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Apologie des Sokrates

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Apologie des Sokrates

Reclam,

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10 take-aways
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What's inside?

Sokrates vor Gericht: ein Meisterstück antiker Rhetorik.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Griechische Antike

Worum es geht

Platons philosophisches Lebensideal

Im Jahr 399 v. Chr. wurde Sokrates wegen Leugnung der staatlich anerkannten Götter und Verführung der Jugend vom Athener Rat zum Tod verurteilt. Zehn bis 20 Jahre nach dem weltberühmten Justizfall verfasste sein Schüler Platon, der bei dem Prozess zugegen war, die Apologie des Sokrates. Die Verteidigungsrede ist jedoch keine historisch korrekte Darstellung der Ereignisse, sondern vielmehr ein Entwurf von Platons philosophischem Lebensideal. Ihm zufolge ist es die Aufgabe des Philosophen, öffentlich anerkannte Weisheiten infrage zu stellen und die Mitmenschen zu einem tugendhaften Leben anzuleiten. Geld und Ansehen, Karriere und Ämter stehen laut Platon dem Glück im Weg. Bevor die Menschen sich mit politischen Angelegenheiten befassen, sollen sie sich zuerst um sich selbst, um ihre Seele kümmern. Wer nach diesen Grundsätzen lebt, das führt uns Platons Sokrates ebenso wortgewaltig wie eindringlich vor Augen, braucht selbst den Tod nicht zu fürchten. Mit ihrer zeitlosen Wahrheit und ihrer schlichten, beinahe alltäglichen Sprache zieht die Apologie des Sokrates den Leser in ihren Bann, heute ebenso wie vor 2400 Jahren.

Take-aways

  • Platons Apologie des Sokrates zählt zu den großen Texten der antiken Philosophie.
  • Inhalt: Sokrates muss sich wegen Gottesleugnung und Verführung der Jugend vor Gericht verantworten. In seiner Verteidigungsrede entwirft er das Lebensmodell eines Philosophen, der alle Weisheit hinterfragt, den Menschen ihre Beschränktheit vorführt und weder öffentliche Schmach noch Tod fürchtet.
  • Platon, der 399 v. Chr. bei dem Prozess gegen Sokrates zugegen war, verfasste die Apologie ein bis zwei Jahrzehnte nach der Hinrichtung seines verehrten Lehrers.
  • Die Schrift bietet keine zuverlässige Darstellung der historischen Ereignisse, sondern ist eine literarische Schöpfung.
  • Es geht Platon weniger um Faktentreue und historische Authentizität als vielmehr um den Entwurf seiner Philosophie des idealen Lebens.
  • Obwohl Sokrates idealisiert wird, liefert die Schrift doch manche biografische Information über ihn.
  • Die Apologie bedient sich einer schlichten, alltäglichen Sprache und ist gerade deshalb ein Meisterstück antiker Redekunst.
  • Mit seinem Werk beeinflusste Platon maßgeblich das Sokratesbild der Nachwelt.
  • Spätere Philosophen wie Epiktet oder Michel de Montaigne priesen Sokrates’ Haltung zum Tod als mustergültig.
  • Zitat: „Doch jetzt ist’s Zeit fortzugehen: für mich, um zu sterben, für euch, um zu leben. Wer von uns dem besseren Los entgegengeht, ist uns allen unbekannt – das weiß nur Gott.“

Zusammenfassung

Die Wahrheit der ungeschliffenen Rede

Sokrates wendet sich an die Männer von Athen, um sich gegen seine Ankläger zu verteidigen. Diese haben sich zwar in ihrer Anklageschrift aller rhetorischen Mittel bedient, die Wahrheit aber haben sie nicht gesagt. Er selbst verzichtet auf kunstvolle sprachliche Mittel, dafür aber spricht er die Wahrheit – und vielleicht gilt er gerade deshalb als gefährlich. Zudem steht er mit seinen 70 Jahren das erste Mal im Leben von Gericht und kennt sich mit den dort gängigen Redeweisen nicht aus. Er fordert die Richter auf, weniger darauf zu achten, wie er spricht, sondern vor allem darauf, was er sagt.

Der Kampf gegen die öffentliche Meinung

Sokrates sieht sich als Opfer einer jahrelangen Verleumdungskampagne. Die Leute, die unter dem Deckmantel der Anonymität Gerüchte über ihn verbreiten und behaupten, er beschäftige sich mit überirdischen Dingen, sind seine gefährlichsten Gegner. Schon seit Langem schüren sie den Verdacht, er bezweifle die Existenz der Götter, huldige dämonischen Wesen und befasse sich mit der Kunst, schwächere Argumente gegen stärkere durchzusetzen. Diese Leute schädigen seinen Ruf, ohne ihm die Gelegenheit zu geben, sich zu verteidigen. Da sie im Verborgenen agieren, ist es schwer, sich zur Wehr zu setzen und ihre vagen Behauptungen zu widerlegen. Auch wenn es unmöglich erscheint, in so kurzer Zeit gegen tief sitzende Vorurteile anzukämpfen, will er es doch versuchen. Denn weder befasst er sich mit irgendwelchen unter- oder überirdischen Phänomenen, noch unterrichtet er gegen Bezahlung junge Menschen, wie ihm von der Anklage unterstellt wird. Er tut nichts anderes, als sich mit einer bestimmten Art von Weisheit zu beschäftigen – einer „Weisheit von menschlichem Maß“.

Weisheit ist Wissen um die eigene Beschränktheit

Der Grund für Sokrates’ schlechten Ruf liegt in der folgenden Begebenheit: Auf die Frage seines Freundes Chairephon tat das Orakel von Delphi kund, es gebe keinen weiseren Mann als Sokrates. Dieser allerdings bezweifelte das Urteil und erkannte in dem Orakelspruch ein Rätsel, das der Gott ihm aufgegeben hatte. Er suchte Männer auf, die als weise galten, um festzustellen, dass er immer doch noch ein wenig weiser war als sie. Denn im Unterschied zu ihnen war sich Sokrates seiner Beschränktheit bewusst, während sie sich einbildeten, besonders viel zu wissen, obwohl sie nichts wussten.

„Welche Wirkung, Männer von Athen, meine Ankläger auf euch ausgeübt haben, weiß ich nicht. Denn ich selbst hätte unter ihrem Eindruck beinahe mich selbst vergessen, so bestechend sprachen sie. Indes, die Wahrheit haben sie eigentlich keinen Augenblick gesagt.“ (S. 5)

Im Laufe seiner Untersuchung musste er feststellen, dass diejenigen, die allgemein als besonders weise galten und sich auch selbst so einschätzten, in Wirklichkeit die schlichtesten Gemüter waren, während andere, die weniger Ansehen genossen, immerhin die Fähigkeit zur Einsicht besaßen. Ob Dichter oder Politiker: Stets machten sie viele schöne Worte, ohne überhaupt zu wissen, was sie sagten, und hielten sich dabei noch für weiser, als sie waren. Allein unter den Handwerkern traf Sokrates auf Menschen, die tatsächlich ihre Kunst beherrschten. Doch auch sie bildeten sich ein, über diese speziellen Fähigkeiten hinaus weise zu sein, was nichts als ihre Beschränktheit beweist.

Der Philosoph im Auftrag Gottes

Fortan sah Sokrates seine Aufgabe darin, angeblich weise Menschen zu prüfen und ihre Unwissenheit bloßzustellen, was ihm viel Hass, aber auch Bewunderung – vor allem unter den Jungen – eintrug. Der Vorwurf, er habe die Jugend verdorben, ist vollkommen haltlos. Wie sollte ein Einzelner überhaupt dazu in der Lage sein? Und wer wird schon aus anderen absichtlich schlechte Menschen machen wollen, zumal er damit doch auch sich selbst schadet? Sollte er tatsächlich einen schlechten Einfluss auf die Jugend ausgeübt haben, wie ihm seine Hauptankläger unterstellen, dann höchstens unwillentlich. In diesem Fall aber dürfte er nicht bestraft werden. Man müsste ihn stattdessen allenfalls belehren und zu besserem Verhalten bekehren. Auch der Vorwurf, er glaube nicht an die vom Staat anerkannten Götter, wohl aber an Dämonen, ist absurd und lässt sich leicht entkräften. Dämonen sind laut Überlieferung Kinder, die aus der Verbindung zwischen Göttern und anderen Wesen hervorgehen, und wer an Dämonen glaubt, kann logischerweise kaum die Existenz von Göttern bestreiten.

„Ich bin heute zum ersten Male vor Gericht erschienen, mit siebzig Jahren; die hier übliche Redeweise ist mit daher völlig fremd.“ (S. 7)

Nicht diese vollkommen aus der Luft gegriffenen Punkte der Anklageschrift, die sich leicht widerlegen lassen, sondern sein schlechter Ruf und der allgemeine Hass werden Sokrates nun zum Verhängnis. Dabei hat er unter Einsatz seines Lebens und ohne Rücksicht auf seine eigenen Bedürfnisse den Auftrag, den er von einer inneren göttlichen Stimme erhalten hat, erfüllt: als Philosoph zu leben und sich selbst wie auch seine Mitmenschen sorgfältig zu prüfen. Er hat keine Angst vor dem Tod, denn er weiß nicht, was ihn im Jenseits erwartet, und gibt im Unterschied zu anderen auch nicht vor, es zu wissen.

„So scheint denn, ihr Männer, allein der Gott wahrhaft weise zu sein und mit seinem Orakelspruch eben dies zu meinen, dass die menschliche Weisheit nur wenig wert ist oder rein nichts.“ (S. 25)

Sollte man ihn unter der Bedingung begnadigen, in Zukunft die Hände von der Philosophie zu lassen, so würde er die Begnadigung ablehnen, denn er gehorcht nicht den Menschen, sondern allein dem göttlichen Auftrag. Solange er atmet, wird er philosophieren und den Menschen ins Gewissen reden, dass sie sich weniger um Geld, Ehre und Ansehen und mehr um Wahrheit, Vernunft und ihre Seele kümmern sollten. Falls man ihn aber zum Tod verurteilt, wäre der Schaden groß – weniger für ihn als für die Gemeinschaft. Er selbst kann Verurteilung, Verbannung und sogar den Tod hinnehmen, denn diese Dinge gehören nicht zu den größten Übeln. Athen aber würde einen immensen Verlust erleiden, denn Gott hat ihn, Sokrates, der Stadt geschenkt, damit er die Bürger ständig aufrüttelt, sie ermahnt und sie in ihrem Bemühen, gute Menschen zu sein, bestärkt.

Enttäuschungen der Politik

Warum aber, mag man fragen, nutzt Sokrates für seinen göttlichen Auftrag nicht öffentliche Foren wie die Volksversammlung, statt mühsam jeden einzelnen Bürger zu belehren? Die Antwort: Seine innere Stimme, auf die er schon seit seiner Jugend hört, hält ihn davon ab – zu Recht. Wäre er in die Politik gegangen, hätte er damit weder der Stadt noch sich selbst einen Dienst erwiesen. Denn wer öffentlich auf all die Ungerechtigkeiten und Rechtsbrüche hinweist, die im Namen des Staates begangen werden, riskiert sein Leben.

„Denn sich vor dem Tode zu fürchten, ihr Männer, das ist nichts anderes, als sich für weise zu halten, ohne dass man es ist.“ (S. 47)

Aus seiner Erfahrung als Ratsherr – dem einzigen öffentlichen Amt, das er je bekleidet hat – hat er gelernt. Sowohl unter der demokratischen als auch unter der darauf folgenden oligarchischen Regierung weigerte er sich, widergesetzliche Beschlüsse mitzutragen und unrechtmäßige Befehle auszuführen. Dafür wäre er beinahe eingesperrt und zum Tode verurteilt worden. Um Unrecht zu verhindern, setzte er sein Leben aufs Spiel und ließ sich – wie viele Zeugen bestätigen können – von keiner Regierung einschüchtern oder dazu bringen, Zugeständnisse zu machen.

Die Macht der Wahrheit

Sokrates ist nie als Lehrer aufgetreten und hat niemals Unterricht erteilt oder ein bestimmtes Wissen vermittelt. Auch ist er niemals für seine Gespräche bezahlt worden. Ob Jung oder Alt, Arm oder Reich – wer ihm zuhören wollte, konnte das einfach tun. Warum aber hörten ihm die Leute so gerne zu? Sie hatten eben Vergnügen daran, zu sehen, wie Menschen, die sich für besonders weise hielten, als unwissend entlarvt wurden. Wenn er damit wirklich die Jungen verdorben oder ihnen Schaden zugefügt hätte, so wäre doch zu erwarten, dass sie oder zumindest ihre Verwandten ihn vor Gericht gebracht oder sich an ihm gerächt hätten. Doch das Gegenteil ist der Fall: Alle, die er verdorben haben soll, und auch ihre nächsten Angehörigen sind bereit, ihm in seiner jetzigen Lage zu helfen, weil sie wissen, dass er die Wahrheit spricht.

„Und ist nicht ebendies die viel geschmähte Unbelehrtheit: zu glauben, man wisse, was man nicht weiß?“ (S. 47)

Im Unterschied zu anderen Angeklagten verzichtet Sokrates darauf, an das Mitleid des Gerichts zu appellieren und mit Hinweis auf seine armen Kinder um Gnade zu flehen – nicht etwa aus Hochmut, sondern weil es sich für einen Mann seines Rufes so gehört. Tränen und Todesangst sind eines Mannes und erst recht eines Atheners nicht würdig. Öffentliche Rührstücke schaden dem Ruf der Stadt und sollten allgemein verpönt sein. Vor Gericht gilt es nicht, um Gnade zu flehen, sondern die Richter, die allein dem Gesetz verpflichtet sind und nicht willkürlich urteilen dürfen, mit der Wahrheit und mit guten Argumenten zu überzeugen.

Ein angemessenes Strafmaß

Dass das Gericht ihn nicht freisprechen würde, hat Sokrates erwartet. Was ihn indes überrascht, ist das Stimmenverhältnis: Er hätte gedacht, dass eine deutlichere Mehrheit der Richter ihn für schuldig erklären würde. Das zeigt einmal mehr, auf welch wackligen Füßen der ganze Prozess steht und wie wenig Rückhalt die Ankläger haben. Dem Antrag der Ankläger auf Todesstrafe hat er wenig zu entgegnen. Welche Strafe verdient denn auch jemand, der ohne Rücksicht auf eigene Bedürfnisse sein Leben lang für die Menschen da gewesen ist? Der sich unter Verzicht auf Besitz, Ämter und eine Karriere in Parteien oder Gruppierungen stets für Gerechtigkeit und das Allgemeinwohl eingesetzt hat? Der jeden Einzelnen dazu bringen wollte, sich zuallererst um sich selbst zu kümmern und möglichst gut und vernünftig zu werden, ehe er sich mit politischen Dingen befasste? Ein solcher armer Wohltäter hätte ein tägliches freies Mittagessen im Amtshaus der Stadt verdient – eher jedenfalls als die Olympiasieger, denen diese Ehre zukommt. Die nämlich machen die Menschen nur scheinbar glücklich, er hingegen tut das wirklich.

„Wenn ihr mich tötet als den, der ich zu sein behaupte, dann werdet ihr nicht so sehr mir Schaden zufügen als vielmehr euch selbst.“ (S. 51)

Der Tod ist keine Strafe, denn niemand weiß, ob er letztlich etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist. Für welche Strafe soll er als Angeklagter also plädieren? Unangemessen hart erscheinen ihm Gefängnis oder eine hohe Geldbuße, die er ohnehin nicht bezahlen könnte, weshalb er dann in Haft genommen würde. Einen Antrag auf Verbannung, dem das Gericht höchstwahrscheinlich stattgeben würde, wird er ebenfalls nicht stellen. Die Aussicht darauf, in seinem hohen Alter immer wieder verjagt zu werden und von einer Stadt in die andere zu ziehen, scheint ihm wenig verlockend. Denn eines sicher: Wo immer er leben würde, stets würde er mit seinen Reden die jungen Leuten um sich scharen und sie begeistern, den Unmut der Älteren auf sich ziehen und schließlich wieder vertrieben werden.

„Ich bin ja nie jemandes Lehrer gewesen.“ (S. 59)

Manch einer wird nicht verstehen, warum Sokrates nicht einfach in die Verbannung geht, um dort ein ruhiges Leben zu führen. Zum einen würde er damit den Auftrag, die Menschen zu verbessern, missachten. Und zum anderen erscheint ihm ein Leben ohne die Philosophie, ohne die täglichen Gespräche über sittliche Fragen und Prüfungen eigener wie auch fremder Auffassungen nicht lebenswert. Als Strafe für seine angeblichen Verfehlungen schlägt er daher eine Geldbuße von 30 Silberminen vor, für deren Bezahlung seine Freunde bürgen.

Der Tod als erstrebenswertes Gut

Zum Tod verurteilt, möchte Sokrates vor seinem Abschied noch einen Blick in die Zukunft werfen. Die Athener, die nun für die Todesstrafe gestimmt haben, werden sich von der Nachwelt den Vorwurf gefallen lassen müssen, sie hätten den Weisen Sokrates umgebracht. Dabei wäre er, ein Mann in fortgeschrittenem Alter, in absehbarer Zeit ohnehin gestorben. Durch Bitten, Jammern und Klagen hätte er das Gericht umstimmen und das Urteil abwenden können. Er aber hat es vorgezogen, sich auf vernünftige Weise zu verteidigen, und nimmt dafür den Tod in Kauf. Im Vergleich zu der Schuld, die seine Ankläger mit dem Urteilsspruch auf sich laden, ist der Tod noch das kleinere Übel. Offenbar hoffen die Athener, künftig unangenehmen Fragen nach ihrem Verhalten und ihrer Lebensführung zu entgehen, indem sie Sokrates töten. Doch ihrer Verantwortung können sie sich nicht entziehen: die nachfolgende Generation wird hartnäckig weiterfragen. Statt ihn zu töten, sollten sie lieber an sich selbst arbeiten, um bessere Menschen zu werden.

„Denn weder vor Gericht noch im Kriege darf ich oder sonst wer sich dahin bringen lassen, dass er alles tut, um dem Tode zu entrinnen.“ (S. 79)

Seinen Freunden, die für Freispruch plädiert haben, möchte er noch erklären, welchen höheren Sinn er in der ganzen Sache sieht. Seine innere Stimme, der er stets folgt und die ihn immer gewarnt hat, wenn er im Begriff war, etwas Falsches zu tun, hat sich diesmal nicht geregt. Das bestärkt ihn in der Überzeugung, dass er mit seiner bewussten Entscheidung für den Tod richtig gehandelt hat. Wenn man davon ausgeht, dass der Tod ein langer traum- und empfindungsloser Schlaf ist, so dürfte das ein sehr angenehmer, ja erstrebenswerter Zustand sein. Nimmt man dagegen an, der Tod sei eine Reise der Seele, ein Übergang von einem Ort zu einem anderen, an dem sich die Toten versammeln, dann wäre es sogar ein großes Glück, zu sterben. Im Hades würde er mit vielen bemerkenswerten Verstorbenen zusammentreffen und seine Lebensaufgabe fortführen: mit den Leuten reden, ihnen unbequeme Fragen stellen und prüfen, ob sie tatsächlich so weise sind, wie sie nach außen hin erscheinen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Platons kaum 50 Seiten umfassende Apologie des Sokrates ist ursprünglich aus einem Guss verfasst und wurde erst nachträglich in 33 kürzere Abschnitte unterteilt. Formal folgt die Verteidigungsrede, die Platon dem zum Tod verurteilten Sokrates in den Mund legt, den Vorgaben der athenischen Gerichtspraxis: Im ersten Teil setzt sich der Angeklagte detailliert mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen auseinander; im zweiten geht er, nachdem er für schuldig befunden wurde, auf das Strafmaß ein. Zum Schluss, nach der Verkündung des Strafmaßes, wendet er sich mit Abschiedsworten an die Richter und an seine Freunde. Selbst in dieser emotionalen und bewegenden Situation argumentiert er sachlich und kühl. Immer wieder nimmt Sokrates zunächst die Position seiner Ankläger ein, um ihre Argumente anschließend im Hin und Her des Dialogs zu zerpflücken und als unhaltbar zu entlarven. Die einleitende Bemerkung, er verzichte bewusst auf kunstvolle Wendungen und stilistische Finessen, ist nicht bloß als Bescheidenheitsfloskel zu verstehen. Tatsächlich bedient sich die Apologie einer einfachen, beinahe alltäglichen Sprache und stellt gerade in ihrer Schlichtheit ein Meisterstück der Redekunst dar.

Interpretationsansätze

  • Die Apologie des Sokrates ist kein sachlicher Bericht, sondern eine literarische Schöpfung. Platon ging es weniger um historische Authentizität und Faktentreue als vielmehr um den Entwurf eines philosophischen Lebensideals, das er in seinem Meister und Lehrer Sokrates verkörpert sah.
  • Zwar wird kein wirklichkeitsgetreues, sondern ein idealisiertes Porträt von Sokrates vermittelt. Trotzdem liefert die Schrift, die zu den Wegbereitern der literarischen Gattung der Biografie zählt, manch historisches Detail und einen realistischen Einblick in das Leben und Wirken des Philosophen.
  • Mit der Betonung, er habe für seine Lehren niemals Geld genommen, grenzt sich Sokrates von den Sophisten ab, die ihre Schüler – vor allem reiche Bürger adliger Herkunft – gegen Bezahlung unterrichteten. Für viele Zeitgenossen gehörte Sokrates in der Tat zu den Sophisten, nicht aber für Platon, der jenen vorwarf, sie würden ihre angeblichen Weisheiten dem Meistbietenden verkaufen.
  • Das Wort „Dämon“ bezeichnet im Griechischen („daimon“) in der Regel niedere übernatürliche Wesen, die von den Göttern des Olymps zu unterscheiden sind. Wenn Sokrates von „daimonion“ spricht, bezieht er sich auf die innere göttliche Stimme, die ihm sagt, was er zu tun hat.
  • Trotz der – oberflächlich betrachtet – individualistischen Tendenz hat Sokrates’ Rede unverkennbar auch eine politische Dimension: Nur wer sich um die eigene Seele und Tugend sorgt, kann sich auch um die Polis, um öffentliche Angelegenheiten und Tagespolitik sowie um die Gemeinschaft der Bürger selbst, kümmern.
  • In Platons Ethik ist Tugend gleichbedeutend mit dem Wissen um die Idee des Guten. Nur wer eine Vorstellung von den Ideen hinter den Begriffen Gerechtigkeit, Tapferkeit oder Besonnenheit hat, kann erkennen, ob eine Handlung gerecht, tapfer oder besonnen ist. Wer dieses – keineswegs theoretische, sondern praktische – Wissen besitzt, kann gar nicht anders als richtig, also tugendhaft, handeln.
  • Tugend ist bei Platon die Bedingung für ein gelingendes, glückliches Leben. Im Unterschied zum modernen Glücksbegriff beruht Glück hier nicht auf subjektiver Empfindung, sondern auf objektiver Erkenntnis. Für einen glücklichen, also tugendhaften Menschen, der für die Philosophie gelebt hat, stellt auch vermeintlich Schlimmes wie der Tod kein Übel dar.

Historischer Hintergrund

Athen in Zeiten des Umbruchs

Obwohl die Privilegien des Adels immer weiter beschnitten wurden und demokratische Tendenzen zunahmen, herrschte im Athen des fünften Jahrhunderts v. Chr. immer noch eine konservative Denkart vor. Erst mit den Sophisten, die jegliche Tradition und menschliche Erkenntnismöglichkeit infrage stellten, hielt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein neuer, aufklärerischer Geist Einzug in die Stadt. Philosophen wie Gorgias, Anaxagoras, Prodikos und Protagoras erreichten mit ihren Lehren breitere Kreise. Gegen Bezahlung vermittelten sie ihren Schülern praktisches Wissen über Rhetorik und die Kunst der Argumentation – Fähigkeiten, die in der Demokratie von hohem Nutzen waren. Mit dem Beginn des Peloponnesischen Krieges im Jahr 431 v. Chr., der beinahe drei Jahrzehnte währte und den Stadtstaat Athen in den Grundfesten seiner Existenz erschütterte, wuchs indes die öffentliche Kritik an den Vertretern des Sophismus. In einem von Angst und Unsicherheit geprägten Klima gewannen konservative Kräfte wieder an Boden. Den kritischen Geistern warf man vor, sie trügen eine Mitschuld am katastrophalen Verlauf des Krieges, und es häuften sich Prozesse wegen Asebie, der Leugnung der Götter und der Beschäftigung mit Überirdischem. Allerdings war Sokrates der Erste, der deshalb zum Tode verurteilt wurde.

Als sich Sokrates 399 v. Chr. vor Gericht gegen den Vorwurf der Gottlosigkeit verteidigen musste, war der stadtbekannte Philosoph, der jahrzehntelang auf dem Marktplatz und in den Gassen Athens vor einem Publikum vorwiegend junger Leute seine Lehren verbreitet hatte, bereits 70 Jahre alt. Dass er nun angeklagt wurde, war auf keinen konkreten Anlass, sondern vielmehr auf die allgemeine Verunsicherung zurückzuführen, die in Athen nach der bitteren Kriegsniederlage gegen Sparta herrschte. In Zeiten allgemeiner Verwirrung boten Tradition und der althergebrachte Götterkult Halt, kritische Fragen hingegen wollte man nicht hören. Dass der Prozess allerdings mit einem Todesurteil enden würde, hatte niemand vorausgesehen. Angesichts der knappen Mehrheit, die in der ersten Abstimmung für „schuldig“ votierte – laut zuverlässigen Quellen waren es 280 der 501 Geschworenen –, hätte Sokrates die harte Strafe leicht abwenden können, doch das war gar nicht seine Absicht. Durch sein selbstbewusstes Auftreten vor der Versammlung trug er im Gegenteil dazu bei, dass rund ein Drittel der 221 Geschworenen, die in der ersten Abstimmung noch für „nicht schuldig“ gestimmt hatten, ihr Urteil revidierten und sich der Mehrheit anschlossen. Zeugenberichten zufolge nahm Sokrates das Todesurteil gefasst hin. Die Möglichkeit der Flucht, die ihm nach glaubhafter Überlieferung offenstand, schlug er aus.

Entstehung

Sokrates hinterließ keine schriftlichen Zeugnisse, doch sein Tod löste eine wahre Flut an Rechtfertigungsschriften seitens seiner Schüler aus. Platon verfasste seine Apologie des Sokrates ein bis zwei Jahrzehnte nach dem Ereignis, also in deutlichem zeitlichem Abstand zum Prozess. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Platon bei der Verhandlung zugegen gewesen und hatte die Verteidigungsrede gehört, die Sokrates vor Gericht, der damaligen Sitte folgend, selbst hielt. Neben Platons Apologie gilt die von Xenophon in den 60er Jahren des vierten Jahrhunderts geschriebene Verteidigungsrede als die bedeutendste. Bei allen Unterschieden zwischen den Werken zeigen sie Sokrates übereinstimmend als einen selbstbewussten, kompromisslosen Redner, der den Tod nicht fürchtet.

Wirkungsgeschichte

Neben vielen anderen Schriften Platons, in denen die Figur des Sokrates auftritt, prägte gerade seine Apologie das Sokratesbild der Nachwelt. Während Sokrates in der Darstellung Xenophons und anderer Zeitgenossen mal als biederer moralisierender Kleinbürger, mal als spitzfindiger, fast schon lächerlicher Sophist erscheint, zeichnet Platon das Bild eines unbestechlichen Geistes, den weder der Druck der öffentlichen Meinung noch Todesdrohungen von seiner Überzeugung abrücken lassen. Nach der Wiederentdeckung Platons im 15. Jahrhundert wurde neben anderen Werken des Philosophen auch die Apologie des Sokrates in zahlreiche Sprachen übersetzt. Unter den deutschen Übertragungen ragt bis heute diejenige des Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher aus dem Jahr 1805 heraus.

Zu den großen Bewunderern der Apologie zählte Michel de Montaigne, der in seinen Essais ganze Passagen aus der Verteidigungsrede paraphrasierte und deren Schlichtheit und kunstlose Einfältigkeit pries. Der platonische Sokrates diente ihm – wie zuvor auch schon dem Stoiker Epiktet – als Beispiel einer mustergültigen philosophischen Haltung zum Tod, die das Sterben als Teil des Lebens begreift. Tief beeindruckt zeigte sich trotz seines insgesamt eher negativen Urteils über den antiken Philosophen auch Friedrich Nietzsche. Es wird gemutmaßt, dass er aus der Apologie das eigene Selbstverständnis als Philosoph ableitete, seine Mitmenschen unablässig anzustacheln und sie aus ihrer Trägheit herauszureißen. Zu Beginn der 1980er Jahre widmete sich Michel Foucault in seiner Vorlesungsreihe Mut zur Wahrheit ausführlich der Apologie des Sokrates, in der er die „Sorge um sich selbst“ begründet sah.

Über den Autor

Platon gilt als einer der größten philosophischen Denker aller Zeiten. Zusammen mit seinem Lehrer Sokrates und seinem Schüler Aristoteles bildet er das Dreigestirn am Morgenhimmel der westlichen Philosophie. Platon wird 427 v. Chr. in Athen geboren, als Sohn des Ariston, eines Nachfahren des letzten Königs von Athen. Da Platon aus aristokratischen Kreisen stammt, scheint eine politische Laufbahn vorgezeichnet. Doch die Politik verliert für ihn schnell an Reiz, als er sieht, wie die oligarchische Herrschaft der Dreißig im Jahr 404 v. Chr. Athen unterjocht. Platon betrachtet die Politik von nun an mit einem gewissen Abscheu, sie lässt ihn aber nie ganz los. Er wird ein Schüler des Sokrates, dessen ungerechte Hinrichtung im Jahr 399 v. Chr. ihn stark prägen wird. Fortan tritt Sokrates als Hauptdarsteller seiner philosophischen Schriften auf: 13 Briefe und 41 philosophische Dialoge sind überliefert. Nach der Verurteilung des Sokrates flüchtet Platon zu Euklid nach Megara (30 Kilometer westlich von Athen). Er reist weiter in die griechischen Kolonien von Kyrene (im heutigen Libyen), nach Ägypten und Italien. 387 v. Chr. kehrt er nach Athen zurück und gründet hier eine Schule: die Akademie. Deren Studienplan umfasst die Wissensgebiete Astronomie, Biologie, Mathematik, politische Theorie und Philosophie. Ihr berühmtester Schüler wird Aristoteles. 367 v. Chr. ergibt sich für Platon die einmalige Möglichkeit, sein in seinem Hauptwerk Der Staat entworfenes Politikideal in die Praxis umzusetzen: Er wird als politischer Berater an den Hof von Dionysios II., dem Herrscher von Syrakus, gerufen. Seine Hoffnungen, diesen in der Kunst des Regierens zu unterweisen, zerschlagen sich jedoch. Platon stirbt um 347 v. Chr. in Athen.

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