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Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker

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Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker

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What's inside?

Das Lebenswerk eines verkannten Genies und ein Gründungstext der Kulturwissenschaften.

Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Frühe Neuzeit

Worum es geht

Vom Sinn der Geschichte

Vicos Anspruch ist nicht eben bescheiden: Ihm geht es um die Darstellung der gesamten Menschheitsgeschichte – ja mehr noch: um deren wissenschaftlich-philosophische Ergründung. Dazu benötigt er die Philosophie, denn die Dokumente der Geschichtswissenschaften reichen nicht einmal annähernd bis zu den Anfängen der Menschheit zurück. Also muss Vico die Entwicklung durch eine bildreiche Erzählung im Denken rekonstruieren. Er benötigt die Philosophie aber auch, weil er die historischen Epochen nicht einfach nur chronologisch durchgehen, sondern sie aufeinander aufbauen lassen möchte – zu einer universalen Struktur des Zivilisationsprozesses. So wird aus einer Erzählung Wissenschaft. Denn diese gemeinsame Natur aller Völker macht nicht nur die Vergangenheit verständlich, sondern auch die Zukunft voraussagbar. Ganz nebenbei begründet Vico die verschiedensten Sozialwissenschaften. Sprache und Recht, Politik und Wirtschaft, Kunst und Moral – alles findet in seiner Universalgeschichte Platz. Auch wenn inzwischen etliche seiner Spekulationen widerlegt sind, so sind doch Umfang, Methode und Ambition seines Projekts im Rahmen der Möglichkeiten des frühen 18. Jahrhunderts mehr als beachtlich und bis heute wegweisend und anschlussfähig.

Take-aways

  • Vicos Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker gelten als Gründungstext der Kultur- und Sozialwissenschaften.
  • Inhalt: Die Völker entstehen zwar unabhängig voneinander, entwickeln sich aber doch nach ähnlichen Mustern. Sie alle steigen von heidnischer Wildheit zu religiös geläuterter Humanität auf, durchlaufen ein göttliches, ein heroisches und ein menschliches Zeitalter und kennen Religion, Ehe und Begräbnis der Toten. Darin zeigt sich ihre gemeinsame Natur.
  • Während das Buch zu Vicos Lebzeiten so gut wie keine Beachtung fand, gilt es heute als bedeutender Vorläufer vieler wichtiger geisteswissenschaftlicher Ansätze.
  • Vicos Neuerung bestand darin, die Entstehung der Völker als historisch getrennt und die menschliche Natur als historisch wandelbar zu denken.
  • Geschichte beschreibt er als unbewusste Entwicklung aller Kulturen hin zur Humanität.
  • Das Werk ist stark an der geometrischen Methode orientiert, die aus absolut gewissen Grundsätzen auf rein rationalem Weg komplexe Sachverhalte ableitet.
  • Gemäß Vico ist nur die Welt der Menschen, nicht aber die Natur der menschlichen Erkenntnis zugänglich.
  • Vico sah sich als Verteidiger des Platonismus gegen rivalisierende Denkarten.
  • Das Buch erschien in drei unterschiedlichen Fassungen zwischen 1725 und 1744, wobei die letzte den allgemeinen Bezugspunkt der Forschung bildet.
  • Zitat: „(…) in diesem Werk (…) betrachtet die Metaphysik (…) in Gott die Welt des menschlichen Geistes (…), um seine Vorsehung in (…) der politischen Welt oder der Welt der Völker (…) zu erweisen.“

Zusammenfassung

Einleitung: die Idee des Werks

Wirkt die Vorsehung Gottes auch in der menschlichen Welt? Bisher haben Philosophen untersucht, wie die göttliche Vorsehung die Natur leitet. Dieses Buch will hingegen nachweisen, wie Gott auch die Moral, Sitten und politischen Verhältnisse der menschlichen Kulturen prägt. Er hat die Dinge nämlich so eingerichtet, dass die Menschen nach dem Ausschluss von der vollkommenen Gerechtigkeit durch den Sündenfall auf unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Wege doch alle dahin geführt wurden, sich letztlich in Gesellschaften zu vereinen und diese gerecht zu ordnen. Darin erweist sich sowohl die zutiefst politische Natur des Menschen als auch die Existenz eines natürlichen Rechts.

„(…) in diesem Werk (…) betrachtet die Metaphysik (…) in Gott die Welt des menschlichen Geistes (…), um seine Vorsehung in (…) der politischen Welt oder der Welt der Völker (…) zu erweisen.“ (S. 3)

Die Philologie ist die Wissenschaft der menschlichen Kulturleistungen wie Sprache, Moral und Politik. Doch da die Ursprünge der Kultur wohl Jahrtausende vor den ersten schriftlichen Zeugnissen liegen, kann sich die Philologie nicht selbst begründen, erklären oder vollenden. Dazu bedarf es der Philosophie. Sie muss die Wahrheit über die Gründer der Völker entdecken, indem sie die Philologie kritisch überprüft und den ewigen und idealen Plan entziffert, nach dem die Geschichte aller Völker verläuft.

Erstes Buch: die Grundlagen

Damit die Philosophie die dunkle Urzeit der Menschheit erhellen kann, bedarf ihre Arbeit einiger Grundsätze sowie einer stichhaltigen Methode. Der erste Grundsatz ist, dass dort, wo die Erkenntnisfähigkeit des Menschen endet, dieser sich zum Maß der Dinge macht. Der zweite Grundsatz lautet, dass, wo der Mensch dies tut, er sich das Unbekannte zwangsläufig in Ähnlichkeit zum ihm bereits Bekannten vorstellt. Daraus folgt einerseits, dass alle Überlieferungen aus der Zeit vor der Erfindung der Schrift oder gar der Sprache falsch sein müssen, da sie nur ihre eigene Zeit entsprechend ausmalen können. Es folgt aber auch daraus, dass der Mensch seine Ursprünge nur selbst ergründen kann. Er muss selbst bestimmen, mit welchen Mitteln er das Dunkel seiner Geschichte erhellen will.

„(…) die politische Welt [hat] bei allen Völkern mit den Religionen ihren Anfang (…)“ (S. 9)

Es stimmt nicht – wie die Naturrechtslehre annimmt – dass es eine feste und seit jeher unveränderte menschliche Natur gibt. Dinge entstehen zu bestimmten Zeiten und in bestimmter Weise. Will man sie verstehen, muss man ihren Urgrund, ihren Stoff aufsuchen. Für die Frage nach der Natur des Menschen heißt das, man muss den Zeitpunkt finden, als ein völlig willenloser, triebgesteuerter Mensch überging in ein denkendes, wollendes humanes Wesen; das war der Zeitpunkt des ersten Gedankens. Wie wurde der wilde zum zivilisierten Menschen? Durch die Religion, also die Erkenntnis Gottes. Der Mensch besitzt einen natürlichen Hang zur Religion. Er leidet an der grausamen und kalten Naturgewalt und muss notwendig etwas erfinden, das ihn vor der Natur retten kann.

„Dies wird (…) zu beweisen [sein], dass das natürliche Recht der Völker gesondert bei allen Stämmen entstand, ohne dass die einen etwas von den anderen wussten, und dass es später (…) als dem ganzen Menschengeschlecht gemeinsam erkannt wurde.“ (S. 94)

Eine weitere fundamentale und unbezweifelbare Wahrheit ist, dass der Mensch die politische Welt selbst gemacht hat. Daraus folgt, dass ihm zunächst vor allem diese Welt erkennbar ist und nicht, wie die meisten Philosophen meinen, die Welt der Natur, die ja von Gott erschaffen wurde und die folglich nur Gott erkennen kann. Da alle Wissenschaft nach Aristoteles vom Ewigen und Allgemeinen handelt, muss untersucht werden, wie die Menschen seit jeher ihr Zusammenleben arrangiert haben und es noch heute arrangieren, um daraus die allgemeinen und ewigen Prinzipien abzuleiten, nach denen Völker entstehen und bestehen bleiben. Denn wenn dieselben Ideen bei verschiedenen Völkern entstehen, ohne dass diese einander kennen, so muss dem ein wahrer Hintergrund, die göttliche Vorsehung unterliegen. Alle Völker kennen Religion, die feierliche Eheschließung und das Begräbnis der Toten. Mit diesen drei Sitten sind die Anfangsgründe einer neuen Wissenschaft bestimmt.

Zweites Buch: die poetische Weisheit

Weisheit ist das Vermögen, alle menschlichen Künste und Wissenschaften zu erlernen, also Humanität zu erlangen. Die Weisheit der frühen heidnischen Menschen findet sich in den Mythen der theologischen Dichter. Es ist eine poetische Weisheit, denn die Mythen stellen die menschliche Weisheit noch nicht rationalisiert und begrifflich entwickelt dar, sondern nur intuitiv und sinnlich. Dennoch ist in ihnen bereits jene menschliche Weisheit angelegt, die später von den Philosophen auf den Begriff gebracht wurde.

„Da (…) diese Welt der Völker von den Menschen gemacht worden ist, wollen wir zusehen, in welchen Dingen alle Menschen von Ewigkeit her übereingekommen sind und (…) auf deren Grundlage alle Völker entstanden sind und sich (…) erhalten.“ (S. 143)

Der Anfang der Menschheit ist im Orient, in Mesopotamien zu suchen. Die Gründer der heidnischen Menschheit müssen Leute aus den Rassen Hams, Sems und Japhets gewesen sein. Sie gaben die Religion ihres Vaters Noah auf, lösten ihre Ehen auf, zerstreuten ihre Familien und fielen somit in den tierischen Zustand zurück. Sie wurden zu Giganten, zu Menschen von riesigem Wuchs, und durchstreiften so die Erde, die damals ein einziger großer Wald war. Diese Giganten hatten noch kein Denkvermögen. Sie stellen die Kindheit der Menschheit dar.

„Also herrscht (…) folgende Art von Beweisen: dass (…) die Angelegenheiten der Völker dergestalt, wie sie von dieser Wissenschaft entwickelt worden sind, verlaufen mussten, verlaufen müssen und verlaufen werden müssen (…)“ (S. 154)

Blitze und Donner erschreckten die Giganten so sehr, dass sie dachten, der Himmel sei ein riesiger belebter Körper, der ihnen etwas sagen wolle. Angst und Staunen erschufen so den ersten göttlichen Mythos: den des Jupiter. Die Furcht einflößende Religion der Blitze jagte den Giganten noch mehr Schrecken ein. Sie begannen, Schutz vor den Gewittern an Bergfüßen zu suchen, die Wanderschaft aufzugeben und sesshaft zu werden. Darin liegt der Ursprung der Völker und Republiken. Die Männer begannen auch, aus Angst vor dem zürnenden Himmel Scham zu empfinden und nur noch eine Frau zu haben, mit der sie in feierlich beschlossener Ehe lebten und nur noch versteckt in Höhlen kopulierten. Dies ist der Ursprung der Moral. Aus diesen Ehen entstanden Familienzusammenhänge, in denen die Väter den Kindern als Priester, Weise und Könige vorstanden, sie züchtigten und ihnen so die tierischen Triebe abgewöhnten. Die Väter schafften es durch harte Arbeit und Ackerbau, ihre Kinder zu ernähren und die Familien zu erhalten, auch wenn die umliegenden Städteverbünde zerfallen sollten. Und als sie der Gestank der verwesenden Leichen zu stören anfing, begruben sie ihre Toten. Damit entsteht die Idee von der Unsterblichkeit der Seele.

„(…) uns [ist] jetzt natürlicherweise verwehrt, in die ungeheure Einbildungskraft jener ersten Menschen einzudringen, deren Geist in keiner Weise abstrakt (…) war, der (…) ganz von den Leidenschaften beherrscht, ganz im Körper begraben war.“ (S. 174)

Nach einiger Zeit flohen immer mehr Menschen vor den gewalttätigen Heiden zu diesen religiösen Familienverbänden. Sie erhielten zwar Unterkunft und Schutz, aber keine Bürgerrechte und lebten als Knechte oder Sklaven. Damit entstanden die ersten richtigen Gesellschaften. Denn die Ehe ist als fromme Freundschaft zwar der Kern der Gesellschaft, doch erst durch die Integration von Fremden oder Gästen entsteht die Gesellschaft im Sinne einer Gruppe zum wechselseitigen Vorteil. Die Knechte erhielten nach dem Gutdünken der Herren Lehen – Landstücke, die sie bewohnen durften, verteidigen und bebauen mussten. Einen Teil der Ernte mussten sie an die Herren abliefern. Sie wurden Plebs. Aber auch die Herren mussten sich zu einem politischen Stand vereinigen, da der Plebs, das Volk, beständig gegen die Landesherren und die bestehenden Verhältnisse aufbegehrte, sie verändern wollte. Hier begann die Politik. Sie entwickelte sich hauptsächlich bei den Griechen, während die Barbaren weiterhin ihre Gäste töteten und alle Fremden als Feinde betrachteten. Sie führten Raubzüge und Kriege zu Land und zur See und vertrieben die Unterlegenen. So wurden die Völker immer weiter über die Erde verstreut, wobei sie neue Länder entdeckten.

Drittes Buch: die Entdeckung des wahren Homer

Wenn die Weisheit der Völker Griechenlands eine poetische war, dann muss auch jene Homers eine solche sein. Laut Platon war Homer ein Philosoph, der eine bestimmte geheime, universale Weisheit besaß. Das muss man bezweifeln. Philosophie humanisiert den Geist und besänftigt ihn; ein solcher Geist könnte nicht derart barbarische Epen hervorbringen. Die Darstellung solch grober und unvernünftiger Sitten lässt die Menschen, die so handeln, als zügellose Jünglinge, fantasievolle Frauen oder geistesschwache Kinder erscheinen – in Homers Epen steckt also keine philosophische Weisheit. Nun kursieren zur Person Homers viele widersprüchliche Informationen. Das kann nur so gedeutet werden, dass Homer gar kein realer Dichter, keine bestimmte historische Person war, sondern eine reine Idee, der heroische Charakter der griechischen Völker gewesen ist. Damit wären Homers Epen, die älteste uns überlieferte heidnische Geschichtsschreibung, eine dokumentarische Darstellung der Sitten vieler Stämme Griechenlands aus unterschiedlichen Zeiten.

Viertes Buch: die drei Entwicklungsstadien der Völker

Obwohl die einzelnen Völker im Lauf der Zeit die verschiedensten Sitten ausbilden, kann man doch beobachten, dass sie sich alle gleichförmig in derselben Abfolge von drei Zeitaltern entwickeln: Zuerst kommt das göttliche, dann das heroische und schließlich das menschliche Zeitalter. Diese Entwicklungsstufen zeichnen sich durch spezifische Formen des Rechts, des Staatsapparats, der Moral, der Sprache usw. aus. Alle Völker durchlaufen drei Arten von Natur: Ihre göttliche Natur ist eigentlich eine schöpferische und poetische. Die göttlichen Menschen geben den Dingen ein beseeltes Sein, das Sein von Göttern. Vor dieser selbst erfundenen und von Göttern beseelten Natur empfinden sie sodann Angst; also schaffen sie die Religion, um ihre Angst und ihre Wildheit zu bändigen. In ihrer heroischen Natur empfinden sich die religiösen Menschen dann selbst als Abkömmlinge von Göttern und blicken verächtlich und grausam auf die Heiden herab. In ihrer menschlichen Natur schließlich werden die Völker bescheiden, gütig, tolerant und vernünftig.

„(…) in den Mythen [ist] (…) wie in Embryonen (…) das ganze geheime Wissen im Entwurf zu finden (…); sodass man sagen kann, (…) dass die theologischen Dichter der Sinn, die Philosophen der Verstand der menschlichen Weisheit waren.“ (S. 443)

Die Sitten der göttlichen Zeit sind geprägt von Gottesfurcht und Frömmigkeit, die der heroischen Zeit von Jähzorn und Herrschsucht und die der menschlichen Zeit von Pflichtbewusstsein und Bildung. Das göttliche Recht bleibt den Menschen fremd, sie sind den Dingen völlig ausgeliefert. Im heroischen Recht unterwerfen die Menschen dann alles ihrer Gewalt bzw. der Gewalt des Stärkeren. Auf die Vernunft gründen sie ihr Recht erst im Zeitalter des menschlichen Rechts. Dem entspricht die Abfolge von göttlich-theokratischer Regierung, in der Gott alles befiehlt und ordnet, heroisch-aristokratischer Regierung, in der die Stärksten und Besten regieren, und schließlich der menschlichen Regierung in Form von Demokratie oder Monarchie, in der sich alle als gleich erkennen und sich freiwillig selbst gewählten Gesetzen unterstellen. Hinsichtlich der Sprachen ist die göttliche völlig stumm. Sie besteht aus rein zeremoniell-religiösen Handlungen, die keiner Erklärung bedürfen, sondern nur der Verehrung. Die heroische Sprache bedient sich der Wappen und Embleme. Erst die Sprache des menschlichen Zeitalters ist artikuliert und verschriftlicht.

Fünftes Buch: die Wiederkehr der Geschichte

Ab dem fünften Jahrhundert fiel die Menschheit durch Bürgerkriege und Tyrannenherrschaft wieder in einen chaotischen Zustand zurück. Diese Zeit der Völkerwanderungen stimmt auffällig mit den barbarischen Zuständen des ersten menschlichen Zeitalters überein. Wieder mussten die verfolgten Frommen sich vor den Gottlosen in Asyle, diesmal die befestigten Abteien der christlichen Bischöfe, retten. Und wieder entwickelte sich aus dieser Rohheit die vollendete Humanität, die heute in Form des Christentums ganz Europa regiert und die Menschen im Überfluss an Gütern leben lässt. Diese Wiederkehr der politisch-menschlichen Verhältnisse macht Geschichte als Ganzes fassbar. Sie ist gesteuert durch ein unwandelbares Gesetz, das die Entwicklung der einzelnen Völker, ihren Aufstieg und Niedergang nach Anfang, Höhepunkt und Ende bestimmt. In dieser Struktur besteht folglich die gemeinsame Natur der Völker.

„(…) zwar haben die Menschen selbst diese Welt der Völker gemacht (…); dennoch ist sie (…) einem Geist entsprungen, der (…) manchmal ganz entgegengesetzt und immer überlegen ist den besonderen Zwecken, die die Menschen selber sich vorgesetzt hatten (…)“ (S. 606)

Auch wenn es die Menschen selbst sind, die ihre kulturelle Welt gestalten, so muss man doch einen heimlich waltenden Geist hinter ihren Taten annehmen. Denn die Geschichte ist voller bewusster Entscheidungen der Völker, die oft das Gegenteil des Gewollten bewirkten. Die Geschichte kann auch kein Zufall sein, denn die Menschen handeln aus freier Wahl und entwickeln sich stets in denselben Bahnen empor zur Menschlichkeit. Wann immer ein Volk seinen Höhepunkt erreicht hat und seine Humanität durch Bürgerkriege, Korruption, Tyranneien usw. wieder verliert, gibt es drei Heilmittel, die von der Vorsehung eingerichtet sind: Entweder stellt ein starker Monarch durch Waffengewalt Gesetz und Ordnung wieder her. Oder das Volk wird durch ein anderes, ihm überlegenes Volk unterworfen und beherrscht. Oder die kulturelle Entwicklung muss, wie nach dem Niedergang des römischen Kaiserreichs, von Neuem aus einem heidnischen Urzustand beginnen.

„Zusammenfassend ist (…) der Schluss zu ziehen, dass diese Wissenschaft unabtrennbar die Pflege der Frömmigkeit mit sich führt und dass, wenn man nicht fromm ist, man auch nicht wahrhaft weise sein kann.“ (S. 608 f.)

Was folgt aus diesen Überlegungen nun für die politische Praxis der Menschen? Zunächst kann die dargestellte Wissenschaft nur in der Erziehung wirksam sein. Sie muss helfen, die Jugend zu guten Menschen zu formen, indem sie ihnen beibringt, drei Grundprinzipien zu achten: dass es göttliche Vorsehung tatsächlich gibt, dass die menschlichen Leidenschaften gezügelt werden können und müssen und dass die menschliche Seele unsterblich ist.

Zum Text

Aufbau und Stil

Vico hat die Prinzipien in Organisation und Darstellung des Inhalts immer wieder verändert und umgestellt. Die Version von 1744 teilt sich in fünf Bücher und eine Einleitung auf. Das erste Buch behandelt die Grundlagen dieser neuen Wissenschaft. Es stellt den verfügbaren historischen Stoff und die theoretischen Prinzipien und Methoden seiner Interpretation vor. Das zweite und mit Abstand umfangreichste Buch versucht, die kulturelle Entwicklung der ersten Menschen zu ergründen. Im dritten Buch widmet sich Vico der Deutung Homers, während das vierte Buch die Ergebnisse des zweiten in eine universelle Struktur der Entwicklung aller Völker überführt. Das letzte Buch untersucht die Möglichkeit einer zyklischen Wiederholung dieser Geschichtsstruktur. Trotz seines hauptsächlich geschichts- und rechtswissenschaftlichen Anspruchs wollte Vico mit den Prinzipien vor allem einen Beitrag zur Philosophie leisten. Der Aufbau des Werks orientiert sich stark an der geometrischen Methode, die die Vordenker der Neuzeit (Descartes, Spinoza, Newton) in ihren Büchern entwarfen: Aus einfachen und absolut gewissen Grundsätzen sollen auf rein rationalem Weg komplexe Sachverhalte abgeleitet werden. Für die letzte Fassung färbte Vico sein System deutlich stärker mit seiner Privatsprache ein. Dadurch erhält das Werk einen literarisch-poetischen Charakter, einen lebendigeren Stil, der aber teilweise zu Vieldeutigkeit und Verständnisproblemen führt. Dieser elaborierte narrative Stil ist aber letztlich zentral für Vicos Art der Spekulation. Mittels seiner Einbildungskraft gelingt es Vico, in die historische Urzeit vor dem Erscheinen schriftlicher Dokumente vorzudringen und sich das Leben der ersten menschlichen Völker auszumalen.

Interpretationsansätze

  • Vicos Werk begründet die Sozial- und Kulturwissenschaften der Neuzeit. Es definiert Kultur als alles, was der Mensch selbst schafft, und stellt ihre Erkennbarkeit über die der Natur.
  • Vicos große Leistung besteht dabei in der Historisierung der menschlichen Verhältnisse. Während seine Zeitgenossen einen gemeinsamen historischen Ursprung und eine ewige Natur für alle Menschen annahmen, ging Vico von vielen verschiedenen Ursprüngen aus und beleuchtete das Menschliche in seinen geschichtlichen Entwicklungen als veränderliche Natur.
  • Vico vertritt eine teleologische Vorstellung von Geschichte. Die Geschichte des Menschen ist für ihn ein ständiger unbewusster Drang jeder Kultur hin zum Ziel (griechisch: telos) einer vollendeten Humanität. Dieses Ziel menschlicher Zivilisation beschreibt er als menschliche Natur oder menschliches Zeitalter.
  • Die Idee der Wiederkehr der Kulturen ist daher nicht zwingend zyklisch zu denken. Es ist nicht notwendig, dass eine Kultur vom erreichten Höhepunkt wieder abfällt. Wenn sie jedoch davon abfällt, muss sie sich nach der von den Prinzipien dargestellten Struktur wieder emporentwickeln.
  • Bei aller Wissenschaftlichkeit sind die Prinzipien auch ein moralistisches Projekt. Als Vertreter der platonischen Philosophie pocht Vico auf ein ethisches Ideal der Menschlichkeit und warnt seine Zeitgenossen davor, durch Skeptizismus und Hedonismus in Tugendlosigkeit und Barbarei zu verfallen. Darin spiegelt sich die auf allen Ebenen sichtbare Krisensituation Italiens zu jener Zeit.

Historischer Hintergrund

Neapel im 17. Jahrhundert

Neapel war ab 1559 Teil eines süditalienischen Königreichs unter spanischer Herrschaft. Das Land wurde vom spanischen Königshaus quasi als Kolonie behandelt. Vor allem in Neapel erhob sich immer wieder das Volk, aber auch der Adel gegen die Fremdherrschaft. Obwohl sein politischer Status für die Wirtschaft Italiens sehr problematisch war, stand Neapel ökonomisch relativ gut da. Kulturell war es eine europäische Metropole. In seinen vielen Salons, Akademien und Buchläden blühte das intellektuelle Leben. Philosophisch interessierte Mediziner und Juristen wie Tommaso Cornelio, Giuseppe Valletta und Leonardo di Capua diskutierten und verbreiteten das neue Denken von Galileo Galilei, René Descartes und Francis Bacon, aber auch die Schriften antiker Philosophen wie Epikur und Lukrez. Damit zogen sie den Groll des Klerus auf sich. Die römisch-katholische Kirche war zu dieser Zeit eifrig bemüht, das öffentliche Denken im Rahmen der Scholastik und des Aristotelismus zu halten. Moderne Ideen oder nichtaristotelische Darstellungen der Antike, wie sie neapolitanische Intellektuelle verbreiteten, hatten in diesem Programm keinen Platz.

Der Streit zwischen Neuerern und Konservativen eskalierte 1688, als die römische Inquisition nach Neapel eilte und Verfahren gegen progressive Intellektuelle eröffnete. Als Reaktion gegen diesen Übergriff wurde 1698 die Accademia Palatina gegründet – unterstützt vom örtlichen Adel und unter der Schirmherrschaft des Vizekönigs, des Herzogs von Medinaceli. Der Spanische Erbfolgekrieg setzte diesen Spannungen 1700 zwar ein Ende, aufgrund der geografischen Nähe zu Österreich wurde Neapel nun aber in die Kriegswirren verwickelt. Erst die Machtübernahme durch Österreich 1707 beruhigte die Lage.

Entstehungsgeschichte

Als Schnittstelle zwischen Politik und Theorie, mit besonderem Fokus auf der Entwicklungsgeschichte antiker Reiche, förderte die Accademia Palatina die philosophische Reflexion kultureller Zustände in der Gegenwart in einem größeren historischen Zusammenhang. Vico war ab 1699 Mitglied und dürfte von diesem Klima stark beeinflusst worden sein. Mit der juristischen Schrift Synopsis des universalen Rechts bewarb er sich 1723 für den Lehrstuhl für Zivilrecht in Neapel, wurde jedoch abgelehnt. Noch im selben Jahr begann er, dieses Werk umfassend zu erweitern und es in den Rahmen einer universalen Geschichte aller Völker einzuarbeiten. Dafür arbeitete er sich zunächst kritisch an einer Vielzahl philosophischer und philologischer Theorien ab. Das war eine übliche Vorgehensweise. Neu war hingegen, dass er nicht in der Gelehrtensprache Latein, sondern in der Volkssprache Italienisch schrieb. Darin wird bereits deutlich, für wie wichtig er dieses Projekt hielt. Es sollte ein ähnlich grundlegendes Werk für die Erforschung der Gesellschaft werden, wie es Isaac Newtons Principia Mathematica für die Erforschung der Natur war.

Schon früh hatte Vico bei Kardinal Lorenzo Corsini, der später Papst wurde, um Erlaubnis gefragt, ihm das Buch widmen zu dürfen, und diese auch erhalten. Nach damaliger Sitte hätte der Kardinal damit die Druckkosten des Werks übernehmen müssen, doch er sprang in letzter Minute ab. So musste Vico das Manuskript um mehr als zwei Drittel kürzen. Es erschien 1725 – und verhallte ohne Wirkung. Von den wenigen, die es überhaupt wahrnahmen, fühlte sich Vico völlig missverstanden. Enttäuscht, aber nicht entmutigt zog er sich zurück und arbeitete die Prinzipien immer wieder um – angeblich neun Mal. Erschienen sind davon aber nur zwei Fassungen: eine 1730 und eine andere 1744. Diese letzte – erst nach Vicos Tod veröffentlichte – Version gilt heute allgemein als Referenz.

Wirkungsgeschichte

Trotz der vielen Umarbeitungen, die den Prinzipien doch noch zum Erfolg verhelfen sollten, blieb Vico zu seinen Lebzeiten öffentliche Anerkennung verwehrt. Doch schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann sein Hauptwerk in Europas Kulturzentren Widerhall zu finden. In Deutschland wurde es etwa von Johann Wolfgang von Goethe, Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder gelesen. Die entscheidende Rolle bei der Würdigung Vicos spielte aber Frankreich. Dort galt er schon ab Mitte des 18. Jahrhunderts als ähnlich bedeutend wie Jean-Jacques Rousseau. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde Vico, vor allem im Kontext der Revolte gegen den Positivismus, in ganz Europa zur intellektuellen Mode. Er wurde von unterschiedlichen, teils auch gegensätzlichen Parteien rezipiert: Progressive wie Konservative, Poeten wie Juristen, Philosophen und Ökonomen fanden in den Prinzipien Bestätigung und Anregung. Die illustre Liste reicht von Karl Marx bis Friedrich von Savigny, von James Joyce über Ernst Cassirer und Hans-Georg Gadamer bis Joseph Schumpeter und Isaiah Berlin und umfasst so gut wie alle Geisteswissenschaften. In den letzten Jahrzehnten wurde Vico auch zunehmend in seiner grundlegenden ideengeschichtlichen Bedeutung gewürdigt. So sieht ihn Friedrich Kittler als Gründer der Kulturwissenschaft, und auch Psychoanalyse, Existenzialismus, Konstruktivismus und Strukturalismus haben Vico als Vordenker entdeckt.

Über den Autor

Giambattista Vico wird am 23. Juni 1668 in Neapel geboren. Er ist das sechste von acht Kindern und wächst in einfachen Verhältnissen auf. Der Vater, ein Buchhändler, ermöglicht dem kränklichen Sohn eine umfassende klassisch-humanistische und juristische Ausbildung. Mit 18 Jahren beginnt Vico in der Anwaltspraxis des berühmten Fabrizio del Vecchio zu arbeiten. Noch im selben Jahr erhält er eine Anstellung als Hauslehrer des Grafen Domenico Rocca. Die nächsten neun Jahre lebt er auf dessen Schloss in Vatolla, studiert aber nebenher in Neapel weiter Recht und erlangt 1694 das Doktorat. In seiner Freizeit widmet er sich der Theologie, Politik, Philosophie und Poesie. 1699 heiratet er die um zehn Jahre jüngere Teresa Caterina Destito, mit der er acht Kinder bekommt. Wenig später erhält er eine Professur für Rhetorik an der Universität Neapel und wird in die Accademia Palatina aufgenommen. Dennoch muss er nebenher weiter durch Privatunterricht und Auftragsarbeiten Geld dazuverdienen. Zu diesen Auftragsarbeiten gehören eine Biografie und eine Vielzahl von Lobgedichten. Obwohl er als Poet und Gelehrter ein gewisses Ansehen in Neapel erlangt, fühlt er sich zeitlebens unverstanden. 1723 erhält er vom Grafen Gianartico di Porcia den Auftrag, eine Biografie seines eigenen Lebens zu schreiben. Diese erscheint 1728 und stellt Vicos geistige Entwicklung in Richtung seines Hauptwerks dar, den Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (Principj di una Scienza Nuova intorno alla Natura delle Nazioni, 1725). Diesem widmet sich Vico ab den frühen 1720er-Jahren mit großer Verbissenheit. Obwohl der Erfolg ausbleibt, arbeitet er bis zu seinem Tod daran weiter. Ab 1731 erhält er eine Professorenrente und führt seinen eigenen literarischen Salon. 1734 wird er zum königlichen Historiografen ernannt. Vico stirbt am 23. Januar 1744 in Neapel.

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