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Gespenster

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Gespenster

Reclam,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Ibsens skandalumwittertes Familiendrama – keine Spukgeschichte, aber trotzdem gruselig.

Literatur­klassiker

  • Drama
  • Naturalismus

Worum es geht

Und aus dem Keller riechen die Leichen …

Ibsens Stück Gespenster heißt im Original Gengangere, was treffender eigentlich mit „Wiedergänger“ zu übersetzen ist. Gemeint sind: Ideen, Ansichten, Werte, Denk- und Verhaltensmuster aus einer überwunden geglaubten Vergangenheit, die aber in der Gegenwart wirkmächtig bleiben. Jene Gespenster widersetzen sich unserer Erneuerung, sie verhindern, dass wir einer Hoffnung entgegengehen oder altem Schmerz entkommen können. So ergeht es in Ibsens Familiendrama der unglücklichen Helene Alving, die sich verzweifelt nach einem Neuanfang sehnt und doch ohnmächtig mit ansehen muss, wie die schrecklichen Konsequenzen vergangenen Tuns und Lassens auch Jahre später noch nicht gezogen sind. Dieses Motiv, könnte man sagen, ist der geistige Nährwert des Stücks, der bis heute dafür sorgt, dass der Leser einiges zu kauen hat. Die damals skandalträchtigen Ingredienzen (weiblicher Eigenwille, Selbstverwirklichung, außerehelicher Sex, Geschlechtskrankheiten usw.) haben hingegen an Provokationskraft verloren.

Take-aways

  • Mit dem Familiendrama Gespenster provozierte Ibsen den wohl größten Theaterskandal des 19. Jahrhunderts.
  • Inhalt: Die Witwe des verstorbenen Kammerherrn Alving erhält Besuch von ihrem Sohn Osvald, der als Künstler in Paris lebt. Es kommen schreckliche Wahrheiten ans Licht, u. a. dass Osvald schwer krank ist, dass sein Vater ein Lustmolch war und dass Dienstmädchen Regine seine Halbschwester ist.
  • Das Stück steht in der von Ibsen begründeten Tradition des bürgerlichen Realismus.
  • Es kann als eine Art Fortsetzung seines Erfolgsdramas Nora gesehen werden.
  • Behandelt wird das Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher Pflicht und individueller Neigung.
  • An die Stelle göttlichen Waltens tritt, ganz im Geist der Zeit, ein biologisch-genetischer Determinismus.
  • Die vielen heiklen Themen (etwa Inzest, Prostitution oder freie Liebe) entfachten nicht nur im sittenstrengen Norwegen einen Sturm der Entrüstung.
  • Die entscheidenden Fakten des Stücks werden nicht explizit ausgesprochen. Ibsen zeigt sich als Meister der Andeutung.
  • Zunächst wagte sich kein europäisches Theater an das Stück. Erst zwei Jahre nach dem Erscheinen wurde Gespenster uraufgeführt.
  • Zitat: „Aber ich glaube fast, wir sind allesamt Gespenster, Pastor Manders. Es ist ja nicht nur, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, das in uns herumgeistert; auch alte abgestorbene Meinungen aller Art, alte, abgestorbene Überzeugungen und Ähnliches.“

Zusammenfassung

Der Tischler und seine Tochter

Auf Rosenvold, dem Landsitz des verstorbenen Hauptmanns und Kammerherrn Alving lebt dessen Witwe Helene Alving mit dem Dienstmädchen Regine. Diese erhält Besuch von ihrem Vater, dem Tischler Jakob Engstrand. Frau Alving hat zu Ehren des Dahingeschiedenen ein Kinderheim gegründet, und Engstrand war bis heute auf der Baustelle beschäftigt. Die Arbeiten sind abgeschlossen, das Heim soll am kommenden Tag eingeweiht werden. Engstrand will sich verabschieden, da er noch heute zurück in die Stadt fahren wird, um den Feierlichkeiten zu entgehen. Seine Bedenken beziehen sich auf Pastor Manders, der in Kürze auf Rosenvold erwartet wird, um das Heim einzuweihen: Engstrand will vermeiden, dass ihn der Pfarrer beim Trinken sieht. Seine Tochter Regine möchte er am liebsten mitnehmen. Er hat nämlich vor, in der Stadt ein Wirtshaus für Seeleute aufzumachen und Regine soll dabei helfen. Doch die lässt ihn abblitzen. Engstrand versucht, sie zu locken: Sein Geschäftskonzept ziele auf gehobenes Publikum, Kapitäne, Steuerleute usw. Regine könne sich ja so einen schnappen. Doch sie will keinen Seemann heiraten. Als Engstrand ehrrührige Andeutungen über ihre Mutter macht, wird Regine wütend und schmeißt ihn raus.

Das Kinderheim

Wenig später steht Pastor Manders in der Tür. Frau Alving begrüßt ihn herzlich. Nach einigem Geplänkel kommt der Pastor zum Geschäftlichen. Es geht um das Kinderheim. Der Pastor hat einigen Behördenkram erledigt und legt nun Rechenschaft ab. Auch muss besprochen werden, ob Frau Alving das Anwesen versichern lassen will. Frau Alving bejaht dies zunächst, lässt sich jedoch überzeugen, dass eine solche Entscheidung dem Image des Projekts schaden könnte; die Leute könnten ihr mangelndes Gottvertrauen vorwerfen. Frau Alving fällt ein, dass es vor Kurzem um ein Haar im Neubau gebrannt hätte; Tischler Engstrand steht im Ruf der Fahrlässigkeit, was seinen Umgang mit Streichhölzern betrifft. Manders nimmt den Faden auf, er legt ein gutes Wort für den Tischler ein, betont dessen Aufrichtigkeit und gibt zu bedenken, dass Engstrand seine frühere Lebensweise überwunden habe und nun auf dem Pfad der Tugend wandle. Doch Frau Alving hat da ihre Zweifel.

Der verlorene Sohn

Osvald Alving kommt hinzu, der Sohn des Hauses, der als Künstler in Paris lebt und zur Freude seiner Mutter auf Heimaturlaub ist. Anders als Frau Alving betrachtet der Pastor Osvalds Existenz kritisch. „Künstler in Paris“ ist für ihn gleichbedeutend mit einem Leben in Unzucht. Osvald widerspricht: Wohl lebten viele Künstler mit ihren Kindern und deren Müttern unehelich zusammen, jedoch nur, weil sie sich keine Trauung leisten können; ansonsten seien das ganz normale Familien. Er habe durchaus Anstand und Moral vorgefunden. Manders ist schockiert, doch Osvald verteidigt seine Pariser Freunde und deren Weltsicht mit Leidenschaft. Frau Alving muss ihn schließlich ermahnen, sich seiner Gesundheit zuliebe zu schonen. Osvald lässt sich überzeugen und geht spazieren.

Die Gardinenpredigt

Jetzt lässt Pastor Manders seiner moralischen Entrüstung freien Lauf, doch Frau Alving wird nicht müde, ihren Sohn zu verteidigen. Manders sieht sich genötigt, ihr ins Gewissen zu reden. Er ruft ihr in Erinnerung, wie sie einst, kaum war sie mit dem Hauptmann verheiratet, ihren Gatten im Stich gelassen und bei ihm, Manders, Zuflucht gesucht habe. Frau Alving verteidigt sich: Sie habe den zügellosen Lebenswandel ihres Mannes nicht ertragen können. Aber das lässt Manders nicht gelten: Es wäre ihre Pflicht gewesen, im Guten wie im Schlechten dem Gatten die Treue zu halten. Das habe er ihr damals schon gesagt – und Recht behalten, denn der Hauptmann habe ja, nachdem Frau Alving wie befohlen zu ihm zurückgekehrt sei, auf den Pfad der Tugend zurückgefunden. Nur gut, sagt Pastor Manders, dass er selbst sich damals ihren Annäherungen verweigert und ihr den rechten Weg gewiesen habe.

Wie es wirklich war

Frau Alving widerspricht: Keineswegs habe sich der Hauptmann gebessert, das sei nur Fassade gewesen. Tatsächlich habe er an seinem ausschweifenden Lebenswandel festgehalten, während sie im Stillen gelitten habe. Jetzt breitet sie das ganze Panorama ihrer Leidenszeit vor Manders aus. Der Höhepunkt: Einmal musste sie mit anhören, wie ihr Gatte im Nebenzimmer das Hausmädchen Johanne bedrängte und schließlich auch „seinen Willen bekam“ – mit Folgen. Damals beschloss Frau Alving dann, Osvald wegzugeben. Sie wollte es ihm ersparen, in solchen Verhältnissen aufzuwachsen. Und während nun der Hauptmann weiter seinem Lotterleben frönte, schuftete sie unermüdlich auf dem Anwesen, damit wenigstens sein Ruf als tätiger Gutsbesitzer aufrechterhalten blieb. Noch heute, zehn Jahre nach seinem Tod, versucht sie, den Ruf des Verstorbenen rein zu erhalten. Deshalb hat sie auch das Kinderheim gegründet.

Gespenster

Osvald ist zurück. Regine verschwindet im Speisezimmer, um das Essen vorzubereiten, Osvald folgt ihr. Seine Mutter und der Pastor bleiben zurück. Plötzlich hören sie nebenan Geräusche: Ein Stuhl fällt um, ein Flüstern, Regine, die Osvald zurechtweist ... Frau Alving ist schockiert und schreit: „Gespenster. Das Paar im Wintergarten – es ist wieder da.“ Darauf der Pastor: „Was sagen Sie! Regine – ? Ist sie – ?“ Frau Alving bejaht. Es sei bisher wohl alles noch ganz harmlos. Dennoch müsse Regine fort, so wie damals Johanne fort musste, Regines Mutter. Frau Alving berichtet: Johanne bekam ein üppiges Schweigegeld, dank dem es ihr gelang, dass sich der Tischler Engstrand für sie interessierte. Diesem erzählte sie, um ihre Situation plausibel zu machen, von einem „Ausländer, der hier mit einer Jacht den Sommer über gelegen hatte“, und heiratete ihn dann.

Frau Alving rüttelt an ihren Ketten

Der Pastor ist entrüstet. War er es doch, der Johanne und Engstrand getraut hat. Wie hat er sich so in Engstrand täuschen können! Unter den gegebenen Umständen indes, meint er, habe Frau Alving richtig gehandelt, indem sie alles vertuscht habe. Nur so konnte sie ja ihrem Sohn ein positives Bild von seinem Vater bewahren. Das sieht Frau Alving inzwischen anders: Sie ist fertig mit der herrschenden Moral, die Ehepartner auf Gedeih und Verderb aneinanderkettet und finanzielle Vernunft über Herzensneigung stellt. Zum Entsetzen des Pastors klagt sie ihre eigene Feigheit an: Eigentlich hätte sie längst alles auffliegen lassen müssen.

„Durch die gläsernen Wände sieht man undeutlich eine düstere, von gleichmäßigem Regen verschleierte Fjordlandschaft.“ (S. 5)

Jetzt klopft es. Vor der Tür steht Engstrand. Gleich nimmt Manders ihn sich zur Brust. Engstrand rechtfertigt sich: Er habe doch höchst moralisch gehandelt, indem er sich der Gefallenen erbarmt und sie geheiratet habe, um so ihre Schande vor der Welt zu verbergen. Finanzielle Interessen seien jedenfalls nicht im Spiel gewesen. Manders lässt sich überzeugen und bittet den Tischler um Verzeihung dafür, ihn so ungerecht beurteilt zu haben. Gern würde er das wiedergutmachen. Das fasst Engstrand flugs als Angebot auf und erzählt Manders von seinem Plan: Ein Seemannsasyl will er errichten, um die armen Seeleute vor weltlichen Versuchungen zu bewahren. Dem Pastor gefällt die Idee, er erklärt sich bereit, Engstrand dabei unter die Arme zu greifen.

Die Krankheit

Im Speisezimmer findet Frau Alving ihren Sohn bei Zigarren und Likör und in kläglicher Verfassung. Osvald jammert über alles und jedes. Schließlich eröffnet er seiner Mutter eine schreckliche Wahrheit: Er ist schwer krank, leidet an geistiger Zerrüttung und wird nie wieder malen können. Unter Tränen berichtet er weiter: Nach seinem letzten Besuch in der Heimat bekam er schlimme Kopfschmerzen und fühlte sich aller Energie beraubt. Ein hinzugezogener Arzt machte seltsame Andeutungen, „etwas Wurmstichiges“ sei in ihm, „von Geburt an“, und: „Die Sünden der Väter werden heimgesucht an ihren Kindern.“ Empört verteidigte Osvald seinen Vater, den seine Mutter ihm stets als leuchtendes Vorbild geschildert hatte. Schließlich gab der Arzt seine Theorie auf. Die neue Erklärung: Osvald hat sich als Kind beim Spielen verausgabt. Er ist also selbst schuld; hätte er doch nur damals mit seinen Kräften besser gehaushaltet. Osvald ist am Boden zerstört.

Champagner

Osvald verlangt nach Alkohol. Seine Mutter zögert, gibt aber schließlich nach und schickt Regine Champagner holen. Osvald klagt weiter: die Dunkelheit, der Regen, die Krankheit, diese unbeschreibliche Angst ... Dann kommt er auf Regine zu sprechen, schwärmt von ihrer Gesundheit und ihrer Lebensfreude. In ihr sieht er seine Rettung. Sein Plan ist es, mit Regine wegzugehen, nach Paris. Frau Alving ist entsetzt, will sie doch selbst für Osvald sorgen. Doch der will zum einen nicht, dass seine Mutter sein Siechtum mit ansehen muss, zum anderen hält er es in Norwegen nicht mehr aus: Alles hier sei lebensfeindlich, drehe sich um Pflicht und Entsagung. „Da draußen“ hingegen wüssten die Menschen zu leben. Frau Alving hört ihrem Sohn aufmerksam zu und hat plötzlich das Bedürfnis, selbst zu reden. Sie steht auf und will die ganze Wahrheit vor Osvald und Regine ausbreiten. Doch in diesem Augenblick tritt Pastor Manders herein.

Das Feuer

Manders lobt Engstrand in höchsten Tönen; er solle sein Seemannsasyl bekommen und Regine solle ihm dort helfen. Doch die verwahrt sich dagegen. Und auch Osvald erhebt Einspruch: Regine soll schließlich mit ihm nach Paris, er will sie heiraten. Die Ankündigung schockiert indes nicht nur den Pastor, auch Regine fällt aus allen Wolken. Sie will ja gar nicht weg. Um den Spuk zu beenden, erklärt Frau Alving erneut, jetzt alles enthüllen zu wollen. Manders versucht sie daran zu hindern, doch das ist gar nicht mehr nötig: Draußen erklingt Geschrei, flackerndes Licht – das Kinderasyl steht in Flammen. Man eilt zum Ort des Geschehens. Doch alle Hilfe kommt zu spät, das Projekt wird ein Raub des Feuers.

„Das ist just der Geist des Aufruhrs, hier im Leben Glück zu fordern. Welches Recht haben wir Menschen auf Glück? Nein, wir sollen unsere Pflicht tun, gnädige Frau. Und ihre Pflicht war es, an dem Mann festzuhalten, den sie einmal gewählt hatten und an den sie mit heiligen Banden geknüpft waren.“ (Pastor Manders zu Frau Alving, S. 30)

Frau Alving ist mit Regine zurück im Wintergarten. Engstrand und Manders kommen hinzu. Der Pastor ist verwirrt und weiß nicht recht, was passiert ist. Engstrand suggeriert ihm, er, Manders, habe das Feuer verursacht, indem er ein abgeknipstes Stück Kerzendocht in die Hobelspäne geworfen habe. Manders kann sich an nichts erinnern, fürchtet um Ruf und Beruf. Doch Engstrand deutet an, die Schuld auf sich nehmen zu wollen. Manders ist gerührt und verspricht, dass Engstrand sein Seemannsasyl bekommen soll.

Die Enthüllung

Osvald ist zurück. Auch er ist verwirrt. Endlich rückt Frau Alving mit der Wahrheit raus: Osvalds Vater sei einst voller Lebensfreude gewesen und diese sei erst später in Vergnügungssucht umgeschlagen. Er sei dann in schlechte Gesellschaft geraten. So sei es halt gekommen, wie es musste. Nun kommt sie auf Regine zu sprechen, sagt, sie gehöre „im Grunde hier zum Haus“, ebenso wie ihr eigener Sohn. Damit ist es heraus. Regine, die genug gehört hat, will abreisen, es hält sie ja nichts mehr in Rosenvold. Ihre Lage, speziell ihr Verhältnis zu Oswald, erscheint ihr jetzt in ganz neuem Licht. Sie würden ja jetzt ohnehin nicht zusammen sein können. Sie lehnt verächtlich ab, weiter für die Alvings zu arbeiten. Stattdessen will sie sich an Pastor Manders halten. Oder zur Not an ihren Vater.

Der Anfall

Nachdem Regine weg ist, sind Mutter und Sohn allein. Osvald ist gefasst, die Enthüllung hat ihn letztlich kaum berührt, dafür war sein Vater ihm nicht nah genug. Ob er denn wenigstens sie, seine Mutter liebe, fragt Frau Alving. Osvald weicht der Frage aus: Immerhin sei es gut, dass sie ihn nun pflegen könne. Frau Alving ist von der Aussicht schier begeistert, sie sieht darin eine Möglichkeit zur Buße. Osvald zeigt für sich derlei Sentimentalitäten unempfänglich, er hat nur noch eine Sorge: seine Angst. Was er damit meine, will Frau Alving wissen. Osvald lüftet nun auch den letzten Schleier: Es stehe viel schlimmer um ihn, als er vorhin angedeutet habe. Die Krankheit lauere in seinem Kopf und könne jederzeit ausbrechen. Er habe schon einen Anfall gehabt; ein zweiter wäre sein Ende. Seine Angst sei es, ein Pflegefall zu werden und langsam an „Gehirnerweichung“ zugrunde zu gehen. Osvald zeigt seiner Mutter eine Schachtel mit Morphiumkapseln und verlangt von ihr, für den Fall der Fälle, ihm diesen letzten Dienst zu erweisen. Nach kurzem Widerstreben fügt sich Frau Alving in ihr Schicksal und gibt das geforderte Versprechen. Osvald ist beruhigt.

„Mir schwindelt es fast. Ihre ganze Ehe – all die vielen Jahre Ihres Zusammenlebens mit Ihrem Mann sollen nichts anderes gewesen sein als ein überdeckter Abgrund!“ (Pastor Manders zu Frau Alving, S. 33)

Mutter und Sohn sitzen beisammen, inzwischen dämmert der Morgen. Plötzlich fängt Osvald an, wirr zu reden, sinkt in sich zusammen, sein Blick erstarrt. Frau Alving ist verzweifelt, greift nach dem Morphium, kann sich aber dann doch nicht durchringen, bleibt schließlich wie versteinert stehen, während Osvald lallt: „Die Sonne. – Die Sonne.“

Zum Text

Aufbau und Stil

In Wahl und Behandlung seiner Motive höchst innovativ, blieb Ibsen in seinen Stücken in formaler Hinsicht recht konservativ. Als ehemaliger Theaterintendant und -regisseur war er ein Mann der Praxis und hielt sich bewusst an bewährte Formen und Stilmittel. Wie schon Nora oder Ein Puppenheim ist auch das Familiendrama Gespenster ganz klassisch als Dreiakter aufgebaut. Auch die von Aristoteles geforderte Einheit des Dramas in Zeit und Ort wird nicht verletzt: Die gesamte Handlung ereignet sich während eines einzigen Tages und der darauffolgenden Nacht; Schauplatz ist das Gartenzimmer des Alving’schen Landsitzes, mit angeschlossenem Wintergarten. Ibsen erweitert den engen Rahmen jedoch, indem er auf vergangene Zeiten, außerhalb liegende Orte und abwesende Personen verweist. So ist der verstorbene Hauptmann Alving geradezu eine Hauptfigur des Stücks, obwohl er persönlich nicht in Erscheinung tritt. Hier macht Ibsen Anleihen bei Sophokles und seiner so genannten „analytischen Tragödie“, in der das Schicksalsereignis in der Vergangenheit liegt und mit seinen Folgen die Gegenwart bestimmt. Doch nicht nur formal zeigt sich Ibsen als Meister des Weglassens: Andeutung, Symbol, Umschreibung, Ellipse, Satzbruch („Was sagen Sie! Regine – ? Ist sie – ?“) sind die Stilmittel, mit deren Hilfe Ibsen das Entscheidende sagt, indem er es verschweigt: die Syphiliserkrankung Osvalds, dessen inzestuöses Verhältnis zu Regine, seine Bitte um Sterbehilfe. All das ist eben deutlich genug, dass der Zuschauer sich seinen Reim machen kann.

Interpretationsansätze

  • Ibsen hinterfragt die zu seiner Zeit herrschende Vorstellung der Ehe als Zweckbündnis auf Lebenszeit, das vor allem von der Frau die Aufopferung der Eigenständigkeit verlangt. Dieser Pflichtethik stellt er das Konzept der freien Liebe entgegen, verkörpert im Künstler Osvald Alving.
  • Der Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Individuum und Gesellschaft wird aber nicht aufgelöst. Stattdessen verdirbt eines das andere: Das Streben nach Glück bringt Krankheit und Schande, das Festhalten an der Konvention gebiert Lügen und Schuld.
  • Osvalds vom Vater geerbte Krankheit (offenkundig Syphilis) kann als weltliche Entsprechung der christlichen Erbsünde gedeutet werden. Ibsen war Atheist, mochte in seinen Texten aber dennoch nicht auf höhere Mächte verzichten, wenn auch nur um des dramatischen Effekts willen.
  • Ein solches göttliches Walten ohne Gott fand Ibsen in der Vererbungslehre und der Evolutionstheorie. Ihnen entlieh er jenen schicksalsgleichen Determinismus, der in Gespenster überall am Werke scheint.
  • Das Gespenstermotiv – die Vergangenheit als Vergiftung der Gegenwart – spiegelt Ibsens Schrecken vor der eigenen Herkunft. Das Stück weist zahlreiche biografische Bezüge auf. So hatte Ibsen, zu seiner Zeit als Apothekerlehrling, selbst ein Dienstmädchen geschwängert. Auch kannte er die Schrecknisse einer unglücklichen Ehe aus eigener Anschauung: Ähnlich wie Frau Alving unter dem Kammerherrn, hatte Ibsens Mutter unter seinem Vater und dessen Alkoholismus gelitten.

Historischer Hintergrund

Norwegens Weg in die Moderne

Drei Kräfte bildeten im 19. Jahrhundert das Fundament des modernen Europa: technisch-wissenschaftlicher Fortschritt, Emanzipation des Bürgertums und die Nationalstaatsidee. Auch Norwegen nahm an der allgemeinen Entwicklung teil: Die Landwirtschaft verlor an Bedeutung, die Städte wurden wichtiger, Fischfang und Textilindustrie brachten wirtschaftlichen Aufschwung, technische Innovationen erhöhten Mobilität und Lebensqualität der Bevölkerung. Die norwegische Verfassung von 1814 war eine der liberalsten ihrer Zeit. Nur mit der Bildung eines Nationalstaats haperte es. Fast 400 Jahre lang war das Land eine dänische Provinz gewesen, bevor es 1814 im Kieler Vertrag an Schweden fiel. Zwar erkannte der Schwedenkönig die norwegische Verfassung an und gestand dem Land weitgehende Selbstverwaltung zu, zur endgültigen Unabhängigkeit kam es aber erst 1905. Durch die Quasi-Abschaffung des Adels im Jahr 1821 nahm die Entwicklung zur bürgerlichen Gesellschaft in Norwegen einen frühen Anfang. Da aber der Einfluss der evangelisch-lutherischen Kirche auf alle Lebensbereiche stark war, herrschten, bei aller politischen Liberalität, ausgesprochen konservative Sitten – eine ähnliche Mischung aus Triebverleugnung und Frömmelei wie im viktorianischen England. Dagegen formierten sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts Gegenbewegungen: Soziale Verbesserungsmöglichkeiten und „freiere“ Lebensmodelle wurden im Licht neuster wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht nur in gebildeten Kreisen leidenschaftlich diskutiert.

Entstehung

An seine Landsmännin, die Malerin Sophie Adlersparre, schrieb Ibsen am 24. Juni 1882: „Gespenster musste geschrieben werden; ich konnte beim Puppenheim nicht stehen bleiben; nach Nora musste notwendigerweise Frau Alving kommen.“ Gespenster lässt sich also als eine Art Fortsetzung von Nora oder Ein Puppenheim sehen. Zwischen den beiden Stücken gibt es zahlreiche Verbindungslinien. Zum einen inhaltlich: In Gespenster, könnte man sagen, untersucht Ibsen die Frage, was aus Nora geworden wäre, hätte die ihren Mann nicht verlassen, sondern sich den ehelichen Zwängen gefügt. Zudem verfolgte Ibsen mit Gespenster die literarische Richtung weiter, die er mit den Stützen der Gesellschaft (1877) eingeschlagen hatte: weg von Nationalromantik und dichterischer Ich-Erforschung, hin zu objektiver Analyse bürgerlicher Lebenswirklichkeit.

Schon 1880, ein Jahr nach den Erfolgen, die er mit Nora gefeiert hatte, ging er mit dem Konzept der Gespenster schwanger; erste Skizzen entstanden im Frühjahr 1881, während er in Rom weilte. Um der Sommerhitze zu entgehen, nahm Ibsen dann Quartier im Hotel Tramontano in Sorrent, mit Blick auf den Vesuv und den Golf von Neapel. Dies waren heilige Hallen: Vor ihm hatten schon Johann Wolfgang von Goethe, Giacomo Leopardi, Lord Byron und James Fenimore Cooper hier gewohnt. Ibsen, stets besorgt, ein neues Werk rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft auf den Markt zu bringen, verlor keine Zeit. Eine erste Fassung datiert vom 23. September, schon einen Monat später war das Werk vollbracht. Sein Verleger Friedrich Hegel, dem Ibsen das Stück Akt für Akt, sozusagen ofenwarm, nach Kopenhagen geschickt hatte, tat es ihm an Eifer gleich und sorgte dafür, dass Gespenster am 12. Dezember 1881 erschien.

Wirkungsgeschichte

Das Stück ging mit einer Startauflage von 10 000 Exemplaren ins Rennen. Das zeigt zweierlei: einen gesunden Optimismus, zu dem sich Ibsen und Hegel nach dem Erfolg mit Nora (Startauflage: 8000) berechtigt fühlten, sowie einen bemerkenswerten Unterschied zu heute, was die Gebrauchsweise von Literatur betrifft: Es war eben durchaus üblich, Theaterstücke als Buch zu lesen. Indes, der Plan ging nicht auf. Zwar hatte der geschäftstüchtige Ibsen mit einigem Aufruhr gerechnet, ja sogar darauf gehofft: Immerhin schien sich die Formel „Skandal ist gleich Erfolg“ im Fall von Nora bewährt zu haben. Doch die Empörungswelle, die mit dem Erscheinen von Gespenster durchs Land ging, stellte alles bisher Dagewesene in den Schatten. Das Buch wurde von der Presse nahezu einhellig als Angriff auf Anstand und Sitte verrissen und erwies sich als unverkäuflich.

Kein Theater, weder in Norwegen noch in Schweden, Dänemark oder Deutschland, wollte das Stück aufführen. Selbst die Interventionen des einflussreichen Kritikers Georg Brandes und des Schriftstellers Björnstjerne Björnson, die eine Lanze für Ibsen brachen, richteten nicht viel aus. Syphilis, Prostitution, Inzest, Sterbehilfe – Ibsen hatte ein heißes Eisen auf das andere gestapelt, zu viel selbst für liberale Zeitgenossen. Fast zwei Jahre dauerte es, bis mit dem Ensemble des schwedischen Regisseurs August Lindberg ein europäisches Theater eine Aufführung wagte. Bald besannen sich auch andere Bühnen und nahmen das Stück ins Programm. Zwar rissen die oft grotesken Schimpftiraden sittenstrenger Kritiker nicht ab, doch letztlich etablierte sich Gespenster im Kreis der klassischen Dramen der Weltliteratur.

Über den Autor

Henrik Ibsen wird am 20. März 1828 als ältestes von fünf Geschwistern im norwegischen Skien geboren. Sein Vater ist ein erfolgreicher, aber auch risikofreudiger Geschäftsmann: 1835 geht er in Konkurs, die Familie muss den Ort verlassen. 1844 beginnt der Sohn eine Lehre als Apothekergehilfe in der Küstenstadt Grimstad. Er schreibt Gedichte sowie das Theaterstück Catilina und bereitet sich im Selbststudium auf das Abitur vor, um Medizin studieren zu können. 1850 zieht Ibsen in die Hauptstadt Kristiania (heute Oslo), kommt in Kontakt mit der revolutionären Arbeiterbewegung und schreibt Satiren. Catilina wird gedruckt, 1852 wird Ibsen Hausautor und Regisseur des Norwegischen Theaters in Bergen. 1856 spielt man dort sein nationalromantisches Stück Das Fest auf Solhaug (Gildet paa Solhoug). Ein Jahr später wechselt Ibsen zum Norwegischen Theater nach Kristiania. 1858 heiratet er Suzannah Thoresen, im folgenden Jahr wird Sohn Sigurd geboren. Ibsen engagiert sich für die norwegische Sprache und Kultur, hat aber wenig Erfolg; das Theater macht Bankrott und er gerät in Geldnöte. Ibsen wendet sich von der Nationalromantik ab, sucht sein Glück im Ausland und zieht mit der Familie 1864 nach Rom. Das Drama Peer Gynt von 1867 ist eine kritische Auseinandersetzung mit nationalromantischen Ideen und wird 1876 mit Edvard Griegs Musik am Kristiania-Theater uraufgeführt. 1868 zieht Ibsen mit seiner Familie nach Dresden. 1874 besucht er für einige Wochen sein Heimatland Norwegen und wird dort enthusiastisch begrüßt. Die Familie zieht nach München, dann wieder nach Rom. 1879 vollendet er das Schauspiel Nora oder Ein Puppenheim (Et Dukkehjem), das als Kampfschrift der Frauenemanzipation gelesen wird; zwei Jahre später folgt Gespenster (Gengangere), das wegen seiner provokanten Themen zunächst in Europa nicht aufgeführt wird. 1891 kehrt Ibsen nach Norwegen zurück. Er stirbt am 23. Mai 1906 nach einer Reihe von Schlaganfällen in Kristiania und erhält ein Staatsbegräbnis.

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