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Die große Angst in den Bergen

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Die große Angst in den Bergen

Nagel & Kimche,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Ramuz’ „kubistischer“ Schauerroman.

Literatur­klassiker

  • Roman
  • Expressionismus

Worum es geht

Der kubistische Roman

Die große Angst in den Bergen wirkt wie ein mit der Handkamera gedrehter Independent-Film: ständige Wechsel in der Erzählzeit, nervöse Sprünge von einer Erzählperspektive zur nächsten. Man mag kaum glauben, dass die Erstveröffentlichung schon so weit zurückliegt: 1926. Charles Ferdinand Ramuz lebte über zehn Jahre in Paris und pflegte den Kontakt zu den Künstlerkreisen der Hauptstadt. Besonders beeinflusst war er von Malern wie Cézanne und Picasso, was auch die experimentelle, vielfältige Erzählperspektive seines Romans erklärt: Ramuz übernahm für seine Literatur die Prinzipien der kubistischen Malerei. Inhaltlich gibt sich Die große Angst in den Bergen weniger fortschrittlich als auf der stilistischen Ebene. Es geht um den Konflikt zwischen Alt und Jung, zwischen Tradition und Moderne – wobei der Autor vor allzu großer Aufbruchsfreude zu warnen scheint. Für den Leser zahlt es sich jedoch aus, wenn er sich auf diesen ungewöhnlichen Text einlässt: Ramuz’ erzählerisches Experiment wirkt bis heute modern, ist spannend geblieben und liest sich mit Leichtigkeit.

Take-aways

  • Die große Angst in den Bergen gilt als wichtigster Roman des Schweizer Dichters Charles Ferdinand Ramuz.
  • Inhalt: Auf einer Alp oberhalb eines kleinen Dorfes ist seit 20 Jahren kein Vieh gesömmert worden. Damals sind dort unter mysteriösen Umständen mehrere Leute ums Leben gekommen. Die Alten im Dorf raten von einer Nutzung ab, doch die Jüngeren argumentieren wirtschaftlich und können sich durchsetzen. Die Rückkehr auf die Alp endet fatal: Die Maul- und Klauenseuche bricht aus, und sämtliche Hirten sterben.
  • Ramuz war stark von der Naturdarstellung des Malers Paul Cézanne beeinflusst, mit dem er befreundet war.
  • Die Bergwelt wird nicht naturalistisch beschrieben, sondern kann als Vision eines von Angst und düsterer Vorahnung geplagten Bewusstseins gelesen werden.
  • Ramuz erzählt aus unterschiedlichsten Perspektiven und überträgt so das Prinzip der kubistischen Malerei auf die Literatur.
  • Die experimentelle Erzählweise erinnert an die Schnitttechnik des heutigen Films.
  • Trotz der avantgardistischen Form bleibt der Inhalt eher konservativ.
  • Zu Beginn des Ersten Weltkriegs zog sich Ramuz von der Pariser Salonkultur in die Westschweiz zurück, wo er sich auf die Natur und die dortigen Menschen konzentrierte.
  • Mit der Neuübersetzung von Hanno Helbig wurde der Roman 2009 als Wiederentdeckung gefeiert.
  • Zitat: „Denn die Seuche, das war noch nichts, das hielt man nur für ein erstes Zeichen; Angst hatte man vor dem, was weiter kommen würde, aber davon wagte man nicht zu reden.“

Zusammenfassung

Dunkle Vergangenheit

Auf einer Versammlung lässt der Vorsteher eines Dorfes, Maurice Prâlong, über die Alp Sasseneire abstimmen. Vor 20 Jahren hat es dort ein Unglück gegeben, seitdem ist kein Vieh mehr hinaufgetrieben worden. Doch vielleicht sollte man es jetzt wieder wagen. Die älteren Gemeindemitglieder sind dagegen. Sie erinnern sich noch an die damaligen Vorkommnisse, bei denen viele der Beteiligten ums Leben gekommen sind. Die jüngeren Dorfbewohner können sich jedoch durchsetzen: 70 Kühe sollen auf der Alp weiden, was einen nicht unerheblichen Gewinn für das Dorf bedeutet, ein gutes Geschäft.

„Das sind so Geschichten. Man hat nie wirklich erfahren, was dort oben passiert ist, und jetzt ist das schon zwanzig Jahre her, die alte Sache.“ (Der Vorsteher, S. 5)

Besonders unbeeindruckt von den schaurigen Erzählungen zeigt sich Pierre Crittin. Er stammt aus dem Tal und hört nicht auf den Aberglauben der Dorfbewohner. Crittin will die Pacht der Alp übernehmen und den Erkundungsgang leiten. Um den Zustand des Geländes zu prüfen, bricht er zusammen mit seinem Neffen und dem Vorsteher auf. Der Weg führt durch steiniges Gelände, in dem es so dunkel ist, dass die Männer sich vorkommen wie in einem Grab. Die Gegend ist karg, nur auf der Alp selbst findet sich eine filzartige Grasfläche. Wie sich herausstellt, ist die Alphütte heruntergekommen, das Dach und die Tür müssten ausgebessert werden. Der Vorsteher und Crittin verhandeln die Höhe der Pacht und werden sich einig.

Aufbruch zum Berg

Die Alp wird vorbereitet. Man bessert die Hütte aus und bringt einen Käsekessel hinauf. Dann werden die Männer gesucht, die auf der Alp den Sommer verbringen sollen. Als Erstes meldet sich ein gewisser Clou. Der Vorsteher hat kein gutes Gefühl bei diesem Mann. Es geht das Gerücht über ihn, er habe keinen richtigen Beruf und sei auf der Suche nach Gold. Gleichzeitig sitzt an diesem Juniabend ein junges Paar zusammen: Joseph und Victorine. Die beiden wollen im Herbst heiraten, es fehlt ihnen dafür aber noch das Geld. Joseph hat deshalb beschlossen, mit auf die Alp zu gehen. Victorine ist entsetzt, sie denkt an die düsteren Geschichten über die letzte Besteigung vor 20 Jahren.

„(...) alle Schwärze fiel über einen herab. Man war gefangen in ihr, man trug sie schwer auf den Schultern, sie (...) drang in den Mund; man kaute sie, diese Schwärze, man spuckte sie aus, man kaute sie wieder, man spuckte sie wieder aus, wie Walderde.“ (S. 12)

Weiter melden sich der erst 13-jährige Ernest und der alte Barthélemy, der schon damals mit auf der Alp gewesen ist. Der Alte bestätigt, dass seinerzeit nicht alle lebend wieder ins Dorf heruntergekommen sind. Er selbst trägt jedoch ein geweihtes Stück Papier in einem Säckchen um den Hals und fühlt sich sicher. Vervollständigt wird die Gruppe von Pierre Crittin und seinem Neffen sowie von einem großen, starken Mann namens Romain.

„Nämlich damals, vor zwanzig Jahren, hat es auch so angefangen. Man war auf dem Dach herumgegangen. Da hab ich mich jetzt gefragt, ob ihr heute Nacht nichts gehört habt, denn damals hat man es gehört (...)“ (Barthélemy, S. 38)

Der Alpaufzug findet am 25. Juni statt. Bei strahlendem Wetter begleitet die Dorfgemeinschaft die sieben Männer bis zur Alp hinauf, es wird getanzt und getrunken. Joseph und Victorine fällt der Abschied schwer – zumal der Berg am Abend bedrohlich zu leuchten beginnt.

Schritte auf dem Dach

Schnell finden die Männer auf der Alp in ihren Arbeitsalltag hinein. Gemolken wird um fünf in der Früh, dann treiben Joseph, Romain und der kleine Ernest die Kühe auf die Weide. Pierre Crittin und sein Neffe kümmern sich um den Käsekessel. Clou scheint mit Nichtstun beschäftigt, er raucht seine Pfeife und starrt in die Felsen. Der alte Barthélemy ist beunruhigt: Er meint, in der Nacht auf dem Hüttendach Schritte gehört zu haben, und erinnert sich, dass auch vor 20 Jahren das Unglück mit diesem Geräusch begonnen hat.

„Wir lassen sie krepieren, wo sie sind. Wir lassen sie mit ihrem Vieh verrecken; wir gehn über die Pässe mit unserem schönen Vorrat, der ist viel wert in den Städten. Und wir teilen den Erlös ...“ (Clou zu Joseph, S. 67)

Am Nachmittag um fünf bricht die Dunkelheit herein. Die Sonne versinkt hinter einem Gipfel, mit einem Schlag ist es düster wie im Spätherbst. Später sitzen die Männer in der Hütte um ein Feuer und der alte Barthélemy erzählt von der ersten Expedition. Ein Mann namens Chamoson hatte sich einen Splitter in den Finger getrieben und starb daran. Der damalige Pächter stürzte bei der Jagd so unglücklich von einem Fels, dass ihm das Hirn aus dem Kopf lief. Die verbliebenen drei Männer hörten nachts Schritte, und Barthélemy musste die Hüttentür von innen zuhalten, weil jemand oder etwas von außen hereinzukommen versuchte. Dem kleinen Ernest machen diese Geschichten so große Angst, dass er bei Joseph im Bett schläft.

Die Seuche bricht aus

Einige Tage später kommt Ernest den Berg hinuntergelaufen. Selbst im Dorf ist er immer noch so verängstigt, dass er nicht aufhören kann zu zittern. Victorine hat einen langen Brief an Joseph geschrieben. Sie will ihn Romain mitgeben, der am folgenden Tag mit dem Maultier von der Alp herunterkommt und die Dorfbewohner zu beruhigen versucht: Es sei alles in Ordnung da oben. Erst spät macht er sich auf den Rückweg. In der Dunkelheit will er noch auf die Jagd gehen, doch dabei verliert er sein Maultier. Es wird von einem Stein erschlagen, der treffgenau vom Berg fällt. Als die Dorfbewohner später die Stelle ansehen, findet sich vom Kadaver keine Spur mehr.

„ (...) da war diese Krankheit des kleinen Ernest, die keine gewöhnliche Krankheit war. Und da war auch das Vieh jetzt geschlagen, wie bei den Plagen Ägyptens in der Bibel, und es gab dort zehn Plagen, und die fünfte war das Sterben, das über das Vieh kam.“ (S. 72 f.)

Romain steigt wieder zur Alp hinauf, wird aber sofort zurück ins Dorf geschickt. Die Maul- und Klauenseuche ist ausgebrochen! Oben streunt Joseph trübsinnig durchs Gelände, denn weil Quarantäne über ihn verhängt wurde, darf er seine Victorine nicht wie geplant im Tal besuchen. Er trifft auf Clou, der im Felsen Gold gefunden hat und ihm einen Handel vorschlägt: Sie sammeln zu zweit und lassen dann die anderen im Stich. Joseph geht jedoch nicht darauf ein. Am Abend beginnt es zu regnen. Die Männer hören das Muhen der kranken Kühe und das unheimliche Prasseln des Regens auf dem Dach.

Gefangen auf der Alp

Tags darauf steigt der Tierarzt Pont zur Alp hinauf. Romain versteckt sich, weil er nicht mit ihm nach oben gehen will. Es werden bewaffnete Wachen aufgestellt, damit keiner der Männer mehr ins Dorf kommen und die Krankheit einschleppen kann. Die Bewohner sind so aufgewühlt, dass in dieser Nacht kaum jemand schlafen kann.

„Denn die Seuche, das war noch nichts, das hielt man nur für ein erstes Zeichen; Angst hatte man vor dem, was weiter kommen würde, aber davon wagte man nicht zu reden.“ (S. 84)

Pont ist mürrisch und streng. Den Männern auf der Alp tritt er unter einem Kittel und mit einem Schleier geschützt entgegen. Tatsächlich stellt er die Seuche fest. Die infizierten Tiere müssen sofort getötet werden. Seinen Kittel und den Schleier, auch seine Schuhe lässt er auf der Alp, damit sie verbrannt werden. Nur Clou hält sich nicht an die Quarantäne. Er packt seinen Koffer und verabschiedet sich gut gelaunt.

„Das ist nicht mehr sie; man hat sie mir anders gemacht.“ (Joseph über die tote Victorine, S. 139)

Victorine ist außer sich vor Liebeskummer. Die schlechte Stimmung im Dorf hat sich auf sie übertragen, man fürchtet allgemein, dass die Seuche nur der Anfang ist und noch weiteres Unheil bevorsteht. Victorine überlegt, ob sie nicht auf die Alp hinaufgehen soll. Fortschicken kann man sie ja nicht mehr, sobald sie einmal in die Nähe des kranken Viehs und der Männer gekommen ist.

Tragische Sehnsucht nach dem Liebsten

Vier Männer verbleiben auf der Alp: der alte Barthélemy, Joseph, Pierre Crittin und sein Neffe. Die Hüttentür, die kein Schloss hat, binden sie am Abend mit einem Strick fest. Pierre schaut sich um, ob außer ihnen nicht noch jemand anwesend ist: „Er“, derjenige, der sich nur im Dunkeln wohlfühlt. Sie legen mehr Holz ins Feuer. Joseph trifft sich in Gedanken mit seiner Victorine zum Tanz. In der Nacht rüttelt jemand an der Tür, Joseph weckt die anderen, sie haben Angst, aber es ist bloß Clou, der zurückgekommen ist. Am nächsten Morgen sind die meisten Tiere von der Seuche befallen.

„Die Alphütte sah man; und man sah nicht weit von der Tür den Meister und den Neffen nebeneinandersitzen, die Arme auf die Schenkel gestützt. Dort, wo der Boden zwischen ihnen und Barthélemy sichtbar war, lagen zwei oder drei tote Kühe, auf der Seite oder auf dem Rücken, unter einer Art schwarzem Schleier, der sich wie im Wind bewegte.“ (S. 143)

Romain verlässt sein Versteck im Dorf, um auf die Jagd zu gehen. Sein Gewehr ist jedoch verstopft und zerfetzt ihm die Hand. Victorine versucht in der Nacht tatsächlich zu den Männern hinaufzukommen. Sie packt einen Korb mit Essen und wartet, bis nach Mitternacht keine Leute mehr auf der Straße sind. An den Wachposten kommt sie unbemerkt vorbei. Sie läuft ein gutes Stück in der Dunkelheit den Berg hinauf. Dann fällt sie ein erstes Mal, verliert ihren Korb, schließlich auch die Orientierung. Sie stürzt ab – ihre Leiche wird vom Bach ins Dorf gespült. Auch der kleine Ernest ist inzwischen an einer sonderbaren Krankheit verstorben.

Tote Kühe

Die Männer auf der Alp haben inzwischen lange, ungepflegte Bärte, sie kümmern sich kaum noch um das sterbende Vieh. Clou hat in einer Ecke der Hütte etliche Steine gesammelt. Er scheint der Einzige zu sein, der keine Angst vor „ihm“ hat. In der Nacht werden die Kühe verrückt, man hört ihre Glocken um die Hütte lärmen. Die Männer bleiben trotzdem in ihren Betten liegen, nur Clou bleibt wach und zählt seine Steine. Als er am nächsten Morgen als Erster vor die Tür tritt, bricht er in ein irres Gelächter aus. Die Kühe liegen tot oder sterbend herum. Er zählt zwölf verendete Tiere. Auch die anderen kommen aus der Hütte, und Pierre platzt schließlich der Kragen: Er schreit wütend auf Clou ein und will sich von diesem Kerl, der nur zum Goldsuchen auf die Alp gekommen ist, nicht länger verspotten lassen.

„(...) fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Kühe, alles was übrig war von der Herde, und ihre Masse wälzte sich vorwärts. Sie kommt unter der Hütte vorbei; dort lässt sie zwei Tote noch einmal aufstehen, Onkel und Neffe; dann nimmt sie den Weg nach dem Dorf (...)“ (S. 161)

Da Samstag ist, rechnet Joseph damit, dass ihnen von den Dorfbewohnern neue Vorräte auf dem Weg zur Alp deponiert werden. Er hofft zudem auf einen Brief von Victorine. Als er zu der Depotstelle geht, findet er tatsächlich die Essenslieferung, aber keine Post von seiner Liebsten. Stattdessen haben die Dorfbewohner seinen eigenen Brief von der Vorwoche einfach liegen lassen. Verzweifelt bricht Joseph in der Hütte zusammen.

Bei der Leiche

Joseph hält es nicht länger aus und macht sich auf den Weg ins Dorf. Um nicht an den Wachen vorbeigehen zu müssen, nimmt er eine ungewöhnliche Strecke um den Gletscher herum. Am Dorfrand wartet er, bis es dunkel wird, wobei ihm das Dorf eigentümlich still vorkommt. Er lässt schließlich alle Vorsicht fahren und geht ganz aufrecht und sichtbar hinüber. Zunächst begegnet er niemandem. Er klettert über den Heuboden in das Haus, in dem seine Victorine gelebt hat. Aus ihrem Schlafzimmer dringt Kerzenschein. Joseph sieht ihre Leiche sowie ihren Onkel und ihre Brüder, die andächtig davorstehen. Er verlässt den Heuboden, läuft außer sich zu seiner Mutter, holt ein Gewehr, kehrt damit zu Victorines Haus zurück und erzwingt sich den Zugang zum Schlafzimmer. Dort verabschiedet er sich von ihr, schreckt aber vor dem kalten Leichnam zurück, der mit seiner Geliebten nicht mehr viel gemeinsam hat. Er verlässt das Dorf. Wo er durchgegangen ist, wird hinter ihm der Boden gereinigt.

Hohngelächter

Die Männer auf der Alp sprechen nicht mehr miteinander. Pierre und sein Neffe haben im Stall geschlafen. Das Gras und die Blumen sind vertrocknet, die Milch ist verschüttet und verdorben. Es riecht nach Tod. Um die Kadaver schwirren Fliegen. Clou macht sich mit seinen Steinen und einem Teil der Essensvorräte davon. Pierre und der Neffe gehen einige Meter in Richtung Dorf hinunter, bleiben dann aber auf einer Wiese sitzen.

„Man sagt: ,Und Joseph?‘ – ,Man hat ihn nie wieder gesehen.‘ – Man sagt: ,Und Clou?‘ – ,Man hat nichts mehr von ihm gehört.‘ – ,Und der Meister?‘ – ,Tot. Von zwei Kugeln getroffen.‘ – ,Sein Neffe?‘ – ,Tot.‘ – ,Barthélemy?‘ – ,Tot.‘“

Joseph läuft durch die Nacht, das Gewehr im Arm. Jetzt, wo Victorine tot ist, hält ihn nichts mehr im Dorf. Der Berg wirkt noch trostloser als sonst, kein Laut ist zu hören, über den Schneefeldern liegt Nebel. Joseph hat immer noch den toten Körper der Geliebten vor den Augen. Er stolpert, hastet weiter und hört ein Lachen, wie aus dem Berg selbst, dann sieht er eine Gestalt, die einen Sack mit Steinen schleppt. Das könnte Clou sein. Die Gestalt kommt näher, Joseph schießt dreimal mit dem Gewehr auf sie, woraufhin der Gletscher über Joseph zerbirst. Barthélemy taucht auf und beobachtet die Szene aus der Ferne. Der alte Mann greift sich an den Hals und stellt fest, dass er sein geweihtes Papier verloren hat. Panisch flüchtet er zur Hütte zurück, vorbei an den noch lebenden Kühen, vorbei an Pierre und dem Neffen, die tot scheinen, aber noch einmal erwachen. Die kranke Herde macht sich auf den Weg ins Dorf.

Totengeläut

Im Dorf werden die Glocken geläutet. Der Himmel hat eine unheimliche, blinde Farbe angenommen. Der Vorsteher, dem die Schuld an dem Unglück gegeben wird, hat sich im Haus versteckt. Schließlich kommt er doch heraus, um Victorines Beerdigung zu leiten. Auf dem Friedhof wird er von ihrem Bruder blutig geschlagen, er muss sich mit seinen Anhängern im Gasthaus verschanzen. Ein Sturm bricht los, knickt die Obstbäume und fegt die Schornsteine von den Dächern. Gleichzeitig kommen Barthélemy und Pierre mit der kranken Herde vom Berg. Die Wachen eröffnen das Feuer. Niemand überlebt. Das Dorf ist für ein Jahr verseucht.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die große Angst in den Bergen wird chronologisch erzählt, mal aus der Sicht der Dorfbewohner, dann wieder aus jener der Männer auf der Alp, mit abrupten Wechseln. So kann beispielsweise in einem Satz noch aus der Perspektive der Dörfler beschrieben werden, wie eine Gruppe von Wanderern den Berg hinaufgeht, während diese im nächsten Satz schon von den Männern auf der Alp beobachtet werden. Auch die Zeitebenen werden unentwegt gewechselt, zuweilen innerhalb eines Satzes vom Präsens ins Präteritum und wieder zurück. Der Erzähler identifiziert sich so sehr mit den Figuren – sowohl mit jenen im Dorf als auch mit den Männern auf der Alp –, dass er teilweise von „wir“ spricht. Charles Ferdinand Ramuz’ Stil orientiert sich an der kubistischen Malerei, deren Vertreter sich vor allem an die eigene Vorstellungskraft hielten und weniger an die Vorgaben der Wirklichkeit. So wie die Bilder des Kubismus lässt sich auch Ramuz’ Roman aus verschiedenen Blickwinkeln lesen. Die Kunst des Autors liegt nicht nur darin, dass er dieses kubistische Prinzip der „polyvalenten Perspektive“ auf die Literatur überträgt. Er setzt es auch so kontrolliert ein, dass sein Experiment bis heute modern wirkt, spannend geblieben ist und sich mit Leichtigkeit liest.

Interpretationsansätze

  • Die große Angst in den Bergen trägt expressionistische Züge; vieles lässt sich als Spiegelung des Innenlebens lesen. Die Beschreibungen von Mensch und Natur sind nicht realistisch, sondern wie aus einem Angsttraum heraus entworfen. Die Farbgebung von Himmel und Felsen ist fantastisch und wird im Laufe des Buches immer bedrohlicher.
  • Ramuz setzt Fortschritt und Apokalypse gleich. Während die älteren Leute die Natur nicht herausfordern wollen, denken die Jüngeren an die Verdienstmöglichkeiten und die wirtschaftliche Entwicklung des Dorfes. Clou kann sich gar vorstellen, in die Großstadt überzusiedeln. Die Moderne hält Einzug in die Gedankenwelt der Dorfbewohner – womit automatisch deren Untergang besiegelt ist.
  • Mensch und Natur verschmelzen im Lauf der Handlung zunehmend. Die Alphütte ist so an den Felsen gebaut, dass die Männer in ständiger Berührung mit dem Berg leben. Der unheimliche Clou wandert gegen Ende wie ein Geist durch die Schluchten; er wird schließlich zu „ihm“ selbst, zum Berg, zum gesichtslosen Untergangssymbol.
  • Ramuz’ Erzählstil erinnert an das heutige Kino. Als wären kurze Szenen der Handlung mit einer verwackelten Handkamera aufgenommen worden, springt der Erzähler von einer Perspektive zur anderen. Die Tempuswechsel wirken wie schnelle Schnitte. Einzelne Formulierungen zu den Lichtverhältnissen und den Positionen der handelnden Figuren erinnern zudem an Regieanweisungen aus einem Drehbuch.
  • Der Roman irritiert mit seinem Widerspruch zwischen Form und Inhalt. Während Ramuz stilistisch eine avantgardistische Richtung einschlägt, ist der Inhalt eher konservativ und kann als Warnung vor dem Kapitalismus und vor allzu großem Fortschrittseifer verstanden werden.

Historischer Hintergrund

Der Erste Weltkrieg in der Schweiz

Nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch einen serbischen Studenten erklärten Deutschland und Österreich am 27. Juli 1914 Serbien und den mit ihm verbündeten Russen und Franzosen den Krieg. Während andere Kleinstaaten wie Belgien in den nun ausbrechenden Ersten Weltkrieg hineingezogen wurden, konnte die Schweiz ihre Neutralität wahren, denn weder gab es hier kriegsrelevante Rohstoffe, noch sahen die Kriegsmächte das Land als strategisches Ziel an.

Wirtschaftlich war die Schweiz vom Ersten Weltkrieg dennoch betroffen: Die bisher aus dem Ausland importierte Kohle wurde so knapp, dass zunehmend einheimische Wasserkraftwerke in Betrieb gesetzt wurden. Innenpolitisch führte der Weltkrieg in der Schweiz zu erheblichen Konflikten: Der General der Schweizer Armee, Ulrich Wille, hegte deutliche Sympathien für Deutschland, was vor allem in der Romandie und bei den Sozialdemokraten keinen Anklang fand.

Zum Ende des Ersten Weltkriegs brach 1918 eine verheerende Grippeepidemie aus, der weltweit 20–25 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Auch die Schweiz war betroffen: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung infizierte sich mit der Krankheit; die Hospitäler und der militärische Hilfsdienst waren gleichermaßen überfordert. Innerhalb von nur drei Jahren forderte die Grippe in der Schweiz etwa 25 000 Tote.

Entstehung

Ramuz lebte lange Jahre in Paris und konnte dort auch erste Erfolge als Schriftsteller verbuchen. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, begann er ein neues Projekt: Gemeinsam mit seiner Frau zog er zurück in die Schweiz nach Lausanne, um seine Erfahrungen in der modernen Großstadt in seine Texte über die schweizerische Natur und Bergwelt einfließen zu lassen.

Große Bewunderung hegte Ramuz für den französischen Maler Paul Cézanne, über den er im Jahr seiner Abreise aus Paris einen Essay schrieb. Cézanne, der sich in seinen Landschaftsbildern der französischen Provence widmete, habe eine „fast geologische Nacktheit“ eingefangen und einen Gegenentwurf zur damaligen Kunstproduktion vorgebracht, eine „Kunst gegenüber derjenigen in Paris“. Zuwider war beiden Männern die gezähmte Kunst in den Salons der Hauptstadt. Cézanne hatte für sich in der Provence eine neue Ursprünglichkeit entdeckt, eine persönliche Seelen- und Kunstwelt. Ramuz plante für seine zukünftige Schreibarbeit, einen ganz ähnlichen Blick auf das schweizerische Wallis zu entwickeln.

Von Bedeutung für Die große Angst in den Bergen war auch Ramuz’ Zusammenarbeit mit dem Komponisten Igor Strawinsky. Die beiden hatten sich während der Kriegsjahre in der Schweiz getroffen und gemeinsam das Musiktheaterstück Die Geschichte vom Soldaten produziert. Die Uraufführung fand 1918 statt. Thematisch war das Stück schon nah an der Großen Angst in den Bergen: Der arme Soldat wird vom Reichtum verführt und in den Untergang getrieben.

Wirkungsgeschichte

In den Pariser Literatursalons wurde Ramuz’ Roman als Provokation aufgefasst. Schon die Sprache, die in Satzbau und Wortwahl auf den Westschweizer Dialekt zurückgriff, wurde als unerträglich bäuerlich und unzivilisiert empfunden. Beim Publikum kam Die große Angst in den Bergen jedoch gut an. Neben dem später publizierten Bergsturz auf Derborence (1935) wurde das Buch zu Ramuz’ erfolgreichstem Roman.

Der Autor blieb in den Romanen seiner weiteren Karriere der ländlichen Bergkulisse treu und entwickelte sich zu einem der meistgelesenen und auch aus gegenwärtiger Sicht noch wichtigsten Autoren der französischsprachigen Schweiz. Gewürdigt wird die Bedeutung Charles Ferdinand Ramuz’ in der Schweiz heute auch dadurch, dass der Autor auf der 200-Franken-Note abgebildet ist.

Als Wiederentdeckung gefeiert wurde Die große Angst in den Bergen anlässlich der Neuübersetzung im Jahr 2009. Dieser Erfolg ist sicherlich auch ein Verdienst des Übersetzers Hanno Helbig, dem es gelang, die zuweilen experimentelle Prosa des Autors in ein ruhiges und ganz selbstverständliches Deutsch zu übertragen.

Über den Autor

Charles Ferdinand Ramuz wird am 24. September 1878 als Sohn eines Kolonialwaren- und späteren Weinhändlers geboren. Von 1887 bis 1900 studiert er an der altphilologischen Fakultät der Universität Lausanne. Dann geht er nach Paris und schreibt einen ersten Roman, der jedoch unveröffentlicht bleibt. Von der französischen Hauptstadt aus, in der er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wohnt, engagiert er sich für die Literatur der Westschweiz, er gründet die Zeitschrift La Voile latine und schreibt für diverse andere Magazine. 1903 erscheint seine Gedichtsammlung Le petit village (Das Dorf in den Bergen), 1905 folgt der Roman Aline. Beide Bücher sind erfolgreich. Ramuz lernt die Malerin Cécile Cellier kennen, die er 1913 heiratet. 1914 zieht Ramuz mit Frau und Tochter zurück nach Lausanne. Er ist stark beeinflusst von den Werken des Malers Paul Cézanne und erarbeitet gemeinsam mit dem Komponisten Igor Strawinsky das Musiktheaterstück L’histoire du soldat (Die Geschichte vom Soldaten, 1918). Da er die Sprache seiner Romane dem westschweizerischen Dialekt anpasst, bleibt in dieser Zeit der Erfolg beim Publikum aus. Trotz der Unterstützung des Industriellen Werner Reinhart gerät Ramuz zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten. Erst durch die Förderung durch bekannte Schriftsteller wie Jean Cocteau, André Gide und Louis-Ferdinand Céline kann er schließlich die Sympathie des Pariser Publikums zurückgewinnen. Sein erfolgreichster Roman, La grande peur dans la montagne (Die große Angst in den Bergen), erscheint 1926. Es folgen u. a. La beauté sur la terre (Die Schönheit auf Erden, 1927) und Derborence (Bergsturz auf Derborence, 1934). Nun erfährt Ramuz auch öffentliche Anerkennung für seine Arbeit: 1930 erhält er den Prix Romand, 1936 den Großen Schillerpreis. Nach längerer Krankheit stirbt er am 23. Mai 1947 in seinem Geburtsort Lausanne.

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