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Eines langen Tages Reise in die Nacht

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Eines langen Tages Reise in die Nacht

Fischer Tb,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Ein amerikanisches Familiendrama – packend, realistisch und von großer psychologischer Tiefe.

Literatur­klassiker

  • Drama
  • Moderne

Worum es geht

Familie ist Schicksal

Einen beschaulichen Theaterabend bietet Eugene O’Neills Drama Eines langen Tages Reise in die Nacht gewiss nicht. Der Zuschauer nimmt einen Tag lang am Leben der Familie Tyrone teil, in der jeder gegen jeden kämpft. Der Vater und die beiden Söhne sind alkoholabhängig, die Mutter ist morphiumsüchtig, und alle geben sich gegenseitig die Schuld an der Familienhölle, in der sie leben. O’Neill machte gar keinen Hehl daraus, dass er in dem Stück seine eigene Familie nachgezeichnet hatte. In der Figur Edmunds, der an familiäre Tabus rührt und bittere Wahrheiten auszusprechen versucht, porträtierte der Autor sich selbst. Dass sich das Stück trotzt der deprimierenden, von Hass geprägten Atmosphäre beim Theaterpublikum bis heute großer Beliebtheit erfreut, liegt an seinem psychologischen Scharfsinn und an der überzeitlich gültigen Botschaft: Familie ist Schicksal.

Take-aways

  • Das Familiendrama Eines langen Tages Reise in die Nacht gilt als Meisterwerk des amerikanischen Theaterautors Eugene O’Neill.
  • Inhalt: Mary und James Tyrone sowie ihre beiden Söhne Jamie und Edmund streiten sich über die Vergangenheit und verstricken sich in Vorwürfe und Schuldzuweisungen. Der Vater und die Söhne, alle drei alkoholabhängig, wollen vor der Mutter Edmunds Schwindsucht verbergen, die Mutter ihrerseits flüchtet sich in Tagträume und ihre Morphiumsucht.
  • O’Neills autobiografisch gefärbtes Drama zeichnet sich durch psychologische Tiefe und einen realistischen Stil aus.
  • Es spielt an einem einzigen Tag, vom Frühstück bis zum späten Abend.
  • Das Stück ist arm an äußerer Handlung und lebt stattdessen von den inneren Konflikten seiner Figuren.
  • Von der Psychoanalyse Sigmund Freuds geprägt, betrachtete O’Neill die Familie als unausweichliches Schicksal.
  • Nebenbei rechnet das Stück mit dem amerikanischen Traum sowie den Tabus des Scheiterns und der Sucht ab.
  • Am Ende bewegen sich die Familienmitglieder nicht aufeinander zu; eine reinigende Zerstörung der Illusionen bleibt aus.
  • Sidney Lumet verfilmte das Stück 1962 mit Katherine Hepburn.
  • Zitat: „Wer sieht dem Leben denn schon freiwillig ins Gesicht? Es trägt ein dreifaches Gorgonenhaupt. Man sieht es an und versteinert.“

Zusammenfassung

Trügerischer Familienfrieden

Es ist halb neun Uhr, am Morgen eines Augusttages im Jahr 1912. Durch das Fenster des Sommerhauses scheint die Sonne. Mary – einst eine irische Schönheit, nun Mitte 50, ergraut und ein wenig mollig – und ihr zehn Jahre älterer, immer noch sehr attraktiver Mann James Tyrone, haben gerade das Frühstück beendet. Während ihre Söhne Edmund und Jamie noch nebenan am Frühstückstisch sitzen, unterhalten sich die beiden. Mary, die unter einer nervösen Rastlosigkeit ihrer vom Rheuma entstellten Hände leidet, fühlt sich ständig von ihrem Mann beobachtet. Der versichert ihr, er lasse doch nur deshalb keinen Blick von ihr, weil er sie mit ihren paar Pfund mehr auf den Rippen so hübsch finde. Sie ist müde. Das Nebelhorn letzte Nacht habe ihr den Schlaf geraubt, sagt sie.

„Natürlich ist es bloß eine Grippe! Das merkt doch jeder! Du musst immer gleich Gespenster sehen!“ (Mary zu Jamie, S. 21)

Die Söhne kommen hinzu. Der jüngere, Edmund, gesundheitlich angeschlagen, berichtet von einer Begegnung mit James Tyrones Pächter. Dieser habe sich mit dem Nachbarn angelegt. Edmunds Parteinahme für den Pächter reizt den Vater. Er bezeichnet seinen Sohn als Anarchisten. Nachdem Edmund beleidigt den Raum verlassen hat, äußert die Mutter ihre Sorge über seinen Gesundheitszustand. Ist sein Husten nur eine normale Sommergrippe oder doch etwas Schlimmeres, wie es Jamie angedeutet hat? Und warum schauen ihr die beiden eigentlich immer auf die Haare? Stimmt etwas nicht? Doch Tyrone kann sie beruhigen: Ihr Haar sei zwar weiß, doch immer noch so schön wie früher, ja sogar noch viel schöner.

Vater und Sohn

Als Tyrone und Jamie allein sind, überhäufen sich die beiden gegenseitig mit Vorwürfen. Er solle die Mutter wegen Edmund nicht beunruhigen, sagt Tyrone, und ihr bloß nichts vom Verdacht auf Schwindsucht erzählen. Sie sei so schon nervös genug. Jamie erwidert, der Vater hätte Edmund gleich zu einem guten Arzt und nicht zu diesem billigen Quacksalber schicken sollen. Das habe er nur aus Geiz getan – und das, obwohl er der größte Grundbesitzer in der Gegend sei. Der Vater hält Jamie für einen Nichtsnutz, der sein Geld für Wein und Weiber verschleudert, und will sich von ihm nichts vorschreiben lassen. Ohne dessen Einfluss am Theater hätte der unbegabte Schauspieler Jamie ohnehin nie eine Rolle bekommen. Unsummen habe er für die Ausbildung ausgegeben, mit dem Ergebnis, dass Jamie vom College geflogen sei. Und nun lasse er sich Sommer für Sommer hier durchfüttern und habe nichts als Spott für seinen Vater übrig. Außerdem sei er als größerer Bruder schuld an Edmunds Zustand. Der Jüngere habe ihm stets nachgeeifert und in den Kneipen seine Gesundheit ruiniert. Jamie weist jede Verantwortung zurück. Was könne er dafür, dass Edmund als Matrose rund um die Welt schippern musste? Wenigstens habe Edmund Mumm und stehe auf eigenen Beinen, wirft der Vater ein. Jamie schlägt zurück: Ohne den mächtigen James Tyrone hätte Edmund doch nie den Job bei dem Provinzkäseblatt bekommen, bei dem er sich als Journalist versuche.

„Was soll’s. Warum diskutiere ich überhaupt mit dir. Niemand kann aus seiner Haut.“ (Jamie zu Tyrone, S. 25)

Trotz aller Auseinandersetzungen sind die beiden sich einig: Die Mutter muss geschont werden. Nachdem sie sich nun endlich wieder im Griff habe, könne sie solche Sorgen wirklich nicht gebrauchen. Schrecklich sei es gewesen, als sie nach Edmunds Geburt in diesen Zustand verfiel. Jamie meint, dass der Vater sie damals aus Geiz von einem Kurpfuscher habe behandeln lassen, habe alles nur noch schlimmer gemacht.

Mutter und Sohn

Nachdem Tyrone und Jamie in den Garten gegangen sind, unterhält sich Mary mit Edmund, ihrem Nesthäkchen, wie sie sagt. Sie sinniert darüber, wie viel besser es doch den Nachbarn gehe, mit ihrem großen Auto, dem ordentlichen Haus und den vielen Freunden. Sie selbst dagegen lebten abgeschnitten von der Außenwelt. Sie habe sich hier nie zu Hause gefühlt. Nur weil ihr Mann sie dazu zwinge, komme sie jeden Sommer hierher. Alles immer nur vom Billigsten, von einem anständigen, kultivierten Leben habe er keine Ahnung. Und ihre Söhne seien solche Rüpel geworden, dass die Töchter aus besserem Hause sich fernhielten. Edmund sagt zur Mutter, es liege auch an ihr, dass sie so wenig Freunde hätten. Sie dürfe das nicht vergessen, denn sonst werde sie unglücklich. Und gerade jetzt bestehe Anlass zur Sorge, dass sie in ihren alten Zustand zurückfalle. Wie anders sei es zu erklären, dass sie nachts schlaflos durchs Haus schleiche und sich ins Gästezimmer zurückziehe? Das tue sie nur aus Sorge um ihn, ihren kranken Sohn, erwidert Mary.

Was das Leben aus einem macht

Als Mary, die sich eine Weile hingelegt hat und nun merkwürdig entrückt wirkt, zum Mittagessen herunterkommt, haben ihre beiden Söhne schon einen Whisky gekippt. Sie warten auf den Vater, der im Garten mit einem Nachbarn quatscht. Jamie schimpft, aber die Mutter mahnt ihn, seinem Vater mehr Respekt zu zeigen. Immerhin habe er sein Leben lang geschuftet und sich aus kleinsten Verhältnisse zu einem berühmten Schauspieler emporgearbeitet. Keiner könne etwas dafür, was das Leben aus ihm gemacht habe. Doch als Tyrone endlich auftaucht, ist auch sie wütend und fährt ihn an: Die Familie, das Haus, all das habe ihn nie interessiert. Wäre er doch besser Junggeselle geblieben! In den Kneipen und Klubs habe er sich sowieso immer wohler gefühlt. Auch Edmund bekommt sein Fett ab: wie er nur trinken könne, in seinem Zustand. Er solle sich erinnern, wie es dem Großvater ergangen sei, der an der Schwindsucht erkrankte und weitertrank bis zu seinem Tod. Aber, so fällt sie sich selbst ins Wort, das eine habe ja mit dem anderen gar nichts zu tun. Auch ihr Mann trinke wieder zu viel. Sie will wissen, wieso er dauernd auf ihre Haare starre.

„Das wär mir auch egal, wenn du jemals eine Spur von Dankbarkeit gezeigt hättest. Aber stattdessen verspottest du mich als miesen Geizhals, du verspottest meinen Beruf, du verspottest einfach alles und jeden auf der Welt – nur dich selbst nicht.“ (Tyrone zu Jamie, S. 26)

Mary zieht sich zurück, und alle wissen, warum. Die Entziehungskur hat nichts genützt. Es gebe keine Rettung für sie, meint Tyrone resigniert, auch nicht in den Büchern, die Edmund lese – Nietzsche und all diesen Kram. Dass seine Söhne sich vom Katholizismus abgewandt haben, hält er für einen Akt der Selbstzerstörung. Wenigstens würden sie nicht heucheln, verteidigen sich die beiden. Während Edmund nach der Mutter sieht, besprechen Tyrone und Jamie die Diagnose, die Doktor Hardy soeben telefonisch mitgeteilt hat: Edmund hat die Schwindsucht. Vielleicht lasse sie sich heilen, aber natürlich habe der Geizkragen Tyrone wieder einmal nicht genug Geld, um ein gutes Sanatorium zu bezahlen, lästert Jamie.

Marys Geschichte

Auf Tyrones Vorwürfe, dass sie wieder Morphium nehme, erinnert Mary ihn daran, dass es ihr früher einmal gut ging. Überall habe sie ihren Mann, den berühmten Schauspieler, begleitet, in billigen Hotels sei sie mit ihm abgestiegen. Und sie habe sogar ihr zweites Kind, Eugene, bei ihrer Mutter zurückgelassen, um Tyrone auf Tournee zu begleiten. Dass es damals starb – an Masern, angesteckt von Jamie –, sei ihre Schuld gewesen. Aber auch die von Jamie, denn der Junge habe genau gewusst, dass er krank nicht zu dem Baby durfte. Doch er sei eifersüchtig gewesen und habe es absichtlich getan. Sie habe kein Kind mehr gewollt, aber dann habe Tyrone sich als Ersatz für den verstorbenen Eugene noch ein Kind gewünscht, und sie habe Edmund bekommen. Zur Strafe dafür, dass sie noch mal ein Kind in die Welt gesetzt habe, sei sie psychisch krank geworden, und dem billigen Hotelarzt sei nichts anderes eingefallen, als ihr Schmerzmittel zu verschreiben. Einmal sei es ihr so schlecht gegangen, dass sie nachts aus dem Haus gerannt sei, um sich von der Hafenmauer ins Wasser zu stürzen. Dass ihr geliebter Edmund jetzt ernsthaft krank sein soll, will Mary nicht wahrhaben. Als die Söhne und der Mann das Haus verlassen, ist sie hin und her gerissen: Sie wollte sie loswerden und fühlt sich doch unendlich einsam.

Verklärte Vergangenheit

Abends sitzt Mary, inzwischen deutlich derangiert, mit dem Dienstmädchen Cathleen im Salon. Der Vater und die Söhne besaufen sich in der Kneipe, und auch Cathleen schenkt sich immer wieder aus der Whiskyflasche nach. Nachdem sie für Mary ein Rezept in der Apotheke eingelöst hat – angeblich für ein Schmerzmittel gegen Rheuma –, ist diese merkwürdig ruhig. Fast als hätte sie auch einen sitzen, meint die beschwipste Cathleen. Mary schwelgt in Erinnerungen an ihre glückliche Zeit als Klosterschülerin und an ihr wunderbares irisches Elternhaus. Damals sei sie sehr fromm gewesen und habe Nonne werden wollen. Oder Pianistin. Dann lernte sie den gut aussehenden Mädchenschwarm Tyrone kennen, vor 36 Jahren, und es war Liebe auf den ersten Blick. Und doch sehnt sie sich nach der glücklichen Zeit im Kloster zurück. Wenn sie doch wenigstens zum Glauben zurückfände und wieder beten könnte!

„Versteh mich nicht falsch! Bitte, Mama! Ich will dir doch nur helfen. Weil es nicht gut für dich ist, wenn du vergisst. Es ist besser für dich, wenn du dich erinnerst.“ (Edmund zu Mary, S. 36)

Gerade will sie noch von der Medizin nehmen, da kehren Tyrone und Edmund zurück, mit glasigem Blick und lallend. Jamie ist noch in der Kneipe. Mary sagt, sie und Tyrone dürften es nicht zulassen, dass Jamie Edmund hinunterziehe. Jamie werde erst ruhen, wenn aus seinem jüngeren Bruder ein hoffnungsloser Versager geworden sei. Eifersüchtig sei er – wie damals schon auf Eugene. Einst sei Jamie ein so hoffnungsvoller Junge gewesen. Aber er sei dem Vorbild des Vaters gefolgt und zum Säufer geworden. Doch sogleich wechselt Mary wieder den Ton und versichert ihrem Mann ihre ewige Liebe. Sie erinnert sich daran zurück, wie schön sie gewesen sei im Brautkleid, wie gut er ausgesehen habe. Aber hätte sie gewusst, wie viel er trinke, hätte sie ihn nie geheiratet. All die Nächte, die sie in billigen Hotelzimmern gewartet habe, bis er betrunken zurückkehrte – vergessen könne sie das nicht, verzeihen schon. Als Edmund damit herausrückt, dass er Schwindsucht hat, zieht sie sich zurück, um sich mit mehr Morphium zu beruhigen. Sie wünscht sich, dass sie irgendwann aus Versehen eine Überdosis erwischt.

Schmerzende Wahrheiten

Um Mitternacht sitzt Tyrone angetrunken im Salon, als Edmund, der noch mal ausgegangen ist, aus der Kneipe zurückkehrt. Tyrone ist schlecht gelaunt: Dass im Haus immer so viel Licht brennen müsse! Das koste doch Geld. Die eine Glühbirne im Flur werde ihn schon nicht ruinieren, erwidert Edmund und weigert sich, das Licht auszumachen – zum Ärger des Vaters. Als Edmund dann doch einlenkt und das Flurlicht ausmachen will, verfällt Tyrone plötzlich ins Gegenteil: Nein, das Licht solle brennen, alle Glühbirnen im Haus sollen angemacht werden, und wenn ihn das ins Armenhaus bringe. Dann zeigt er sich versöhnlich: Edmund sei eigentlich ein guter Junge, anders als sein nichtsnutziger Bruder, der nur Huren und Whisky kenne.

„Was das Leben aus uns gemacht hat, dafür kann keiner was. Ehe man sich’s versieht, ist es passiert. Und dann geht es einfach so weiter, und man entfernt sich immer mehr von dem, wie man sein möchte, und am Ende haben wir uns selbst für immer verloren.“ (Mary, S. 48)

Der Ton der beiden wird vertrauensvoller. Edmund erzählt von seinem Spaziergang am Strand. Der Nebel habe alles um ihn herum unwirklich erscheinen lassen. Genau das habe er gewollt: einen friedvollen Zustand, in dem er mit sich allein sein könne und der Wahrheit nicht ins Auge blicken müsse. Tyrone spottet über die poetisch-morbiden Anwandlungen des Sohnes und über dessen Lektüre: Baudelaire, Wilde, Poe. Edmund verteidigt seine Lieblingsdichter gegen die Anfeindungen des Vaters, der in ihnen nur pessimistische Atheisten und perverse Hurenböcke erkenne. Tyrone selbst deklamiert lieber Shakespeare.

„Ich habe es nie verstanden – doch eines Tages vor langer, langer Zeit, da merkte ich, dass meine Seele nicht mehr mir gehört.“ (Mary, S. 73)

Unterdessen geistert im oberen Stockwerk die Mutter herum. Für Edmund steht fest: Als es der Mutter nach seiner Geburt so schlecht ging, hätte der Vater mehr Geld für einen guten Arzt ausgegeben sollen; dann wäre sie jetzt nicht morphiumsüchtig. Weil er ihr kein anständiges Zuhause geboten habe, sei sie immer wieder rückfällig geworden. Tyrone kehrt den Spieß um: Mary selbst behaupte, sie wäre nie so geworden, wenn Edmund nicht geboren wäre. Doch das nimmt er gleich wieder zurück: Die Mutter liebe ihren jüngsten Sohn über alles. Edmund will wissen, warum der Vater so ein mieses Sanatorium für ihn ausgesucht habe. Aus Geldmangel? Aber um mit Grund und Boden zu spekulieren, sei immer genug da. Der Junge wisse ja gar nicht, was er nach dem Selbstmord seines Vaters habe durchmachen müssen, klagt dagegen Tyrone. Allein mit seiner Mutter und drei Geschwistern habe er sich herumgeschlagen und für einen Hungerlohn arbeiten müssen. Aus Angst vor Armut sei er zum Geizkragen geworden. Seine Ehrlichkeit weckt in Edmund Verständnis. Und Tyrone willigt ein, ein besseres Sanatorium zu bezahlen – solange es im vernünftigen Rahmen bleibe.

Flucht in Drogen und Wahnsinn

Jamie kommt sturzbetrunken von seiner Kneipen- und Bordelltour nach Hause. Als er die Mutter beleidigt, schlägt Edmund ihm mit der Faust ins Gesicht. Jamie zeigt sich einsichtig, klagt aber auch über seinen Frust: Die Mutter hänge an der Nadel wie eine Nutte, der Bruder sei schwindsüchtig und noch dazu ein miserabler Dichter. Plötzlich ertönt ein Chopin-Stück. Mary sitzt mit aufgelöstem Haar, das Brautkleid über dem Arm, am Klavier. Unter dem Einfluss des Morphiums fühlt sie sich in die Vergangenheit zurückversetzt und ist wieder die brave Klosterschülerin, die Klavier übt und Nonne werden will. Die anderen sind sich einig, dass nur noch eines hilft: sich besaufen. Doch bevor sie trinken können, spricht Mary weiter, schwelgt in ihrer Jugendzeit und in ihrem Entschluss, Nonne zu werden. Dann sei etwas passiert. Sie habe sich in James Tyrone verliebt und sei glücklich gewesen – eine Zeit lang.

Zum Text

Aufbau und Stil

Eugene O’Neills Drama Eines langen Tages Reise in die Nacht besteht aus vier Akten, die jeweils eine Tageszeit markieren: morgens, mittags sowie am frühen und am späten Abend. Der Schauplatz wechselt nie. Am Beginn jedes Aktes wie auch zwischen den Dialogen finden sich sehr detaillierte Regieanweisungen, in denen neben der Ausstattung des Salons und dem Aussehen der Figuren auch die Gemütszustände derselben beschrieben werden. Die Vorgeschichte der Familie ist kunstvoll in die Handlung eingewoben. Der Zuschauer erlebt die Tyrones eingebettet in ihren Alltag; biografische Katastrophen und charakterliche Besonderheiten werden wie beiläufig enthüllt. Das Stück ist arm an äußerer Handlung, es lebt von seiner psychologischen Tiefe und den inneren Konflikten der Figuren. Die Dialoge wirken spontan, authentisch und glaubhaft. Sobald jemand an ein familiäres Tabu rührt, wird das Gespräch in eine andere Richtung gelenkt. Auf Hassausbrüche und Schuldzuweisungen folgen prompt Liebesversicherungen; Verletzungen und Angriffe werden sogleich schuldbewusst zurückgenommen. Dieses ständige emotionale Hin und Her verhindert einen wirklichen Austausch der Figuren untereinander: Man redet unablässig aneinander vorbei.

Interpretationsansätze

  • Das Stück ist ein Familiendrama, das den Zuschauer hautnah einen ganzen Tag im Leben der Tyrones miterleben lässt. Eugene O’Neill war überzeugt, dass sich familiäre Tragödien geradezu schicksalhaft von einer Generation zur anderen vererben: „Schicksal entspringt aus der Familie“, notierte er einmal in einem anderem Zusammenhang. Der Mensch ist nach seiner Auffassung nicht ein freies, souverän handelndes Subjekt, sondern immer ein Opfer der Umstände, unter denen er aufgewachsen ist.
  • Jeder Ansatz einer echten Kommunikation wird im Keim erstickt. Sobald eine Annäherung zu gelingen scheint, weichen die Figuren einander wieder aus und flüchten sich in Lügen und Vorwürfe.
  • Über die private Situation der Familie hinaus zeichnet O’Neill ein Gesellschaftsbild, in der allein soziales Prestige und wirtschaftlicher Erfolg zählen, Scheitern und Sucht dagegen tabuisiert sind. Wie O’Neills eigene Familie stammen die Tyrones von katholischen irischen Einwanderern ab. In der Stadt gehören sie damit zu einer von den alteingesessenen Puritanern sozial ausgegrenzten Minderheit – trotz ihres relativen Wohlstands.
  • O’Neills Stück weist zahlreiche autobiografische Bezüge auf: Die Vornamen und Biografien der Personen entsprechen weitgehend denen seiner realen Familie. In der Figur des Edmund, eines psychisch labilen Poeten und alkoholsüchtigen Seefahrers, porträtierte O’Neill sich selbst. Edmund scheitert bei dem Versuch, die beiden zentralen Tabuthemen – die Drogenabhängigkeit der Mutter und die eigene Schwindsucht – anzusprechen und damit der Wahrheit ins Gesicht zu blicken.
  • In dem Stück gibt es keine reinigende Zerstörung der Illusionen, was seine deprimierende Wirkung noch verstärkt. Zwar bewegen sich die drei Männer am Ende ein wenig aufeinander zu, doch Marys Rückzug in ihre Traumwelt erscheint endgültig.
  • Das Motiv des Nebels, das das Drama durchzieht, symbolisiert einerseits die Realitätsflucht aller Figuren, andererseits die Isolation der Familie von der Außenwelt.

Historischer Hintergrund

Der Siegeszug der Psychoanalyse und der amerikanische Traum

In den USA setzte man sich ab den 1920er Jahren mit den Werken von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung viel intensiver auseinander als in Europa. Nachdem Freud 1909 nach Amerika gereist war, um an der Clark University vor gemischtem Publikum seine Ideen vorzustellen, erlebte die Psychoanalyse dort schon bald einen anhaltenden Boom. Ob es sich um die Rolle des Unbewussten in unserem Leben, um den sexuellen Charakter unserer Wünsche oder um die Familie als Ursprung psychischer Erkrankungen und Neurosen handelte – Freuds Ideen fanden rasch Eingang in die amerikanischen Populärkultur, in Film und Theater wie auch in Ratgeberliteratur und Belletristik. Die Psychoanalyse wurde zu einer regelrechten Mode. Während die Familie zuvor als eine Möglichkeit betrachtet worden war, seinen Platz in einer langen Reihe von Generationen und in der sozialen Ordnung zu definieren, so gewann sie jetzt symbolische Bedeutung. Für den Einzelnen galt es nun, familiäre Muster und Prägungen in seinem Leben zu erkennen und sich davon zu befreien.

Ab den 1940er Jahren weitete sich der Wirkungskreis der Psychoanalyse in den USA zunehmend auf den „normalen Bürger“ aus. Hatte sich die Arbeit der Psychologen zuvor überwiegend auf Angehörige des Militärs und auf die Kommunikation innerhalb wirtschaftlicher Unternehmen sowie auf geistig schwer geschädigte Menschen konzentriert, so gerieten nun zunehmend ganz gewöhnliche Mittelschichtangehörige mit ihren Alltagssorgen und Neurosen in den Einflussbereich der Psychologen. Bereits ab den 50er Jahren bildete sich ein Markt für psychotherapeutische Dienstleistungen heraus, der sich bald zu einem wesentlichen Bestandteil der amerikanischen populären Kultur verfestigen sollte.

Auch wenn persönliches Scheitern unter dem wachsenden Einfluss der Psychoanalyse zunehmend auf innerfamiliäre und somit private Ursprünge zurückgeführt wurde, gerieten die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in den USA immer wieder in die Kritik. Trotz Wirtschaftskrise und Machtverlust hielt sich die Vorstellung von Amerika als einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten hartnäckig im Bewusstsein der Menschen. Materieller Reichtum und Aufstieg in der sozialen Hierarchie, so die Grundüberzeugung, waren für jeden erreichbar, sofern er sich nur bemühte. Leistung und persönliche Anstrengung entschieden über Erfolg; Misserfolg galt als Ausweis charakterlicher Schwäche. Viele amerikanische Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von F. Scott Fitzgerald bis Arthur Miller, setzten sich kritisch mit dem amerikanischen Traum auseinander und wiesen auf die Diskrepanz zwischen Wunschvorstellung und Wirklichkeit hin. Insbesondere Immigrantenfamilien, deren Vorfahren dem Mythos von Freiheit, Selbstverwirklichung und materiellem Wohlstand gefolgt waren, wurden von der Realität oftmals bitter enttäuscht.

Entstehung

Bereits 1928, elf Jahre bevor er mit der Arbeit an Eines langen Tages Reise in die Nacht begann, hatte Eugene O’Neill ein autobiografisches Drama geplant. Als er das Stück schließlich zwischen 1939 und 1941 schrieb, war er von Krankheiten und Depressionen gezeichnet und litt unter schweren körperlichen Qualen. Nach Beendigung des Werks hinterlegte er eine Kopie des Manuskripts beim Verlag Random House und bestimmte, dass das Stück erst 25 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden dürfe. Seine Witwe Carlotta Monterey setzte sich jedoch über diese Bestimmung hinweg und übertrug die Rechte an dem Stück der Universität von Yale. Ihr, seiner dritten Frau, hatte O’Neill dieses „Stück über einen alten Kummer, geschrieben mit Blut und Tränen“, gewidmet, aus Dankbarkeit dafür, dass ihre Liebe es ihm ermöglichte, „mich endlich mit meinen Toten auseinanderzusetzen“. Eines langen Tages Reise in die Nacht wurde 1956, drei Jahre nach dem Tod des Autors, erstmals veröffentlicht.

Wirkungsgeschichte

Den meisten Kritikern gilt Eines langen Tages Reise in die Nacht als Eugene O’Neills Meisterwerk, und auch beim Publikum feiert das Drama bis heute große Erfolge. Das Stück wurde 1956 in Stockholm uraufgeführt und schon ein Jahr später mit dem Tony Award und – als viertes von Eugene O’Neills Dramen – mit dem Pulitzerpreis für Theater ausgezeichnet. Die amerikanische und deutsche Uraufführung fanden ebenfalls im Jahr 1956 statt. Auch in der deutschsprachigen literarischen Kritik und auf der Bühne erlebte Eines langen Tages Reise in die Nacht eine starke Resonanz.

Der amerikanische Regisseur Sidney Lumet verfilmte das Familiendrama 1962 mit Katherine Hepburn, die für ihre Darstellung der morphiumsüchtigen Mary für einen Oscar nominiert wurde und bei den Filmfestspielen in Cannes einen Preis gewann.

Über den Autor

Eugene O’Neill wird am 16. Oktober 1888 als dritter Sohn des irischstämmigen Schauspielers James O’Neill und seiner Frau Mary in einem New Yorker Hotelzimmer am Broadway geboren. Der zweite Sohn Edmund ist im Alter von anderthalb Jahren an Masern gestorben. Mit seiner Mutter und dem älteren Bruder James begleitet der junge Eugene den Vater auf dessen Tournee quer durch die USA und besucht verschiedene katholische Internate. Nach Abschluss der Schule beginnt er 1906 ein Studium an der Universität Princeton, aus der er jedoch bereits ein knappes Jahr später wegen Regelverstoßes ausgeschlossen wird. In den folgenden Jahren versucht er sich u. a. als Goldsucher in Honduras und als Seemann. Eine Zeit lang führt er das Leben eines alkoholkranken Obdachlosen in New York, Buenos Aires und Liverpool, wobei er auch einen Selbstmordversuch unternimmt. Im Alter von 24 Jahren findet er für ein paar Monate einen Job als Reporter und Autor lyrischer Beiträge beim New London Telegraph. 1912 erkrankt er an Tuberkulose und verbringt ein halbes Jahr im Sanatorium, wo er sich intensiv mit Ibsen, Strindberg, Nietzsche und Dostojewski beschäftigt und beschließt, selbst Dramatiker zu werden. O’Neill arbeitet einige Jahre für eine experimentelle Künstlergruppe, die alle seine Einakter aufführt. Mit Beyond the Horizon (Jenseits vom Horizont, 1920) erlangt er erstmals die Aufmerksamkeit eines breiteren Theaterpublikums. In den folgenden Jahrzehnten feiert er große Erfolge mit Stücken wie Mourning Becomes Electra (Trauer muss Elektra tragen, 1931). Sein Meistwerk Long Day’s Journey into Night (Eines langen Tages Reise in die Nacht) wird erst 1956 posthum veröffentlicht. 1936 gewinnt er – als erster amerikanischer Dramatiker – den Nobelpreis für Literatur. Privat allerdings erleidet er zahlreiche Schicksalsschläge. Seine beiden ersten Ehen werden geschieden, von seiner dritten Frau lebt er zeitweise getrennt. Sein alkoholkranker Sohn begeht Selbstmord und zu seiner Tochter Oona, deren Heirat mit Charlie Chaplin er missbilligt, bricht er jeden Kontakt ab. Seine letzten Jahre verbringt der an einem Nervenleiden erkrankte Autor zurückgezogen in einem Bostoner Hotel, wo er am 27. November 1953 stirbt. „In einem Hotelzimmer geboren und verdammt noch mal in einem Hotelzimmer gestorben“, sind angeblich seine letzten Worte.

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