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Siebenkäs

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Siebenkäs

Reclam,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Ein schöngeistiger Armenadvokat flieht aus dem grauen Ehealltag – per Scheintod.

Literatur­klassiker

  • Gesellschaftsroman
  • Romantik

Worum es geht

Dornen und Blumen

Jean Pauls Siebenkäs ist eigentlich die Geschichte eines Versicherungsbetrugs: Da täuscht ein Advokat seinen Tod vor, um seiner Ehe zu entkommen und einen zweiten, womöglich glücklicheren Anlauf zu nehmen. Der Roman ist beim Hineinlesen ebenso schwer zugänglich wie auch schwer verdaulich. Zahllose Abschweifungen, in denen Jean Paul entlegenstes Wissen ausbreitet, hemmen oft die Lektüre. Aber die Geduld des Lesers wird belohnt, nimmt doch die Handlung um Siebenkäs’ spektakuläre Eheflucht Fahrt auf – und auch das Prinzip der Sprünge, Einschübe und Exkurse gewinnt an Reiz. Das unvermittelte Aufeinanderprallen von Satirischem (in Jean Pauls Schilderung des Kleinstadtlebens) und Ergreifendem (in seiner einfühlsamen Zeichnung der Siebenkäs’schen Seelennöte) spricht zudem im Leser gleichermaßen ein Bedürfnis nach philosophischer Ehrlichkeit wie auch nach Seelentrost an. Das Uneinheitliche, Zerrissene des Siebenkäs ist Programm und auch heute noch ein treffender Ausdruck der Befindlichkeit des bürgerlichen Individuums.

Take-aways

  • Jean Pauls Siebenkäs gilt als der erste Eheroman der deutschen Literatur.
  • Inhalt: Der arme Armenadvokat Siebenkäs ist unglücklich verheiratet und obendrein vom Kleinstadtleben bedrängt. Zusammen mit seinem besten Freund täuscht er seinen Tod vor, um seiner Situation zu entkommen. Am Ende wird er mit der seelenverwandten Natalie glücklich.
  • Der Roman handelt vom materiellen und geistigen Überlebenskampf des Intellektuellen in der Enge der bürgerlichen Gesellschaft.
  • Die Fluchtstrategien des Romanhelden spiegeln den Geist der Romantik: Humor, Literatur, Natur, Freundschaft und Liebe.
  • Die Romanhandlung ist durch Beitexte unterbrochen. Berühmt geworden ist vor allem die Traumdichtung Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei.
  • Jean Paul schrieb das Buch 1795/96, mehr als ein Jahrzehnt vor Goethes Wahlverwandtschaften.
  • Er selbst war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheiratet.
  • Eine geplante Fortsetzung führte Jean Paul letztlich nicht aus, weil er an der Frage scheiterte, wie die Ehe des Siebenkäs mit Natalie ausgesehen hätte.
  • Siebenkäs’ Scheintod verweist auf den Tod und die Auferstehung Christi.
  • Zitat: „Es kann, d. h. es muß noch eine Zeit kommen, wo es die Moral befiehlt, nicht bloß andere ungequält zu lassen, sondern auch sich; es muß eine Zeit kommen, wo der Mensch schon auf der Erde die meisten Tränen abwischt, und wär’ es nur aus Stolz.“

Zusammenfassung

Vorrede: der Autor und das Publikum

Der Autor Jean Paul Friedr. Richter unterteilt die Konsumenten von Büchern in ein Kauf-, ein Lese- und ein Kunstpublikum. Das Kaufpublikum, der Leib, besteht aus Geschäftsmännern, die dicke Nachschlagewerke kaufen, um daraus Nutzen zu ziehen. Sie verachten Philosophen und Dichter. Dem Lesepublikum, der Seele, gehören Mädchen, Jünglinge und andere Leute an, die nichts zu tun haben. Sie lesen gern Romane, überblättern aber meistens dunkle oder philosophische Passagen. Das Kunstpublikum, der Geist, liest und schätzt auch die ganz großen Autoren wie Herder, Goethe, Lessing oder Wieland. In der Weihnachtszeit 1794 kommt Jean Paul in das Kontor seines ehemaligen Arbeitgebers, des Geschäftsmanns Jakob Öhrmann. Er hat einen Brief für ihn abzugeben, aber im Grunde gilt sein Besuch Öhrmanns romantisch veranlagter Tochter Pauline, der er aus seinen Werken vorliest, sobald der Vater eingeschlafen ist. Letzteres führt Jean Paul durch langweilige Reden herbei. Er liest Pauline zunächst aus dem Roman Hesperus vor, dann aus dem ersten Band des vorliegenden Werks.

Hochzeit des Armenadvokaten Siebenkäs

Der 28-jährige Armenadvokat Firmian Stanislaus Siebenkäs sitzt in dem kleinen Ort Kuhschnappel und wartet auf seine Braut, die 19-jährige Hutmacherin Lenette, die aus Augsburg anreist. Schulrat Stiefel nimmt sie in seinem Wagen mit. Die beiden kommen etwas später als geplant, weil Lenette noch mit ihrem Brautkleid beschäftigt war. Während der Trauung taucht plötzlich Heinrich Leibgeber auf, Siebenkäs’ bester Freund aus Studienzeiten, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht. Die beiden ähneln sich auch in ihrer satirischen Verachtung bürgerlicher Normen, wobei Leibgeber aber radikaler ist: Er würde nie heiraten. Als Zeichen ihrer tiefen Verbundenheit haben sie einst die Namen getauscht, Siebenkäs hieß also früher Leibgeber und Leibgeber Siebenkäs.

„Nur hatt’ er leider aus den Alten und aus seinem Humor eine unleugbare Verachtung gegen das Geld, dieses metallne Räderwerk des menschlichen Getriebes (...)“ (über Siebenkäs, S. 31)

Von der Hochzeit ist man allgemein gerührt und ergriffen, sowohl in der Kirche als auch beim Hochzeitsessen. Doch bald legt sich ein Schatten über die junge Ehe: Siebenkäs, der als Armenadvokat kaum Einkünfte hat, möchte sich eine Erbschaft auszahlen lassen, die sein Vormund, der Geheimrat Heimlicher von Blaise, für ihn verwaltet. Dieser rückt das Geld jedoch nicht heraus, mit der Begründung, durch den Namenstausch habe Siebenkäs sein Anrecht darauf verwirkt. Zwar hat Siebenkäs geglaubt, dem vorzubeugen, indem er sich von seinem Vormund die Anerkennung des neuen Namens schriftlich hat geben lassen, aber es stellt sich heraus, dass dieses Dokument mit verblassender Tinte geschrieben war, sodass es nun nicht mehr lesbar ist. Siebenkäs reicht bei der Erbschaftskammer eine Klage gegen von Blaise ein. All das verschweigt er Lenette.

Flitterwochen

Die Flitterwochen verlaufen glücklich. Siebenkäs findet seine Lenette zauberhaft. Zudem rührt ihn, dass sie weder seine ironischen Bemerkungen noch seine gelehrten Vorträge versteht. Sorgen macht ihm hingegen die finanzielle Situation. Er beschließt, ein satirisches Buch zu schreiben, um zu Geld zu kommen. Schulrat Stiefel, der manchmal zu Besuch kommt, engagiert ihn außerdem als Mitarbeiter für seine Literaturzeitschrift – ebenfalls keine verlässliche Einnahmequelle. Als Armenadvokat hat Siebenkäs eine Kindsmörderin zu verteidigen. Er will die drohende Folter für sie abwenden. In dieser Sache sucht ihn Everard Rosa von Meyern auf, ein Patrizier und stadtbekannter Verführer, der schlechte Gedichte schreibt und beim Heimlicher von Blaise ein und aus geht. Er ist der Vater des ermordeten Kindes und argwöhnt nun, dass Siebenkäs die Kindsmörderin, aus Rache für den Erbschaftsstreit, absichtlich schlecht verteidigen werde, um von Meyern mit ihrer Hinrichtung Schande zu bereiten. Siebenkäs entkräftet diesen Verdacht, indem er ihm eine ausformulierte und exzellente Verteidigungsschrift zeigt.

„Sie kommen aus Berlin und wollen meiner leiblichen Tochter da atheistisches windiges Romanenzeug in den Kopf setzen, daß sie in kein Kontor mehr taugt, wie?“ (Öhrmann zu Jean Paul, S. 143)

Der Schürzenjäger von Meyern versucht Lenette zu verführen. Sie verfällt ihm zwar nicht, doch gelingt es ihm, ihr einen Kuss aufzudrücken. Lenette hat nicht den Mut, gegenüber dem blaublütigen von Meyern Empörung zu zeigen. Er versucht, ihr eine Locke ihres Haars abzupressen, indem er als Gegenleistung verspricht, sich in der Erbschaftssache für ihren Mann zu verwenden. Lenette weiß aber gar nichts von der Angelegenheit und von Meyern ist gezwungen, ihr darüber zu berichten. Sie bricht in Tränen darüber aus, dass Siebenkäs ihr so viel verschwiegen hat und sie nicht weiß, ob der Name, den sie nun trägt, überhaupt der richtige ist. Schulrat Stiefel, der zufällig hinzukommt, tröstet Lenette.

Zwischenrede: Lese-Aus für die Kaufmannstochter

Als Jean Paul das nächste Mal bei den Öhrmanns ist, um Pauline weiter vorzulesen, stellt der Alte ihm eine Falle und tut nur so, als würde er schlafen. Es kommt zum Streit zwischen dem Autor und dem Kaufmann. Öhrmann hält Literatur für nutzloses Teufelszeug, das seiner Tochter Flausen in den Kopf setze. Es kommt zum Bruch, zum Abschied für immer, am Silvesterabend 1794.

Putzen, Schreiben, Armut

Auch Lenette macht sich nichts aus Literatur: Sie fegt, putzt und wienert unablässig in der kleinen Wohnung, während Siebenkäs versucht, in Ruhe an seiner Auswahl aus des Teufels Papieren zu schreiben. Es beginnt ein Ehekrieg ums Putzen und Schreiben, der immer heftiger wird. Trotz einiger Kompromissversuche erträgt Siebenkäs bald nicht mehr das kleinste Putzgeräusch. Nun stört ihn auch Lenettes Desinteresse an geistigen Dingen, etwa die Tatsache, dass sie nie einen seiner Texte liest. Gleichzeitig wird das Geld immer knapper und Siebenkäs sieht sich gezwungen, Haushaltsgegenstände zu verpfänden, sehr zum Verdruss von Lenette. Die Armut bedrängt und beschämt sie. Zudem irritiert sie, dass sich ihr Gatte nicht um gesellschaftliche Konventionen schert, zum Beispiel was die Kleidung betrifft. Sie argwöhnt, er sei ein Atheist. Der solide, fromme Schulrat Stiefel ist dagegen mehr nach Lenettes Geschmack. Ihr Verhalten ihm gegenüber deutet immer offensichtlicher auf eine Verliebtheit hin. Siebenkäs ist niedergeschlagen und hat Todesahnungen.

„Ein anderer, z. B. ich, hätte die Finger aufgehoben und geschworen, er seh’ ein Mädchen schweben, das heute vom Geliebten den ersten Kuß erlitten.“ (über Lenette und Stiefel, S. 212)

Dann kommt es zum Bruch mit Stiefel: Lenette hat ein Trauerkleid, das Siebenkäs schon lange verpfänden will, nun tatsächlich zum Pfandleiher gebracht, bereut das aber und vertraut sich Stiefel an. Der ist über Siebenkäs entrüstet und verlangt, dass Lenette das Kleid wiederbekommt. Siebenkäs verbittet sich die Einmischung, worauf Stiefel mit Wegbleiben droht und seine Drohung schließlich wahr macht. Nun herrscht Eiszeit zwischen den Eheleuten. Lenette redet kein Wort mehr mit ihrem Mann, sie verkehren nur noch schriftlich miteinander. Lenettes Liebe zu Stiefel steht offen im Raum. Siebenkäs ist einerseits eifersüchtig und fügt sich andererseits in diese Entwicklung. An Lenettes Geburtstag gibt es eine Versöhnung zu dritt. Siebenkäs verliert seinen Erbschaftsprozess wegen eines Formfehlers, geht in Berufung, verliert jedoch auch den zweiten Prozess. Er wird immer hoffnungsloser und kranker und rechnet mit seinem baldigen Ableben. Da schreibt ihm Leibgeber, er solle unbedingt nach Bayreuth kommen. Als Siebenkäs matt und lebensmüde absagt, wird Leibgeber dringlicher und schickt ihm Geld. Sechs Tage später macht Siebenkäs sich auf den Weg und lässt Lenette mit Stiefel zurück. Schon bald geht es ihm besser, er schöpft Glück aus der Natur.

Der Plan mit dem Tod

Kurz vor Bayreuth, im Park des Schlosses Fantaisie, begegnet er einer schönen Dame, die meint, ihn zu kennen. Sie verwechselt ihn mit Leibgeber, wie er bald von diesem erfährt. Es handelt sich um die kluge und gelehrte Natalie, eine verarmte Adelige, Nichte des Heimlichers von Blaise, die mit Rosa von Meyern verlobt ist, ohne ihn je gesehen zu haben. In wenigen Tagen steht von Meyerns Besuch an. Leibgeber pflegt mit Natalie eine platonische Freundschaft. Ganz ohne Eigennutz verfolgt er das Ziel, die Ehe zu verhindern. Er sieht in von Meyern nicht einen geeigneten Ehemann für sie. Als Leibgeber mit Siebenkäs über dessen eheliches Desaster spricht, hat er eine Idee: Siebenkäs soll zum Schein sterben und so dem Leiden ein Ende setzen. Der Plan sieht außerdem vor, dass Siebenkäs danach wieder Leibgeber heißen und an Leibgebers Stelle vier Wochen später das gut dotierte Amt eines Verwaltungsinspektors in Vaduz antreten soll. Der jetzige Leibgeber hält sich ohnehin für unfähig, ein Amt auszufüllen. Er will verschwinden und in der Welt herumreisen. Natalie kann auch von der Sache profitieren, nämlich indem sie sich als seine Frau ausgibt und sich bei der preußischen Witwenkasse auf seinen Tod versichern lässt, um dann eine jährliche Pension zu bekommen. Siebenkäs willigt in den verrückten Plan ein.

Entlobte und Verliebte

Nun muss noch Natalies Ehe mit Rosa von Meyern verhindert werden. Leibgeber legt ihr dessen Sündenregister offen. Natalie fühlt sich desillusioniert, denn durch seine Briefe hatte von Meyern sie durchaus für sich eingenommen. Als dieser dann endlich vor ihr steht, erklärt sie die Verlobung für beendet – was bedeutet, dass sie von nun ohne die Unterstützung des Heimlichers von Blaise zurechtkommen und zu ihrer in Armut lebenden Familie zurückkehren muss. Den ganzen nächsten Tag und Abend verbringt Siebenkäs mit Natalie. Die beiden sind voneinander hingerissen. Siebenkäs lässt durchblicken, dass er demnächst verschwinden, ja sterben werde und dass dies ein Abschied für immer sei. Natalie sinkt getroffen in seine Arme, unter Küssen schwören sie sich, dass sie sich nie wiedersehen werden. Nun muss aber noch Natalies Zusage zum Plan mit der Witwenpension eingeholt werden. Das übernimmt Leibgeber. Kurz vor ihrer Abfahrt weiht er sie ein. Weinend stimmt sie zu.

Eifersucht und Scheintod

Siebenkäs kehrt nach Kuhschnappel zurück. Hier muss er feststellen, dass Lenette über Natalie informiert ist – der so schnöde entlobte von Meyern hat geplaudert. Lenette zeigt sich eifersüchtig auf die gelehrte Natalie, und das, obwohl sie selbst in Siebenkäs’ Abwesenheit den Schulrat geküsst hat. Siebenkäs bereitet nun seinen Scheintod vor. Leibgeber kommt und erscheint Lenette als Siebenkäs’ Geist. Der Spuk wird allgemein als Zeichen ausgelegt, dass Siebenkäs bald sterben wird. Siebenkäs und Leibgeber beschließen, dass Siebenkäs an einem dreifachen Schlaganfall sterben soll. Nach dem ersten Schlaganfall gibt er sich halbseitig gelähmt. Lenette ist erschüttert. Ein Arzt will Siebenkäs ein Brechmittel einflößen. Leibgeber hat Mühe ihn fernzuhalten. Siebenkäs setzt sein Testament auf und erlaubt sich damit einen Scherz: Unter anderem kündigt er an, von Blaise als Gespenst verfolgen zu wollen, sollte der die Erbschaft nicht an die Witwe herausgeben. Schließlich verkündet Leibgeber den Tod seines Freundes. Nun muss er dafür sorgen, dass niemand dem angeblichen Leichnam zu nahe kommt. Ein Friseur, der dem toten Siebenkäs die Haare richten will, wird mit einem Totenschädel verschreckt, den Siebenkäs unter dem Bett versteckt hat. Nachdem Leibgeber mit dem tief betrübten Siebenkäs verabredet hat, er solle in Hof an der Saale auf ihn warten, packt er einen Stein in den Sarg, um das Gewicht eines Leichnams vorzutäuschen.

Die zwei Witwen

Siebenkäs heißt nun offiziell wieder Leibgeber. Unter diesem Namen wird er Inspektor in Vaduz. Der feinsinnige Graf ist nicht nur zufrieden mit seiner juristischen Arbeit, sondern lobt auch im höchsten Maß die Papiere des Teufels, Siebenkäs’ literarisches Werk. Siebenkäs ist trotz der Zuneigung seines Arbeitgebers einsam und findet keine Freude an der Arbeit. Den Betrug an der preußischen Witwenkasse hat er durch anonyme Zahlungen bald ausgeglichen. Dann kommt ein Brief von Natalie an Leibgeber. Sie will die Tochter des Grafen besuchen und kündigt ein Wiedersehen an. Sie äußert auch ihren Schmerz über Siebenkäs’ Tod. Siebenkäs, der ja Leibgebers Stelle innehat, weiß nicht, wie er reagieren soll und antwortet ihr aus Unschlüssigkeit gar nicht. Auch von Stiefel kommt ein Brief an den vermeintlichen Leibgeber: Der Schulrat hat Lenette geheiratet. Sie ist schwanger. Der Heimlicher von Blaise hat die Erbschaft tatsächlich herausgerückt, weil ihm ein Gespenst erschienen ist. Das Gespenst war natürlich kein anderer als Leibgeber.

„Es kann, d. h. es muß noch eine Zeit kommen, wo es die Moral befiehlt, nicht bloß andere ungequält zu lassen, sondern auch sich; es muß eine Zeit kommen, wo der Mensch schon auf der Erde die meisten Tränen abwischt, und wär’ es nur aus Stolz.“ (S. 215)

Der Graf findet Siebenkäs ungewohnt bedrückt und still. Da vertraut Siebenkäs alias Leibgeber dem gutmütigen Mann sein Geheimnis an. Der nimmt es ohne Vorwurf auf. Siebenkäs flieht jetzt nach Kuhschnappel, um das Treffen mit Natalie zu vermeiden. Ein Jahr ist seit seinem vermeintlichen Tod vergangen und er möchte sein Grab sehen, auch Lenette von fern und vielleicht ihr Kind. Doch auf dem Friedhof entdeckt er zu seinem Entsetzen, dass Lenette gestorben ist, im Wochenbett mit einem tot geborenen Mädchen. Unerwartet trifft er Natalie auf dem Friedhof, die gekommen ist, um sein Grab und seinen Heimatort Kuhschnappel zu sehen. Sie hält ihn zuerst für eine Erscheinung, aber er offenbart ihr alles, und sie schwören einander ewige Treue.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der vollständige Titel des Werks lautet Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel. Die rund 640 Seiten des Siebenkäs sind in vier „Bändchen“ gegliedert. Diese umfassen insgesamt 25 Kapitel – die „Dornenstücke“ – sowie einige eingeschobene Texte – die „Fruchtstücke“ und die „Blumenstücke“. In den „Dornenstücken“ ist die eigentliche Handlung um Siebenkäs untergebracht, die in den Jahren 1785 bis 1787 spielt. Schon darin finden sich zahlreiche Exkurse, die zum Teil ganze Kapitel in Anspruch nehmen, etwa die Erläuterung der Verfassung von Kuhschnappel. Die „Fruchtstücke“ und die „Blumenstücke“ haben scheinbar gar nichts mit der Haupthandlung zu tun, sie brechen die Fiktion auf und verweisen auf kosmische Sphären, so etwa die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei. Der Ton des Romans schwankt stark und unvermittelt zwischen Realismus, Satire und hymnischen Höhenflügen. Zentral ist die Figur des Erzählers, der zumeist als der Autor Jean Paul persönlich auftritt: Er hält mit seiner Sprachlust die unterschiedlichen Anteile und Tonlagen zusammen, er erzählt bildreich, humorvoll, mitleidend; er kommentiert, verallgemeinert, unterbricht und lenkt so das Augenmerk auf das Erzählen an sich.

Interpretationsansätze

  • Jean Pauls Siebenkäs gilt als erster realistischer Eheroman der deutschen Literaturgeschichte. Anhand des Gegensatzes zwischen dem freigeistigen Siebenkäs und seiner eher bodenständigen, ja bisweilen kleingeistigen Frau Lenette illustriert Jean Paul den allgemeinen Konflikt zwischen Gesellschaft und Individuum, zwischen Bürgerlichkeit und Seele.
  • Die positiv besetzten Begriffe im Siebenkäs, Humor, Literatur, Philosophie, Naturerlebnis, Freundschaft und Liebe, nehmen den Wertekanon der in Deutschland um 1795 aufkeimenden Romantik voraus.
  • Siebenkäs durchlebt symbolisch das Leiden, den Tod und die Auferstehung Christi. Sein Scheintod verweist auf das Heilsgeschehen und darauf, dass sich die Seele aus der unwirtlichen Welt des Körperlichen befreien kann.
  • Auffällig unkörperlich sind auch Siebenkäs’ Liebeserlebnisse. Aus dem ganzen Ehegeschehen bleibt die Sexualität praktisch ausgeklammert; Lenette bleibt die dumme Tochter, und die Traumgeliebte Natalie rückt Siebenkäs in möglichst unerreichbare Ferne – auch das ein Symptom seiner Sexualangst. Kurz vor dem Ende flieht er sogar vor ihr, und der Roman bricht da ab, wo sie sich für immer vereinen.
  • Alle Figuren sind nach ihrem Verhältnis zum Geld charakterisiert. Siebenkäs und Natalie leben in Armut und verachten das Geld, gerade deswegen aber bekommen sie es letztlich. Lenette ist auch wegen ihres sozialen Status vom Geld abhängig; Öhrmann giert nach Geld und von Blaise ist sogar ein Betrüger. Er steht auf der untersten Stufe.
  • Leibgeber verkörpert die völlige Narrenfreiheit und Einsamkeit des radikalen Sonderlings. Er erhebt sich ganz über die Normen der Gesellschaft und ist damit das zweite, befreite Ich des in der bürgerlichen Welt gefangenen Siebenkäs.

Historischer Hintergrund

Von der Ständegesellschaft zum bürgerlichen Zeitalter

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts bestand das Deutsche Reich aus zahllosen Kleinstaaten. Die Wirtschaft wurde durch unzählige Grenzen und Zölle gehemmt, das politische System war vom Absolutismus geprägt, in der Gesellschaft galt die jahrhundertealte Ständeordnung – auch wenn einzelne Herrscher sich nicht unbeeindruckt von der Aufklärung zeigten, wie Friedrich der Große, seit 1740 König in Preußen, der nach den Prinzipien eines aufgeklärten Absolutismus regierte. Die deutsche Nation war ein Konstrukt in den Köpfen der Gebildeten und ging von der sprachlichen und kulturellen Einheit aus, dessen gefühltes Zentrum Weimar und damit Goethe war.

Mit den französischen Truppen kam die Idee der Französischen Revolution nach Deutschland, die allerdings ab 1795 in blutigen Terror mündete. 1806 besiegte Napoleon bei Jena und Auerstedt das preußische Heer; das war das Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Unter dem Eindruck dieser Niederlage setzte sich in Preußen und anderen deutschen Staaten die Erkenntnis durch, dass politische Reformen notwendig waren. Das Ergebnis war der Versuch einer „Revolution von oben“, einer Modernisierung des Staates durch Reformen wie die Abschaffung der Zünfte. Auch wenn der Wiener Kongress 1814/15 Europa erneut nach feudalen Prinzipien aufteilte: Der Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft hatte enorm an Geschwindigkeit gewonnen, und mit der alten Unfreiheit verschwanden auch die Sicherheiten der Weltdeutung und des Zusammenlebens. Freilich bedeutete die neue, marktorientierte Ordnung, in der Individuen sich mit ihrer selbstverantworteten Leistung frei und gleich gegenübertraten, nicht das Ende sozialer Unterschiede: In Wirklichkeit hatten die einen das Geld und die Produktionsmittel, und die anderen verkauften ihre Arbeitskraft – die Ständegesellschaft wurde langsam durch die Klassengesellschaft abgelöst.

Entstehung

Der Berliner Verleger des Hesperus, Carl Matzdorff, fragte Jean Paul im Sommer 1795 nach einem neuen Werk, quasi als Ausgleich für Quintus Fixlein, der bei einem Bayreuther Buchhändler erschienen war. Man plante eine Satirensammlung, die sich um eine „kleine Idylle“ ranken sollte – deren Keimzelle wiederum war das Motiv des Scheintods. Damit griff Jean Paul eine satirische Skizze aus dem Jahr 1789 auf (Meine lebendige Begrabung). Die kleine Idylle wuchs sich dann immer mehr zum Roman aus, aber die eingeschobenen „Blumen- und Fruchtstücke“ zeugen immer noch von der ursprünglichen Anlage. Er schrieb den Text 1795/96 und überarbeitete ihn 1817/18.

Der Roman enthält einige autobiografische Bezüge: So sind die Kämpfe ums Putzen und Schreiben zwar nicht Jean Pauls eigene Eheerfahrungen – er schrieb sozusagen einen Eheroman, ohne zu diesem Zeitpunkt selbst verheiratet zu sein –, doch sie gehen auf die Zeit Ende 1784 zurück, als er vor seinen Gläubigern zurück zu seiner Mutter in die Kleinstadt Hof geflohen war. Mit seiner unablässig putzenden Mutter teilte er in großer Armut ein Zimmer und schrieb die Teufelspapiere, die 1789 anonym und ohne nennenswerten Erfolg erschienen. Das Vorbild für die Figur des Leibgeber war Jean Pauls Jugendfreund Johann Bernhard Hermann, den er 1779 in Hof kennengelernt hatte.

Jean Paul plante eine Fortsetzung des Romans, doch obwohl er viele Vorarbeiten ausführte, kam es nie dazu. Laut verschiedenen Kommentatoren scheiterte er letztlich an der Frage, wie die Ehe zu Natalie, der Traumgeliebten, die für das Unendliche stand, denn hätte aussehen können, ohne sich ebenfalls in den Niederungen der Wirklichkeit wiederzufinden.

Wirkungsgeschichte

Jean Pauls Zeitgenossen nahmen den Roman bei seinem ersten Erscheinen eher zurückhaltend auf, was aber zum Teil moralischen Bedenken geschuldet war. Mit der überarbeiteten Neuauflage von 1818 wurde er dann sehr bekannt und zählte bald zu seinen meistgedruckten Werken. Es gab Übersetzungen ins Englische, Französische, Russische und Italienische; dabei wurden die Beitexte zur Romanhandlung oft auch weggelassen. Andererseits wurde einer der Beitexte, die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei, oft aus dem Romanzusammenhang herausgelöst verbreitet und auch übersetzt. Diese apokalyptische Traumdichtung hatte großen Einfluss auf viele europäische Dichter des 19. Jahrhunderts, die sich für das darin ausgedrückte Gefühl des Nihilismus interessierten.

In anderen Autoren weitergewirkt haben auch die sozialkritischen Schilderungen der Zustände in Kuhschnappel, und die Figur des Leibgeber wirkte etwa in den August Klingemann zugeschriebenen Nachtwachen von Bonaventura, in Ludwig Tiecks Des Lebens Überfluß und in Adalbert Stifters Feldblumen nach.

Über den Autor

Jean Paul (so der Künstlername von Johann Paul Friedrich Richter) wird am 21. März 1763 im fränkischen Wunsiedel als Sohn eines protestantischen Dorfpfarrers geboren. Mit 16 Jahren kommt der wissbegierige Junge, der alles liest, was er in die Hände bekommt, auf das Gymnasium in Hof. Der Tod des Vaters im gleichen Jahr stürzt die Familie in schwere Not. Um Johann und seine vier jüngeren Brüder ernähren zu können, arbeitet die Mutter als Spinnerin. Das Studium der Theologie in Leipzig, das er 1781 aufnimmt, kann er kaum finanzieren. Der hochgebildete Autodidakt, der nebenbei Vorlesungen der Philosophie und Mathematik besucht, wird auch von Heimweh bedrängt. Seine durch die Armut entstandene Außenseiterrolle betont er selbstbewusst mit auffallender Kleidung und offenem Haar. Strebsam verfolgt er das Ziel, allein vom Schreiben leben zu können. Zunächst aber muss er sich sein Brot mit einer Anstellung als Hauslehrer verdienen, die er nach seiner Rückkehr zur Mutter 1786 antritt. In der bayerischen Provinz, wo er in beengten Verhältnissen lebt, entwickelt der begeisterte Pädagoge seine eigenen Lehrmethoden. Nebenbei verfasst Jean Paul satirische Schriften und seinen ersten Roman Die unsichtbare Loge (1793), der seinen Ruhm als Schriftsteller begründet. Hier verwendet er auch zum ersten Mal seinen Künstlernamen, in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau, für den er eine große Bewunderung hegt. Es folgt der Roman Hesperus (1795). Dieser wird begeistert aufgenommen und verkauft sich gut. Mit 38 Jahren heiratet Jean Paul – der sich zwar mehrmals verlobt hat und viele Liebesbriefwechsel pflegt, aber wohl noch keusch ist – Karoline Mayer. Nach den Misserfolgen mit Titan (1803) und Flegeljahre (1804/05) siedelt er mit seiner Frau und den zwei Kindern nach Bayreuth. Dort wird ein drittes Kind geboren. Er zieht sich von der Familie zurück, reist viel, arbeitet wie besessen und wirkt – aufgedunsen durch seinen maßlosen Bierkonsum – älter, als er eigentlich ist. Den Tod seines Sohnes Max, von dem er erwartete, er werde in seine Fußstapfen treten, verwindet er nicht. Vier Jahre später stirbt Jean Paul – inzwischen fast erblindet – am 14. November 1825 in Bayreuth.

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