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Die Gesandten

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Die Gesandten

Hanser,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Eine amerikanische Rettungsaktion in Europa geht schief – zur Freude des Lesers.

Literatur­klassiker

  • Psychologischer Roman
  • Moderne

Worum es geht

Ein Blick auf die Landschaften der Seele

Die Gesandten ist nicht der erste Roman, dessen LektĂŒre mit einer anstrengenden Bergtour verglichen wurde: Es gilt, ĂŒber 600 Seiten geduldig einen Fuß vor den anderen zu setzen, angesichts falsch gesetzter Wegzeichen und nebliger Sicht der Orientierung nicht allzu sehr zu vertrauen, viele Umwege in Kauf zu nehmen, um am Ende mit einmaligen Aus- und Einsichten belohnt zu werden. Diese erschließen sich weniger aus der dĂŒrren Handlung – ein Amerikaner ĂŒberwindet seine Midlife-Crisis, indem er sich den sinnlichen und kulturellen Verheißungen der Alten Welt hingibt. Faszinierend ist vielmehr der zurĂŒckgelegte Weg intensiver Introspektion. Henry James, den T. S. Eliot fĂŒr den intelligentesten Menschen seiner Generation hielt, malt ergreifende Bilder von den Landschaften der Seele, im Bewusstsein, „welche erschĂŒtternd geringe Zahl von Lesern wahre Schönheit ĂŒberhaupt jemals erkennen oder vermissen wird.“ Es ist wie mit der Bergtour: Man muss einmal den Gipfel erklommen haben, um zu wissen, was man all die Jahre zuvor im Flachland verpasst hat.

Take-aways

  • Henry James hielt seinen 1903 veröffentlichten Roman Die Gesandten fĂŒr seinen besten.
  • Inhalt: Der 55-jĂ€hrige Amerikaner Lambert Strether wird von seiner reichen Verlobten nach Paris geschickt, damit er ihren Sohn Chad den FĂ€ngen einer vermeintlichen Kokotte entreißt. Doch die Dame entpuppt sich als bezaubernde Comtesse – und Paris als ein wahrer Jungbrunnen. Strether rĂ€t Chad zu bleiben, wĂ€hrend er selbst den Antrag einer Amerikanerin, bei ihr in Paris zu bleiben, ausschlĂ€gt und in die USA zurĂŒckkehrt.
  • Auf den ersten Blick passiert wenig: Strethers Gedanken, Wahrnehmungen und Erinnerungen sind die eigentliche Substanz des Romans.
  • Mit der literarischen Technik des Bewusstseinsstroms wird die Illusion eines Handlungsverlaufs in Echtzeit geschaffen.
  • Lambert Strether trĂ€gt stark autobiografische ZĂŒge: Henry James versuchte als junger Mann, sich in Paris niederzulassen, scheiterte aber.
  • James variiert im Roman erneut sein Lebensthema, die komplexen Beziehungen zwischen Europa und Amerika.
  • SchachtelsĂ€tze, Metaphern und vieldeutige Dialoge machen das Buch zur anspruchsvollen LektĂŒre.
  • Viele sehen in James’ SpĂ€twerk den Beginn der literarischen Moderne, doch beim Publikum fiel es durch.
  • Heute wird James als brillanter Stilist und Maler der menschlichen Seele verehrt.
  • Zitat: „Leben Sie, so intensiv Sie können; alles andere ist ein Fehler. Was Sie tun, spielt eigentlich keine große Rolle, solange Sie Ihr eigenes Leben leben.“

Zusammenfassung

Auf schwieriger Mission

Der 55-jĂ€hrige Amerikaner Lambert Strether wird von seiner Verlobten Mrs. Newsome, einer reichen Fabrikantenwitwe, nach Europa geschickt. Er soll ihren Sohn Chad nach Amerika zurĂŒckholen, damit der als Reklamefachmann ins FamiliengeschĂ€ft einsteigt. Die Familie nimmt an, dass ein verruchtes Frauenzimmer ihn in Paris festhĂ€lt. In der Lobby eines Hotels im englischen Chester lernt Strether Maria Gostrey kennen, eine amerikanische ReisefĂŒhrerin mit Wohnsitz in Paris. Sie ist nicht mehr ganz jung, aber elegant, selbststĂ€ndig, weltgewandt und erfrischend unkonventionell. Am Abend trifft auch sein alter Freund Waymarsh ein, der sich bereits seit einer Weile in Europa aufhĂ€lt und lieber heute als morgen zurĂŒck in die Staaten möchte. Doch Strether ĂŒberredet ihn, zu bleiben und mit ihm nach Paris zu reisen.

„Ich bin in Gedanken immer woanders; ich meine, woanders als bei der augenblicklichen Situation. Dies Besessensein von diesem Anderen, das ist der Albtraum.“ (Strether, S. 22 f.)

Sie machen Zwischenstation in London. Hier geht Strether mit Miss Gostrey in die Oper und diniert zuvor mit ihr bei Kerzenschein. Ihr dekolletiertes Kleid und das Samtband um ihren Hals beflĂŒgeln seine Fantasie, ein GefĂŒhl, das er so noch nie verspĂŒrt hat. Strether meint, im Leben nichts erreicht und alles verloren zu haben: erst seine junge Frau und dann, zehn Jahre spĂ€ter, den von ihm vernachlĂ€ssigten Sohn. Zu Hause in Neuengland gibt er eine von seiner Verlobten finanzierte Zeitschrift heraus. Miss Gostrey erzĂ€hlt er an diesem Abend von seiner Mission, Chad zu retten. Auf die Frage seiner GefĂ€hrtin, was er bei einem Scheitern seiner Mission zu verlieren habe, antwortet er zum Abschied: „Alles.“

Eine Stadt wie keine andere

Paris mit seinen breiten Alleen und verspielten FontĂ€nen, dem bunten Menschengewimmel und den verfĂŒhrerischen GerĂŒchen verzaubert Strether. Tief vergrabene Erinnerungen an eine Parisreise seiner Jugend werden wach. Nach einigen Tagen macht er sich endlich auf, Chad in desssen Wohnung am eleganten Boulevard Malesherbes zu besuchen. Lange bleibt er unschlĂŒssig auf der gegenĂŒberliegenden Straßenseite stehen, bis er einen jungen Mann auf dem Balkon erblickt. Beide fixieren einander mehrere Minuten lang. SpĂ€ter stellt sich heraus, dass Chad nach Cannes verreist ist und Mr. Bilham, ein mittelloser KĂŒnstler, Chads Wohnung hĂŒtet. Am nĂ€chsten Morgen treffen sich Strether, Waymarsh und Bilham zum Dejeuner. Bilham hat seine Bekannte Miss Barrace mitgebracht, eine spottlustige Dame mit Lorgnette, die alles und jeden „fabelhaft“ findet. Vor allem der mĂŒrrische, in ihren Augen typisch amerikanische Waymarsh hat es ihr angetan. Miss Barrace und Bilham loben Chad ĂŒber den grĂŒnen Klee, und Strether spĂŒrt, wie die beiden ihn langsam vom rechten Weg abbringen.

Überraschungsauftritt im Theater

Strether geht mit Miss Gostrey und Waymarsh ins Theater. Bilham war auch eingeladen, lĂ€sst sich aber seltsamerweise nicht blicken. Der Grund wird allen klar, als unvermittelt die LogentĂŒr aufgeht und anstelle von Bilham Chad vor ihnen steht. Er hat sich so stark verĂ€ndert, dass Strether ihn zunĂ€chst nicht wiedererkennt: Chad wirkt reifer, als seine 28 Jahre vermuten lassen, mit grauen StrĂ€hnen im dichten schwarzen Haar, und ist von geschliffener MĂ€nnlichkeit – unverkennbar ein Typ, der Frauen gefĂ€llt. Nach der AuffĂŒhrung fordert Strether den jungen Mann hastig auf, er solle umgehend in die Heimat zurĂŒckkehren. Chad geht nicht darauf ein. Den Verdacht, eine Frau halte ihn in Paris fest, will er nicht bestĂ€tigen. Er sei ungebunden, und im Übrigen könnten einen in Paris auch andere Dinge als eine Frau zum Bleiben bewegen.

„(
) und die rosenfarbigen Schirmchen und der kleine Tisch und der zarte Duft der Dame – waren seine Sinne schon jemals von etwas so sanft berĂŒhrt worden? – glichen Pinselstrichen in einem fĂŒr ihn schier unfassbar aufregenden GemĂ€lde.“ (ĂŒber Strether, S. 50)

Von nun an ist Chad ein sehr aufmerksamer Gastgeber. Strether muss anerkennen, dass der Junge sich vom rĂŒpelhaften Lebemann zu einem feinfĂŒhligen Gentleman entwickelt hat. Nach Ansicht Miss Gostreys kann nur eine Frau dahinterstecken. Und Bilham behauptet zu Strethers Erstaunen, Chads Beziehung zu dieser Frau sei tugendhaft.

Leben, bevor es zu spÀt ist

Chad lĂ€dt Strether zu einer Gartenparty des berĂŒhmten Bildhauers Gloriani ein. Auf dem Anwesen flanieren Regierungsbeamte, Adlige, Schauspielerinnen, Musikerinnen und KĂŒnstler durcheinander. Chad stellt Strether die Comtesse Marie de Vionnet vor. Trotz ihrer 38 Jahre wirkt sie wie ein junges MĂ€dchen. Ihr charmantes, diskretes LĂ€cheln und ihr fremdartiges Englisch bezaubern Strether. Gedankenverloren sitzt er auf einer Bank, als sich Bilham zu ihm gesellt. Wie aus heiterem Himmel drĂ€ngt Strether den jungen Mann, bewusst zu leben: Er solle seine Jugend auskosten, bevor es zu spĂ€t sei.

„Leben Sie, so intensiv Sie können; alles andere ist ein Fehler. Was Sie tun, spielt eigentlich keine große Rolle, solange Sie Ihr eigenes Leben leben.“ (Strether zu Bilham, S. 205)

Wenig spĂ€ter kommt Chad mit Maries Tochter Jeanne de Vionnet zu ihm, einem ĂŒberirdisch schönen MĂ€dchen. Strether ist ĂŒberzeugt, Chads tugendhafter AffĂ€re gegenĂŒberzustehen. SpĂ€ter stellt sich heraus, dass sich Miss Gostrey und Madame de Vionnet aus ihrer gemeinsamen Schulzeit in Genf kennt. Erstere erzĂ€hlt ihm von der frĂŒhen Ehe ihrer Schulfreundin mit einem adligen Unhold. Die beiden sind rechtskrĂ€ftig getrennt, dĂŒrfen sich aber nicht scheiden lassen. Am Tag darauf klĂ€rt Chad Strether darĂŒber auf, dass er nicht mit Jeanne verlobt ist. Die tugendhafte Beziehung bestehe vielmehr zu ihrer Mutter.

Asymmetrische Beziehungen

Madame de Vionnet bewohnt ein altes Haus in einer noblen Pariser Gegend. Strether meint, dort die Aura Napoleons und die Glorie des Ersten Kaiserreichs zu spĂŒren. Die Hausherrin verwickelt Strether in ein eigentĂŒmliches GesprĂ€ch, in dessen Verlauf sie ihn dezent umgarnt – und das doch nur auf eines hinauslĂ€uft: Madame de Vionnet möchte, dass Strether Chads Familie davon ĂŒberzeugt, dass sie einen guten Einfluss auf ihn ausgeĂŒbt hat und weiter auszuĂŒben gedenkt. Strether verspricht ihr das, obwohl ihm die heiklen Konsequenzen seines Seitenwechsels bewusst sind. Als er spĂ€ter mit Bilham ĂŒber die eigentĂŒmliche Dreiecksbeziehung zwischen Mutter, Tochter und Chad spricht, Ă€ußert der junge Mann vorsichtige Zweifel an Chads Treue. Er hat den Eindruck, dass Madame de Vionnet inzwischen mehr fĂŒr Chad empfindet als dieser fĂŒr sie, und er glaubt nicht, dass Chad ewig darauf verzichten wird, zu heiraten und seine Zukunft in die eigene Hand zu nehmen.

Hin und her und doch wieder nicht

Im dĂ€mmrigen Licht der Kathedrale Notre-Dame trifft Strether ĂŒberraschend Madame de Vionnet, die, wie sich herausstellt, Kirchen genauso liebt wie er. Die beiden gehen gemeinsam in einem romantischen Restaurant am Seine-Ufer essen. Strether genießt die IntensitĂ€t des Augenblicks, das Klirren der GlĂ€ser, die Aussicht auf den Fluss und die charmante Gesellschaft. In Amerika hat man jedoch offenbar das Vertrauen in ihn verloren: Per Telegramm fordert Mrs. Newsome ihren Verlobten auf, unverzĂŒglich zurĂŒckzukehren – notfalls auch ohne Chad. Dieser verkĂŒndet wiederum am nĂ€chsten Morgen seine Absicht, mit dem nĂ€chsten Schiff nach Hause reisen zu wollen. Er ist ĂŒberaus verblĂŒfft, als Strether ihm davon abrĂ€t und ihn bittet, noch eine Weile zu bleiben. Chad willigt ein.

„Ich betrinke mich nicht, ich steige den Damen nicht hinterher; ich verpulvere kein Geld; ich schreibe nicht einmal Sonette. Und trotzdem hole ich spĂ€t nach, was ich frĂŒh versĂ€umt habe.“ (Strether, S. 317)

Strether ist nicht ĂŒberrascht, als Mrs. Newsome daraufhin ihre Tochter Sarah und deren Mann Jim Pocock sowie Jims bildhĂŒbsche Schwester Mamie als neue Gesandte nach Paris schickt. Ihre bis dahin lebhafte Korrespondenz mit Strether bricht sie ab. Strether vermutet, dass Waymarsh sich mit der Heimat in Verbindung gesetzt und den energischen RĂŒckzugsbefehl ausgelöst hat – ein Verdacht, den der Freund durch seine stumme, vorwurfsvolle Art zu bestĂ€tigen scheint.

Der Pocock-Schock

Sarah wirkt bei ihrer Ankunft erfrischt, Mamie ist einfach entzĂŒckend, und der ordinĂ€re Jim freut sich darauf, in Paris die Puppen tanzen zu lassen. Chads Verwandlung scheinen die Neuankömmlinge nicht wahrzunehmen, sodass Strether sich zwischenzeitlich fragt, ob ihm die eigene Vorstellungskraft nicht einen Streich gespielt hat. Jim bestĂ€tigt ihm, dass Mrs. Newsome sich verraten fĂŒhlt, und warnt ihn augenzwinkernd, bloß nicht in die Höhle der Löwin zurĂŒckzukehren. Am nĂ€chsten Morgen trifft Strether Madame de Vionnet in Sarahs Hotelzimmer an und wird Zeuge, wie die Frauen einander umschleichen. Die Pariserin gibt sich zuckersĂŒĂŸ, kehrt ihre Überlegenheit jedoch subtil heraus; Sarah wird vor Ärger ganz fleckig im Gesicht. Eine unerwartete Wendung tritt ein, als Strether erfĂ€hrt, dass Chad und Madame de Vionnet planen, Jeanne zu verheiraten.

„Sie sind nicht angriffslustig; sie lassen einen ganz dicht heran. Sie prĂ€sentieren Samtpfoten – die Krallen stecken dahinter.“ (Jim Pocock ĂŒber Sarah und Mrs. Newsome, S. 348)

Strether möchte mit Sarah sprechen, trifft aber auf Mamie, die allein im Hotel zurĂŒckgeblieben ist und sehnsĂŒchtig vom Balkon auf das bunte Treiben der Stadt blickt. Sie, die eigentlich als Köder fĂŒr Chad mitgeschickt wurde, hat sofort alles begriffen und sich schnurstracks in Bilham verguckt. In ihrer ruhigen, wĂŒrdevollen und selbstlosen Art erscheint sie Strether einfach wundervoll, und er spĂŒrt, dass er sie auf seiner Seite hat.

Der Showdown

Drei Tage spĂ€ter organisiert Chad fĂŒr seine Verwandten ein rauschendes Fest mit hervorragender Musik und illustren GĂ€sten. Doch Strether spĂŒrt, dass Unheil in der Luft liegt. Waymarsh, der Sarah zuletzt ganz tugendhaft den Hof gemacht hat, richtet Strether eines Morgens aus, dass diese ihn sprechen wolle. Dann fĂŒgt er hinzu, dass er gemeinsam mit den Pococks abreisen werde, erst in die Schweiz und dann zurĂŒck in die Staaten. Kurz darauf pflanzt sich Sarah vor Strether auf: Chad warte nur auf ein Wort von ihm, dann werde er unverzĂŒglich abreisen, behauptet sie. Sie und ihre Mutter, als deren Stellvertreterin sie handelt, sind augenscheinlich empört, mit jener „Person“ – gemeint ist Madame de Vionnet – auch nur in einem Atemzug genannt zu werden. In Sarahs Augen ist diese eine liederliche Schlampe, die einen abscheulichen Einfluss auf Chad ausĂŒbt. Sie lĂ€sst Strether im GefĂŒhl zurĂŒck, dass er es sich fĂŒr immer mit Mrs. Newsome verdorben hat.

„Da Mrs. Newsome im Wesentlichen aus moralischem Druck bestand, war das Vorhandensein dieses Elements beinahe gleichbedeutend mit ihrer physischen PrĂ€senz.“ (S. 453)

Am Abend sucht er eine Aussprache mit Chad. Dieser gibt zu, dass er Sarah an Strether verwiesen hat, jedoch, wie er bekrĂ€ftigt, ohne damit eine böse Absicht verfolgt zu haben. Am Ergebnis – dass seine Familie die Verantwortung auf Strether schiebt – Ă€ndert das natĂŒrlich nichts. Doch der Beschuldigte kann damit leben. Chad möchte wissen, was Strether ĂŒberhaupt fĂŒr seine Mutter empfindet. Statt zu antworten fragt Strether Chad, ob dieser nun zur Abreise bereit sei. Wieder weicht der junge Mann aus, als wĂŒsste er selbst nicht genau, was er will. Am nĂ€chsten Morgen geht Strether zu Sarah und ĂŒbernimmt, sollte Chad in Paris bleiben, die Verantwortung dafĂŒr. Und was ihn selbst betrifft, so weiß er gar nicht, ob er sich eine Versöhnung mit Mrs. Newsome ĂŒberhaupt wĂŒnschen soll. Deren starre Moral, kaltes KalkĂŒl und Mangel an Fantasie schrecken ihn nun eher ab.

Auf dem Land

Strether fĂ€hrt an einem heißen Julitag mit dem Zug aufs Land. Spontan steigt er an einem malerischen Ort aus, der ihn mit seinen weißen HĂ€usern, den Pappeln und Binsen am Fluss an ein geliebtes GemĂ€lde erinnert. Er liegt auf dem RĂŒcken im Gras und denkt voller Sehnsucht an Madame de Vionnet. Am Abend kehrt er in einem Gasthaus ein und wartet in einem schlichten Pavillon am Flussufer auf seine Mahlzeit – als sich ein Ruderboot nĂ€hert. Er erstarrt. Auch die beiden Insassen scheinen einen Moment innezuhalten. Nach wenigen, quĂ€lend langen Augenblicken schwenkt Strether seinen Hut und Stock als Zeichen, dass er Chad und Madame de Vionnet erkannt hat. Chad rudert ans Ufer, und fĂŒr den Rest des Abends versuchen alle drei, die Peinlichkeit des Vorfalls zu ĂŒberspielen. Zu dritt nehmen sie den Zug zurĂŒck nach Paris, obwohl mehr als offensichtlich ist, dass das Paar die Nacht ohne diese zufĂ€llige Begegnung in seinem Liebesnest verbracht hĂ€tte.

Au revoir, Paris

Am nĂ€chsten Tag bittet Madame de Vionnet Strether per Rohrpost zu sich. Die am Vortag aufgefĂŒhrte Komödie spricht sie zu seiner großen Erleichterung nicht an. Vielmehr möchte sie sicherstellen, dass er sie nicht verachtet. Doch Strether begreift voller Mitleid, dass es ihr letztlich um Chad und damit um ihr eigenes Leben geht. Als er ihr das sagt, bricht sie in TrĂ€nen aus. Sie wirkt mit einem Mal Ă€lter, und sie weiß es. Beim Abschied versichert Strether ihr, dass er ihr Freund war. Beide wissen jedoch, dass sie sich nie wiedersehen werden.

„Der rechteckige, vergoldete Rahmen gab die Grenzen vor; Pappeln und Weiden, Binsen und Fluss – ein Fluss, dessen Namen er weder wusste noch wissen wollte – gruppierten sich darin zu einer glĂŒcklichen Komposition (
)“ (ĂŒber Strether, S. 500)

Dann trifft er Chad, der von einer einwöchigen Reise nach England zurĂŒckgekehrt ist, und beschwört ihn, Madame de Vionnet niemals aufzugeben; er wĂ€re ein Unmensch, wenn er das tĂ€te. Chad, der auf einmal wieder sehr jung wirkt, ist ganz seiner Meinung. Doch auch die Reklamebranche interessiert ihn. Er möchte zumindest herausfinden, wie viel seine Familie bereit wĂ€re, fĂŒr seine RĂŒckkehr zu bieten. Beim Abschied von Maria Gostrey Ă€ußert Strether Zweifel, dass Chad seiner zehn Jahre Ă€lteren Geliebten die Treue halten wird. Er glaubt auch nicht, dass Mrs. Newsome ihm, Strether, eine zweite Chance geben wird. Dennoch schlĂ€gt er das Angebot seiner teuren Freundin und Ratgeberin aus, bei ihr in Paris zu bleiben. Denn nur wenn er sich selbst bei der ganzen Geschichte keine Vorteile verschaffe, könne er die Achtung vor sich selbst bewahren – eine EinschĂ€tzung, der sie widerstrebend zustimmt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Henry James warnte eine Freundin vor der LektĂŒre der Gesandten, sie solle behutsam mit dem Roman umgehen: „Zerreißen Sie nicht den Faden!“ Die Gefahr ist real, denn James verzichtet fast vollstĂ€ndig auf eine auktoriale ErzĂ€hlerperspektive. Stattdessen spielt sich die Geschichte vorwiegend in Strethers Kopf ab, und darin besteht die eigentliche Handlung des Romans. Die Wiedergabe von Strethers Wahrnehmungen und Gedanken soll nach Aussage des Autors eine „Illusion des wirklichen Zeitverlaufs“ vermitteln. Oft dehnt dieser Bewusstseinsstrom den Fortgang der Ă€ußeren Handlung derart, dass man meint, dieser in Zeitlupe zuzusehen. Der verschachtelte Satzbau, die metaphorische Sprache und die vieldeutigen Dialoge sind Ausdruck von Strethers grenzenloser Fantasie, seinem intellektuellen Scharfsinn und seinem Hang zum Zaudern und Zweifeln. James ĂŒbertrĂ€gt auch die französische Malerei der Belle Époque in Sprache: Jeder Pinselstrich ist dabei einem strengen kompositorischen Prinzip unterworfen. Beispielsweise ist die Figur Miss Gostreys nicht als romantische Möglichkeit angelegt, sondern als Komplizin des Lesers: ein Kunstgriff, der hilft, Strethers Gedanken zu entwirren, damit wir bei der LektĂŒre nicht den Faden verlieren – oder ihn gar zerreißen.

InterpretationsansÀtze

  • Die Gesandten ist ein Buch ĂŒber die Zeit und ĂŒber Zeitebenen: die vergangene Zeit, mit all ihren Verheerungen, Unterlassungen und verpassten Gelegenheiten, und die vergehende Zeit, mit ihrer Flut an SinneseindrĂŒcken und Gedanken und GefĂŒhlen. Henry James perfektionierte in dem Roman die Technik des „Bewusstseinsstroms“, ein Begriff, den sein Bruder William prĂ€gte.
  • Die Spannung zwischen Jung und Alt ist ein SchlĂŒsselthema des Romans: Strether ist besessen von der Sorge, seine besten Jahre vergeudet zu haben, und die fast divenhafte Angst vor dem Altern macht ihn depressiv. Allerdings verschwimmen die Altersgrenzen zunehmend: Je nach Perspektive und GefĂŒhlslage wirken Personen abwechselnd Ă€lter oder jĂŒnger, und Strether lernt noch als reifer Mann, den Moment zu genießen.
  • Das Buch ist ein PlĂ€doyer gegen Schwarzweißmalerei und fĂŒr grĂ¶ĂŸtmögliche Offenheit gegenĂŒber unterschiedlichen LebensentwĂŒrfen. Was Strether in Paris erlebt, ist die Auflösung alter Gewissheiten. Gleichzeitig bleiben neue Fragen unbeantwortet: Was ist ein gelungenes Leben? Was eine glĂŒckliche Beziehung? Der Leser schaut Strether dabei zu, wie er die moralischen Fesseln Neuenglands abwirft, eine Art zweite Jugend durchlebt und eine liebende Frau zurĂŒckweist.
  • FĂŒr viele ist Die Gesandten daher der erste moderne Roman ĂŒberhaupt. Im Zentrum der wiederkehrenden Theatermetaphorik steht das Verwirrspiel zwischen Schein und Sein: Wir erleben Strethers Kopftheater, als schauten wir von der Loge aus zu. Jede Figur spielt eine Rolle und ist in ihrer eigenen, subjektiven Wahrnehmung gefangen. Kommunikation ist der Versuch, diese Grenzen zu durchbrechen – sie scheitert an der Unmöglichkeit, die objektive RealitĂ€t mithilfe von Sprache abzubilden.
  • VerstĂ€ndigungsprobleme zwischen EuropĂ€ern und Amerikanern sind der Kern des „internationalen Themas“, das James hier erneut variiert. Anders als frĂŒher legt er die Figuren vieldeutiger an: Die Amerikaner sind tendenziell verklemmter, kulturloser und materialistischer, aber auch offener, ehrlicher und fleißiger als die EuropĂ€er. Allerdings hĂ€ngen diese Eigenschaften immer vom Kontext und der Perspektive ab.

Historischer Hintergrund

Zwischen Belle Époque und Gilded Age

Der Philosoph Walter Benjamin prĂ€gte die Wendung: „Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“. In Paris wurden viele politische, kĂŒnstlerische und technische Innovationen der Moderne geboren; von hier aus breitete sich das LebensgefĂŒhl der Belle Époque nach ganz Europa aus. Um die Jahrhundertwende, in einer Zeit des Friedens und des wachsenden Wohlstands, brachte die Stadt nicht nur Moulin Rouge, schlĂŒpfrige VarietĂ©s und skandalöse Kokotten hervor, sondern erlebte auch gewaltige UmbrĂŒche: Automobile verdrĂ€ngten die Kutschen von den Straßen, Flugzeuge und das Telefon ließen Entfernungen schrumpfen, und zur Pariser Weltausstellung 1889 wurde der Eiffelturm errichtet, mit einer Höhe von mehr als 300 Metern das Wahrzeichen eines grenzenlosen Fortschrittsglaubens.

Zugleich war Paris Sehnsuchtsort fĂŒr Bohemiens, KĂŒnstler und Touristen aus aller Welt, darunter auch aus der Neuen: ein Dreh- und Angelpunkt auf der sogenannten Grand Tour gebildeter und wohlhabender Amerikaner, die sich auf einer Reise von mehreren Monaten oder Jahren ihrer kulturellen Wurzeln in Europa vergewisserten. Denn nach den Verheerungen des amerikanischen BĂŒrgerkriegs und dem Wiederaufbau erlebten auch die USA eine wirtschaftliche BlĂŒtezeit – die ĂŒbrigens Mark Twain ironisch als „Gilded Age“ (vergoldetes Zeitalter) bezeichnete. Das gestiegene Selbstbewusstsein der Amerikaner, gepaart mit dem Anspruch, im Weltgeschehen ein Wörtchen mitreden zu wollen, lieferte einen Vorgeschmack auf die Zeit, in der Paris die Fackel der Moderne an New York ĂŒbergeben wĂŒrde – die Hauptstadt des 20., des amerikanischen Jahrhunderts.

Entstehung

Die Figur des Lambert Strether trĂ€gt autobiografische ZĂŒge: Der Amerikaner Henry James versuchte als junger Mann, sich in Paris niederzulassen; anders als sein Romanheld scheiterte er aber. Obwohl ein geselliger Salonlöwe, war der Autor zutiefst einsam. Die Frauen liebten ihn fĂŒr seine Feinsinnigkeit und Empathie – doch ließ er körperliche NĂ€he nie zu und entschied sich, Ă€hnlich wie Strether, fĂŒr ein zölibatĂ€res Leben. Nach einem Jahr in Paris zog er nach London, wo er sich 1876 niederließ. Die BeschĂ€ftigung mit dem „internationalen Thema“ wurde zu James’ Lebensaufgabe. Als Amerikaner, schrieb er 1881, sei er gezwungen, sich mit Europa auseinanderzusetzen. Ein EuropĂ€er hingegen, „der Sitten und Lebensarten schildert und Amerika missachtet, ist deshalb noch nicht unzureichend gebildet; in hundert – vielleicht fĂŒnfzig Jahren – wird man ihn aber zweifellos dafĂŒr halten.“

Die Idee fĂŒr Die Gesandten lieferte die Begegnung eines Freundes von Henry James mit dem Schriftsteller William Dean Howells, 1894 im Pariser Garten eines berĂŒhmten KĂŒnstlers: Howells beschwor den JĂŒngeren, zu leben, egal wie, solange noch Zeit dafĂŒr sei. James hielt diese SchlĂŒsselszene seines spĂ€teren Romans 1895 in seinem Notizbuch fest. In der Folge erwog James SchauplĂ€tze, HintergrĂŒnde und Vorgeschichten, skizzierte Konflikte und Plots und schickte 1900 einen Entwurf an den New Yorker Harper-Verlag. Der Gutachter empfahl eine Ablehnung: „Das Gewebe ist zu fein gesponnen fĂŒr den allgemeinen Geschmack.“ Ob James davon erfuhr, ist nicht bekannt. Jedenfalls ließ er dem Verlag im September 1901 eine deutlich vom Entwurf abweichende Romanfassung zukommen, in der die externe ErzĂ€hlperspektive gĂ€nzlich hinter der subjektiven Sicht Strethers verschwunden war.

Wirkungsgeschichte

Die Gesandten erschien von Januar bis Dezember 1903 als Fortsetzungsroman in der North American Review und kam noch im selben Jahr als Buch heraus. Doch der Gutachter des Verlags sollte Recht behalten: James hatte den Publikumsgeschmack verfehlt. Die Chicago Tribune titelte: „Vierhundert Seiten, auf denen kaum etwas passiert.“ Kritisiert wurden die „elaborierte Nebelhaftigkeit“ des Romans und der „gönnerhafte Zynismus“ des Autors. Die Briten standen dem Buch wohlwollender gegenĂŒber: Im Londoner Times Literary Supplement lobte der Rezensent James’ Vertrauen in die Intelligenz seiner Leser und die Tatsache, dass „der Stil der eigentliche Stoff der Geschichte“ sei. James selbst hielt den Roman fĂŒr sein bestes Werk.

Sein schĂ€rfster Kritiker war der geliebte Bruder William James: „Keiner reicht an Dich heran, wenn es um Glimmerlicht und Andeutungen und geschickte Wortspielereien geht“, schrieb ihm der berĂŒhmte Philosoph und Psychologe 1907. Die Anerkennung fĂŒr seine Weigerung, ZugestĂ€ndnisse an den Publikumsgeschmack zu machen, blieb James zu seinen Lebzeiten verwehrt. Heute gilt er als einer der grĂ¶ĂŸten Stilisten der amerikanischen Literatur und als begnadeter Maler der menschlichen Seele. FĂŒr seine loyalen Fans, vor allem im englischsprachigen Raum, ist er nur: The Master.

Über den Autor

Henry James gilt in der angelsĂ€chsischen Welt als großer Klassiker der Literatur um 1900, als Meister des subtilen psychologischen Romans und Wegbereiter der literarischen Moderne. Am 15. April 1843 in eine großbĂŒrgerliche, wohlhabende und intellektuelle New Yorker Familie hineingeboren, erhĂ€lt er eine umfassende Bildung und lernt schon frĂŒh die Klassiker der Weltliteratur kennen. Sein Vater ist einer der angesehensten amerikanischen Intellektuellen, befreundet mit Denkern wie Thoreau, Emerson und Hawthorne. Henry James’ Bruder William wird Psychologieprofessor in Harvard und BegrĂŒnder des Pragmatismus in der Philosophie. Henry James selbst studiert, nachdem er in seiner Jugend Europa bereist hat, fĂŒr kurze Zeit Jura in Harvard und betĂ€tigt sich bald als Journalist, zunĂ€chst als Kritiker, dann auch als Zeitungskorrespondent in Paris. 1869 siedelt er nach England ĂŒber, wo er sich 1876 endgĂŒltig niederlĂ€sst. Viele seiner berĂŒhmten Romane und ErzĂ€hlungen wie Daisy Miller (1878), Die EuropĂ€er (The Europeans, 1878) oder Die Gesandten (The Ambassadors, 1903) spielen vor dem Hintergrund der Begegnungen vornehmer Amerikaner mit EuropĂ€ern. Der Gegensatz zwischen Alter und Neuer Welt, zwischen europĂ€ischer Kultur und amerikanischer NaivitĂ€t spielt in seinem Werk eine wichtige Rolle. Da James vermögend und somit finanziell unabhĂ€ngig ist, kann er sich ganz dem Schreiben und seinen intellektuellen Interessen widmen. Auch in England steht er in engem Kontakt zu den fĂŒhrenden Geistern seiner Epoche. 1904/05 reist James nach 25 Jahren erstmals wieder in die Vereinigten Staaten, unter anderem um die Ausgabe seiner gesammelten Werke vorzubereiten und zu begleiten, darunter sein meistgelesenes Buch, die Gespenstergeschichte Das Durchdrehen der Schraube (The Turn of the Screw, 1898). 1915 erwirbt James die englische StaatsbĂŒrgerschaft. Er stirbt am 28. Februar 1916 im Londoner Stadtteil Chelsea.

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