält, gibt zu, in seiner Jugend einmal an deren Macht geglaubt zu haben. Auch er träumte einst von einer blauen Blume – und fand bald darauf zu seiner geliebten Frau, Heinrichs Mutter.

Die Weisheit der Dichter und der Bergleute

Um den ungewohnt stillen, nachdenklichen Heinrich auf andere Gedanken zu bringen, tritt die Mutter mit ihm eine Reise in ihre Heimatstadt Augsburg an. Das leichte und ungezwungene Leben in Schwaben, die freundlichen Menschen, die schönen Mädchen dort werden ihm guttun, meint sie. Der 20-Jährige, der noch nie aus seiner Geburtsstadt Eisenach hinausgekommen ist, verabschiedet sich wehmütig von seinem Vater und seinem Lehrer, dem Hofkaplan, der die guten Anlagen des Jungen schätzt. Unterwegs kommt er mit Kaufleuten ins Gespräch, die ihn für einen Dichter halten, und tatsächlich fühlt Heinrich sich zur Dichtung hingezogen, obwohl er noch nicht mit ihr in Berührung gekommen ist. Das Besondere daran sei, erklären seine Mitreisenden, dass die Dichtung allein auf der Vorstellungskraft beruhe. Während Musik und Malerei die Natur nachahmten, schaffe die Dichtkunst mit Worten eine neue Welt. In der Antike seien die Dichter allmächtige Magier gewesen, die durch ihre Worte und Klänge tote Materie zum Leben erweckt und die Natur beherrscht hätten.

„,Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben‘, sagte er zu sich selbst; ‚fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn ich mich zu erblicken.‘“ (über Heinrich, S. 9)

Wie zum Beweis für die Macht der Worte erzählen die Kaufleute Heinrich ein Märchen vom König des sagenhaften Atlantis: Ihm war kein Bräutigam gut genug für seine schöne Tochter. Eines Tages verirrte sich die Prinzessin und verliebte sich in einen armen Jüngling. Sie kehrte dem Leben im Überfluss den Rücken und zog zu ihm in den Wald. Der König war untröstlich. Als die Tochter ein Jahr später mit dem Jüngling und ihrem gemeinsamen Kind auf das Schloss zurückkam, beeindruckte der junge Mann alle mit seinem schönen Gesang. Sein Lied handelte vom Ursprung der Welt, von Liebe und Hass, von Kampf und Natur und von der Rückkehr des Goldenen Zeitalters. Der König begriff, dass Geld und Besitz nichts zählen. Er versöhnte sich mit der Tochter und schloss den Jüngling und sein Enkelkind in seine Arme.

„Es dünkt uns, Ihr habt Anlage zum Dichter.“ (die Kaufleute zu Heinrich, S. 25)

Auf dem Schloss, wo die Reisenden Rast machen, lernt Heinrich einige Ritter kennen. Sie erzählen ihm vom Kreuzzug ins Heilige Land und von ihrem Vorsatz, das Grab Christi aus den Händen der Ungläubigen befreien. Heinrich lässt sich zunächst von ihrer kriegerischen Stimmung anstecken. Doch die Begegnung mit der persischen Gefangenen Zulima, die das Elend des Krieges und die Gräueltaten der Christen beklagt, dämpft seine Begeisterung.

„Es war ihm, als ruhte die Welt aufgeschlossen in ihm, und zeigte ihm, wie einem Gastfreunde, alle ihre Schätze und verborgenen Lieblichkeiten.“ (über Heinrich, S. 75)

Auf einer der nächsten Etappen zieht ein alter Bergmann Heinrich und die Kaufleute mit seinem Lebensbericht in den Bann: Seit seiner Jugend hat das Innere der Berge eine große Faszination auf den Bergmann ausgeübt. Dabei hat er es nicht auf Reichtum abgesehen. Er hat sich mehr an den seltsamen Gesteinsformationen im Berginnern als an Gold- und Silberschätzen erfreut. Nach dieser einsamen Beschäftigung, fernab allen menschlichen Treibens, weiß er den Wert von Licht, Luft und Geselligkeit erst richtig zu schätzen. Er ist weder abgestumpft noch gleichgültig gegenüber anderen, sondern hat sich Menschenliebe, Gottvertrauen und eine kindliche Fähigkeit zum Staunen bewahrt.

Das Buch des Lebens

Während der Bergmann seine Zuhörer in die umliegenden Höhlen führt, fühlt sich Heinrich aufs Innigste mit der Natur um ihn herum verbunden. In einer Höhle stoßen sie auf einen freundlichen Einsiedler. Es ist der Graf von Hohenzollern, der sich von der Welt zurückgezogen hat, um über sein Leben nachzudenken. Seine Erinnerungen und die Erkenntnisse über sich selbst bereiten ihm eine tiefere Freude als alle äußerlichen Vergnügungen. Der Bergmann stimmt ihm zu: Die wichtigste Aufgabe ist es seiner Meinung nach, die Erinnerung an das eigene Leben und das der Angehörigen und Freunde aufrechtzuerhalten, damit künftige Generationen daraus lernen. Das Leben selbst des einfachsten Mannes spiegle die Geschichte seiner Zeit wider.

„Nun übersah er auf einmal alle seine Verhältnisse mit der weiten Welt um ihn her; fühlte was er durch sie geworden und was sie ihm werden würde, und begriff all die seltsamen Vorstellungen und Anregungen, die er schon oft in ihrem Anschauen gespürt hatte.“ (über Heinrich, S. 76)

Freudig blättert Heinrich in den Büchern des Einsiedlers, der ihn unwiderstehlich anzieht. Zu seiner Überraschung entdeckt er in einem davon ein Bild seiner selbst wie auch seiner Eltern, außerdem Bilder alter Bekannter, des Bergmanns und des Einsiedlers. Allerdings tragen sie alle ungewohnte Kleidung und scheinen einer anderen Zeit zu entstammen. Er sieht sich selbst am kaiserlichen Hof, auf einem Schiff, im Kampf, in Umarmung mit einem Mädchen, immer begleitet von einem unbekannten, ernst wirkenden Mann. Die letzten Bilder sind düster und unkenntlich, ein Schluss scheint zu fehlen. Auf Heinrichs Nachfrage erklärt der Einsiedler, es handle sich um ein in provenzalischer Sprache verfasstes Buch über einen Dichter, das er aus Jerusalem mitgebracht habe. Bewegt nehmen die beiden voneinander Abschied.

Erste Liebe und Berufung zum Dichter

In Augsburg werden die Reisenden von Heinrichs Großvater, dem alten Schwaning, der gerade ein Fest gibt, herzlich empfangen. Unter den Gästen erkennt Heinrich den ernsten Mann wieder, dessen Bild er im Buch des Einsiedlers gesehen hat. Schwaning stellt ihn ihm vor. Es handelt sich um den Dichter Klingsohr. Während Heinrich mit dessen Tochter Mathilde tanzt, vertraut der Großvater dem befreundeten Dichter seinen Enkel als Schüler an. Als ruhiger, nachdenklicher und empfindsamer Charakter, der kaum äußere Anreize braucht und allen Reichtum in sich selbst findet, ist Heinrich der geborene Dichter. Auch Mathilde ist von ernstem, ruhigem Wesen, und die beiden fühlen sich zur Freude Schwanings und Klingsohrs zueinander hingezogen. Heinrich denkt an die blaue Blume und erinnert sich entzückt daran, dass ihm im Traum ein Gesicht aus dem Blumenkelch entgegengekommen ist: jenes von Mathilde.

„Manche Worte, manche Gedanken fielen wie belebender Fruchtstaub, in seinen Schoß, und rückten ihn schnell aus dem engen Kreise seiner Jugend auf die Höhe der Welt.“ (über Heinrich, S. 89)

Auf dem Ausflug, den Heinrich am nächsten Tag mit Klingsohr und Mathilde unternimmt, erscheint ihm die Natur besonders schön. Er sieht in ihr seine gehobene Stimmung gespiegelt. Mathilde ist für ihn ein kostbarer Stein, in dem sich das Licht der äußeren Welt bricht. Klingsohr erklärt, dass beim Dichter Verstand und Gefühl in einem ausgewogenen Verhältnis stehen müssten. Überschäumende Leidenschaft stehe dem Schaffen ebenso entgegen wie reines Staunen und Müßiggang. Der Dichter brauche einen kühlen Kopf und klares Bewusstsein, die Poesie erfordere Wissen, Strenge und Regelmäßigkeit. Heinrich nimmt Klingsohrs Angebot, ihn in der Kunst des Dichtens und des Lebens zu unterweisen, dankbar an. Unter den Augen des Meisters bzw. Vaters schwören Heinrich und Mathilde sich ewige Liebe und Treue.

Das Wesen der Poesie

Klingsohr beginnt gleich, seinem Schüler eine Lektion über Poesie zu erteilen. Die Dichtung kann nach seiner Auffassung von der Musik und der Malerei lernen, sparsamer mit ihren Mitteln umzugehen und diese richtig einzusetzen. Nicht der Inhalt sei der Zweck der Kunst, sondern seine Umsetzung und Gestaltung. Es gelte, die Fantasie zu zügeln und sich lieber einfachen Stoffen zuzuwenden, die man aus der unmittelbaren Erfahrung und Anschauung kenne. Besonders schwer sei es, ein Märchen zu erfinden. Heinrich teilt Klingsohrs Begeisterung für die Sprache, mittels derer der Dichter eine Welt neu erschafft, und erkennt darin den Ursprung der Dichtkunst. Klingsohr geht sogar noch weiter und behauptet, das Dichten sei ein notwendiger Bestandteil des menschlichen Geistes. So habe etwa die Liebe keine Worte, nur die Poesie könne sie zum Sprechen bringen. Darauf versichern Heinrich und Mathilde einander wortreich ihrer Liebe: Noch nie habe sie so etwas gefühlt, sagt sie; erst durch sie werde er unsterblich, sagt er. Die höhere Welt sei ihnen näher, als sie gewöhnlich meinten, jetzt schon lebten sie in ihr. Er schwört ihr, sie ewig zu lieben. Am Abend verkündet der Großvater, schon bald das Hochzeitsfest für die beiden ausrichten zu wollen: Je früher ein Paar sich binde, desto dauerhafter sei später die Beziehung.

Klingsohrs Märchen

Klingsohr erzählt Heinrich und weiteren Gästen, die sich bei Schwaning eingefunden haben, ein Märchen: König Arcturs Astralreich ist zu Eis erstarrt, seine Tochter Freya in einen tiefen Schlaf gefallen. In der Menschenwelt ist unterdessen Eros zur Welt gekommen. Um den Säugling kümmert sich die Amme Ginnistan. Sie hat ein Verhältnis mit seinem Vater, aus dem die kleine Fabel hervorgegangen ist. Im selben Raum befinden sich ein mürrischer Schreiber und die edle Sophie. Der Schreiber schreibt unaufhörlich und sieht zu seinem Ärger das meiste durch Sophie wieder ausgelöscht. Auf einmal springt Eros aus der Wiege und ist zu einem jungen Mann herangewachsen. Gemeinsam mit Ginnistan, die die Gestalt seiner Mutter annimmt, fährt er zu deren Vater, dem Mond, der sie lange nicht gesehen hat. Mit seiner Erlaubnis führt Ginnistan Eros in einem großen Garten ein farbenprächtiges Schauspiel vor. Staunend betrachtet er all die fantastischen Dinge, Städte und Länder, schöne Feiern und schreckliche Schlachten, Vulkanausbrüche und Erdbeben. Schließlich sieht er sich selbst in einem Blumenkelch, über ein schönes Mädchen gebeugt.

„Ein Dichter läßt sich wie ein guter König, frohen und klaren Gesichtern nach aufsuchen, und er ist es, der allein den Namen eines Weisen mit Recht führt.“ (S. 94)

Inzwischen hat der Schreiber den Hof in seine Gewalt gebracht, den Vater gefangen genommen, die Mutter verbrannt und Fabel vertrieben. Diese steigt nun in die Unterwelt hinab und von dort wieder hinauf in König Arcturs Reich. Mit ihrem Leierspiel bringt sie das Eis zum Schmelzen. Auch Eros, Sophie und dem Vater und Ginnistan verleiht sie neue Kraft, indem sie ihnen die Asche der Mutter zu trinken gibt. Eros und Fabel eilen zu Arcturs Palast. Es ist Frühling geworden, Bäume und Blumen wachsen, Scharen fröhlicher Menschen sind unterwegs. Eros küsst Freya wach und nimmt sie zur Frau, der König heiratet Sophie. Die ganze Erde ist zu neuem Leben erwacht und von Liebe erfüllt.

Die Geburt einer neuen Welt

Als Pilger verlässt Heinrich Augsburg, denn Mathilde ist in einem Fluss ertrunken. Die Anstrengung des Wanderns soll seinen Kummer vertreiben. Der Anblick der Türme in der Ferne ruft alte Erinnerungen hervor, und er beginnt heftig zu weinen. Er redet mit einem Felsen, den er zunächst für einen Mönch hält. Zu seiner Überraschung beginnt nun der Baum, der darauf wächst, zu ihm zu sprechen – mit Mathildes Stimme. Sie fordert ihn auf, sich nicht zu grämen und stattdessen dem armen Mädchen zu folgen, das hier auftauchen werde. Nun erscheint auch Mathildes Bild in dem Baum, und Heinrich ist wieder froh und leicht zumute. Seine Sehnsucht nach ihr ist nicht verloschen, aber der Schmerz über den Verlust verklingt.

„Alles was er sah und hörte schien nur neue Riegel in ihm wegzuschieben, und neue Fenster ihm zu öffnen.“ (über Heinrich, S. 94)

Da taucht ein junges Mädchen auf, Cyane, das sich als die Tochter des Grafen von Hohenzollern vorstellt. Dieser sei auch Heinrichs Vater, sagt sie, denn er habe mehr Eltern als die, die er kenne. Auf seine Frage, wohin sie denn gingen, erwidert sie: „Immer nach Hause.“ Sie führt ihn durch einen verwilderten Garten zu einem kleinen Haus, vor dem der Arzt Sylvester steht. In ihm meint Heinrich den alten Bergmann wiederzuerkennen. Der erzählt nun, er habe schon Heinrichs Vater gekannt und ihm damals geraten, der eigenen Natur zu folgen und Maler zu werden. Der aber habe den Beruf des Handwerkers ergriffen und seine ursprüngliche Begeisterung verloren. Heinrich bestätigt, sein Vater sei zwar ein angesehener Bürger und fleißiger Arbeiter, aber er sei lustlos und verspüre eine innere Leere. Aus Erziehungsfragen, erzählt Heinrich weiter, habe sich der Vater herausgehalten – aus einem Gefühl der Ehrfurcht gegenüber der kindlichen Unschuld und auch wegen der schönen Erinnerung an die eigene Kindheit, in der die Welt ihm heller und zugleich rätselhafter erschien.

„Der Lebensgenuß stand wie ein klingender Baum voll goldener Früchte vor ihm.“ (über Heinrich, S. 100)

Heinrich und Sylvester sind sich einig: Neben den Eltern, Nachbarn und Lehrern haben die unmittelbare Umgebung, in der man aufwächst, wie auch die Natur großen Einfluss auf die Entwicklung eines Menschen. Pflanzen, Blumen, Wolken, all das ist Ausdruck des Gewissens, einer göttlichen Kraft, die jedem Ding und Menschen innewohnt. Das Gewissen ist die höchste Macht im Universum. Zugleich ist es der Vertreter Gottes auf der Erde, es verbindet unsere Welt mit einer höheren, himmlischen Welt – diesbezüglich ist es der Dichtkunst verwandt. Die ganze Natur vom Sternenhimmel bis zur Blumenwiese existiert allein durch den Geist der Tugend. Wer sich mit der Natur, der Sprache oder der Geschichte beschäftigt, dem offenbart sich die überirdische Wahrheit. In seiner Unschuld und Wissbegierde ist Heinrich der geborene Prophet dieser neuen, alle Sinne überschreitenden Welt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen ist Fragment geblieben, was entweder mit dem frühen Tod des Dichters oder mit dem romantischen Hang zum Unfertigen und Aphoristischen erklärt werden kann. Der Roman gliedert sich in zwei Hauptteile, die mit „Die Erwartung“ und „Die Erfüllung“ überschrieben sind und jeweils aus mehreren in sich geschlossenen Einzelkapiteln bestehen. Während der erste, deutlich längere Teil linear erzählt wird und überwiegend in der realen Welt spielt, zeigt der zweite Teil einen Hang zum Mystischen, Irrealen. Das zentrale Ereignis von Mathildes Tod wird nicht direkt erzählt, sondern nur angedeutet und ins Märchenhafte verschoben. Der Roman ist durch Handlungsarmut und fehlende Dramatik gekennzeichnet. Das Geschehen wird weitgehend ins Innere des Helden verlagert und erscheint als fließende Abfolge von Gedanken und Reflexionen, Träumen und Bildern, Empfindungen und Sinneseindrücken. Eingeflochten in die Handlung sind zwei Märchen sowie zahlreiche Gedichte und Lieder. Novalis’ Stil ist bewusst schlicht gehalten, dabei reich an Adjektiven und immer wiederkehrenden Leitwörtern wie „schön“, „wunderbar“, „ewig“ und „heilig“.

Interpretationsansätze

  • Heinrich von Ofterdingen ist in einem idealisierten, poetisch überhöhten Mittelalter angesiedelt. Anders als den Aufklärern erschien den Romantikern diese Epoche nicht als finster, sondern als poetischer Gegenpol zur eigenen nüchternen Zeit.
  • In einem Brief an seinen Freund Ludwig Tieck erklärte Novalis programmatisch, im ersten Teil seines Buches reife der Held zum Dichter heran. Allerdings zeigt er uns nicht dessen künstlerischen Reifungsprozess. Auf einmal ist der unerfahrene Jüngling ein eloquenter, altkluger Philosoph, ohne dass eine Entwicklung erkennbar wäre. Vermutlich wollte Novalis damit einen Kontrapunkt zum klassischen Bildungsroman setzen, in dem der Held allmählich in der Auseinandersetzung mit der Realität heranreift.
  • Im Unterschied zum klassischen Bildungsroman gibt es auch keine von der Innenwelt des Helden streng geschiedene Außenwelt, in der dieser sich bewähren muss. Von Beginn an sind Traum und Wirklichkeit, reale und surreale Phänomene miteinander verwoben.
  • Die Reise, ein traditionelles Motiv des Bildungsromans, steht bei Novalis für Heinrichs Weg zu sich selbst. Es ist eine in der Außenwelt gespiegelte Reise nach innen, eine Ich-Erkundung, die den Dichter hervorbringt, der bereits in ihm angelegt ist.
  • Die blaue Blume, das Symbol der Romantik schlechthin, wird als Sinnbild für Liebe und eine unbestimmte Sehnsucht interpretiert. Bei Novalis, der das Symbol erstmals verwendete, steht sie für die Einheit von Traum und Wirklichkeit, Natur und Mystik.
  • Die Figur der Mathilde, die zum Inbegriff der romantischen Geliebten wurde, trägt deutliche Züge von Novalis’ früh verstorbener Freundin Sophie von Kühn, aber auch von seiner zweiten Verlobten Julie von Charpentier. Im Roman steht die Figur der Mathilde für eine gänzlich unerotische, surreale und religiös überhöhte Liebe.
  • Klingsohrs Märchen ist ein chaotischer, schwer zu entziffernder Text. Eros steht für die Liebe, Ginnistan für die Fantasie und Fabel für die Poesie. Sophie versinnbildlicht die Weisheit, der Schreiber die einseitige Ratio. Die Verschwörung des Schreibers, der alle Macht an sich reißt, steht für die Eroberung und Entzauberung der Welt durch die Aufklärung.

Historischer Hintergrund

Die Jenaer Frühromantik

Nachdem Johann Gottlieb Fichte 1794 in Jena seine Professur für Philosophie angetreten hatte, entwickelte sich die Stadt bald zum neuen intellektuellen Zentrum Deutschlands. Zusammen mit Friedrich Schiller, der an der gleichen Universität bereits seit 1789 seine berühmten historischen Vorlesungen hielt, wirkte Fichte wie ein Magnet auf die jüngere Generation von Dichtern und Denkern. In Jena lehrten nicht nur die Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hier ließen sich zudem August Wilhelm Schlegel, dessen Shakespeare-Übersetzung die jungen Wilden begeisterte, und kurzzeitig auch sein Bruder Friedrich Schlegel sowie Friedrich Hölderlin nieder. Auf Friedrich Schlegel geht übrigens die Bezeichnung „romantisch“ für eine nachklassische, auf Selbsterkundung und Ausdruck von Subjektivität ausgerichtete Kunst und Literatur zurück. Zusammen mit seinem Bruder gründete er 1798 die Zeitschrift Athenaeum, in der auch Novalis zahlreiche literarische und philosophische Beiträge veröffentlichte.

Fichtes spröde, überaus abstrakte Ich-Philosophie, die die frühromantische Bewegung maßgeblich beeinflusste, fußte auf der Idee, dass alle Tatsachen des Bewusstseins sich letztlich auf eine ursprüngliche Tathandlung des reinen Ichs zurückführen ließen. Sein erklärtes Ziel war es, „sich selbst beim Denken zuzuschauen, um sich als denkendes Selbst zu begreifen“. Im Zentrum von Fichtes Philosophie stand das denkende, sich selbst erforschende Ich; oberstes Ziel aller Philosophie, Wissenschaft und Kunst sollte die Vervollkommnung der Menschheit sein. Nicht gewaltsame Umbrüche – wie die Französische Revolution – verändern nach Fichte die Welt, sondern die ästhetische Erziehung und Selbstverbesserung jedes einzelnen Menschen. Aus dem absoluten Wert, den Fichte dem Ich-Bewusstsein beimaß, leiteten die Frühromantiker den hohen Stellenwert der dichterischen Einbildungskraft ab. Von großer Bedeutung für das frühromantische Denken und besonders für Novalis war auch der niederländische Philosoph Frans Hemsterhuis, der bereits Mitte des 18. Jahrhunderts jede einseitig rationalistische Deutung der Welt ablehnte und der Poesie hohen Wert zusprach.

Entstehung

Novalis hat sich nicht nur mit Fichte und Hemsterhuis, sondern auch intensiv mit Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre beschäftigt. Sie waren ihm jahrelang als der Roman schlechthin erschienen und hatten ihn zu eigener künstlerischer Produktion angeregt. Im Lauf der Zeit allerdings betrachtete er das Werk zunehmend kritisch und rückte immer weiter von dem einstigen Vorbild ab. Zwischen Ende 1799 und Anfang 1800, just in jener Zeit also, als er an seinem eigenen Roman schrieb, bemängelte er in einer Rezension, Wilhelm Meister sei durchaus prosaisch und modern, das Romantische, die Naturpoesie, das Wunderbare allerdings gingen darin zugrunde. Der Roman sei eine Farce, handle bloß von gewöhnlichen menschlichen Dingen, nicht aber von Natur und Mystik. Novalis’ eigener Roman, den er selbst als „Apotheose der Poesie“ bezeichnete, kann somit als Fortführung und zugleich Gegenentwurf zu Goethes Werk gelesen werden.

Nach dem frühen Tod seiner Verlobten Sophie von Kühn 1797 trug sich Novalis mit dem Gedanken, der Geliebten „nachzusterben“. Zwar hatte er seine Todessehnsucht ein Jahr später überwunden und aus der persönlichen Tragödie innere Stärke und ein neues literarisches Interesse gewonnen; das Erlebnis von Sophies Sterben aber hallte noch lange in ihm nach und beherrschte sein gesamtes dichterisches Denken. Einen weiteren Schreibimpuls lieferte die Beschäftigung mit dem Mittelalter und der thüringischen Sagenwelt. Im Sommer 1799 studierte Novalis mittelalterliche Quellen und Chroniken, die er in der Bibliothek eines befreundeten Majors gefunden hatte. Hier stieß er auf die fiktive Figur des Dichters Heinrich von Afterdingen, der in dem Mitte des 13. Jahrhunderts erschienenen Gedichtzyklus Der Sängerkrieg auf der Wartburg neben Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide auftaucht. Bereits Ende des gleichen Jahres begann er seinen Roman zu schreiben. Vermutlich war es sein früher Tod im März 1801, der dem Werk ein abruptes Ende setzte; Novalis hinterließ jedoch Entwürfe zur Fortsetzung des Romans. Wie in den Quellen hieß der Held bei Novalis noch „Heinrich von Afterdingen“. Erst Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck, die den Roman 1802 posthum herausbrachten, änderten den Namen in Heinrich von Ofterdingen.

Wirkungsgeschichte

Die unmittelbaren Reaktionen auf Heinrich von Ofterdingen reichten von der grenzenlosen Bewunderung eines Joseph von Eichendorff bis zur satirischen Ablehnung durch Heinrich Heine. Nicht nur auf die französischen Symbolisten des späten 19. Jahrhunderts übte der Roman großen Einfluss aus: Bis hinein in die Gegenwartsliteratur lässt sich seine Spur verfolgen. In einer spezifisch konservativen Sichtweise erscheint Novalis’ Werk mit seinem antirationalistischen Menschen- und Staatsideal als Vorläufer einer aufklärungskritischen Moderne von Richard Wagner über Thomas Mann bis zu Botho Strauß.

Über den Autor

Novalis, eigentlich Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, wird am 2. Mai 1772 in der kursächsischen Grafschaft Mansfeld als zweites von elf Kindern einer alten Adelsfamilie geboren. Sein streng pietistischer Vater erzieht die Kinder mit asketischer Härte, umso inniger ist dafür das Verhältnis zur Mutter. Im Alter von acht Jahren erkrankt der stets schwächliche „Fritz“ lebensgefährlich an der Ruhr und muss sich langwierigen Behandlungen unterziehen. Nach Unterrichtung durch Hauslehrer und dem Besuch des Gymnasiums in Eisleben nimmt er auf Wunsch des Vaters 1790 ein Jurastudium in Jena auf, wo er auch die historischen Vorlesungen des von ihm verehrten Friedrich Schiller hört. 1794 schließt er sein in Wittenberg und Leipzig fortgeführtes Studium mit Bestnoten ab und wird im thüringischen Tennstedt zum Verwaltungsbeamten ausgebildet. Hier lernt er die zwölfjährige Sophie von Kühn kennen, mit der er sich 1795 heimlich verlobt. Aufgrund seiner Tätigkeit beim Salinenamt im sächsischen Weißenfels beschäftigt sich Hardenberg intensiv mit den Naturwissenschaften, insbesondere mit der Geologie. 1797 studiert er an der renommierten Bergakademie in Freiberg Bergbau und macht später eine steile Karriere als Salineningenieur. Zugleich beginnt er unter dem Pseudonym Novalis – dem Namen eines Zweigs seiner Vorfahren – literarische und philosophische Texte zu schreiben, darunter den 1826 posthum erschienenen Aufsatz Die Christenheit oder Europa und die Hymnen an die Nacht (1800). Nach Sophies frühem Tod verlobt er sich 1798 mit der mittellosen Julie von Charpentier. 1799 schließt er Freundschaft mit Ludwig Tieck und nimmt im November an dem berühmt gewordenen viertägigen Jenaer Romantikertreffen teil, auf dem er vor begeistertem Publikum seine Gedichte vorträgt. An Tuberkulose erkrankt, beschließt er im Sommer 1800, Julie zu heiraten. Dazu kommt es jedoch nicht mehr: Sein Zustand verschlechtert sich unaufhaltsam. Am 25. März 1801 stirbt Novalis nicht einmal 30-jährig in Weißenfels.

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