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Dies Buch gehört dem König

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Dies Buch gehört dem König

dtv,

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What's inside?

Die ungeschminkte Wahrheit: Clemens Brentanos Schwester zeigt dem preußischen König, wie es um sein Land bestellt ist.

Literatur­klassiker

  • Politik
  • Romantik

Worum es geht

Mutter Goethe als politisches Sprachrohr

Dies Buch gehört dem König, das Buch, das die Widmung zum Titel macht, ist im Grunde ein offener Brief. Bettine von Arnim schreibt ihn an Friedrich Wilhelm IV., den neuen König von Preußen. Sie will ihm „die Wahrheit“ aufzeigen, vornehmlich über die sozialen Zustände in Preußen, und ihn zu gerechterem Handeln bewegen, indem sie an seinen „Genius“ appelliert. Das geht nur mithilfe einer raffinierten Konstruktion, die Fiktion und Wirklichkeit vermischt: Die aufrührerischen Worte legt die Autorin Catharina Elisabeth Goethe in den Mund, Goethes Mutter, die als Lehrmeisterin des Bürgermeisters und des Pfarrers – also der herrschenden Klasse – auftritt und ihnen gehörig den Kopf wäscht. Trotz vieler Wiederholungen und Abschweifungen fasziniert die eigenständige Mischung aus Dialog und Erzählung, aus poetischen Höhenflügen und harter sozialer Realität. Letztere kommt besonders im Anhang zur Geltung, in dem ein Schweizer Lehrer aus den Berliner Armenhäusern berichtet – die erste Sozialreportage der deutschen Literatur.

Take-aways

  • Bettine von Arnim gilt als eine der wichtigsten Dichterinnen der Romantik. Sie war die Frau von Achim von Arnim und die Schwester von Clemens Brentano.
  • Dies Buch gehört dem König ist eine Art offener Brief an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV.
  • Die Autorin legt darin ihre politischen Ansichten der Mutter Goethes in den Mund.
  • Inhalt: Goethes Mutter, Frau Rat, liest dem Bürgermeister und dem Pfarrer die Leviten: Sie ist gegen die Todesstrafe und für die Armutsbekämpfung und will auch in der Religion nicht der offiziellen Demutslinie folgen, sondern das Göttliche in sich spüren und leben.
  • Bettine von Arnim zeigt sich staatskritisch, aber königstreu: Die nötigen Reformen sollen vom Herrscher ausgehen.
  • Der Hauptteil des Buches ist in Dialogform geschrieben; er wird umrahmt von zwei erzählenden Texten.
  • Den Anhang bildet ein Armutsbericht aus der Berliner Vorstadt – die erste Sozialreportage der deutschsprachigen Literatur.
  • Das Buch erschien 1843 anonym, aber jeder wusste, wer es geschrieben hatte.
  • Bettine von Arnim fühlte sich Goethes Mutter, die sie persönlich kannte, und Friedrich Wilhelms Mutter Luise wahlverwandtschaftlich verbunden.
  • Zitat: „Deutscher Kaiser zu sein, davor wollt ich mich gar nicht fürchten. – Weil ich meine Muttersprach kann, mit der kann man alles bezwecken (...)“

Zusammenfassung

Mutter Goethe bei Hof

Goethes Mutter, genannt die Frau Rat, schickt sich an einem Sommertag des Jahres 1807 an, mit einer Freundin ins Kirschenwäldchen zu fahren. Doch ein Gesandter der Königin von Preußen trifft ein, um eine Einladung zum Tee zu überbringen – für denselben Tag in Darmstadt. Frau Goethe hat kaum Zeit, sich zurechtzumachen, da kommt schon die königliche Kutsche, um sie in Frankfurt abzuholen. Die Königin empfängt Goethes Mutter mit großer Liebenswürdigkeit. Sie erscheint der Besucherin schön wie eine Göttin, und dann nimmt sie sogar die Kette vom Hals und legt sie ihr, der Frau Rat, um. Die vielen devoten und zugleich arroganten Beamten und Bediensteten, die den Hofstaat bilden, erscheinen ihr lächerlich und oberflächlich wie Wappentiere; menschlich kommen sie ihr nicht vor. Sie selbst wird von ihnen ebenfalls gemustert, als wäre sie ein Fabeltier. Die Frau Rat ist sich sicher, dass diese Hofchargen mit ihrer Dummheit und Dekadenz schädlichen Einfluss auf den Regenten haben. Für einen König ist es jedoch von Bedeutung, sich selbst treu zu bleiben; auch an den Vorgängern soll er sich nicht orientieren. Der Herrscher muss seinen eigenen Weg finden und die Zeichen der Zeit erkennen, nur so kann er der Epoche seinen Stempel aufdrücken.

„(...) alle diese vornehmen Hofchargen kamen mir vor wie ein heraldischer Thierkreis. Löwen Büffel Pfauen Paviane Greife, aber auf ein Gesicht das menschlich schön zu nennen wär besinn ich mich nicht.“ (Frau Rat, S. 13)

Die Frau Rat hat viel Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen, man überlässt sie im königlichen Garten eine ganze Weile lang sich selbst. Es wird dunkel, und sie schläft ein. Als sie erwacht, sieht sie den Tanzsaal erleuchtet. Sie geht hinein und macht Bekanntschaft mit den jungen Prinzen von Gotha, die ihren Sohn aus Weimar kennen. Die Königin sieht der Frau Rat irgendwann an, dass sie nach Hause gehen möchte, und verabschiedet sie herzlich. Einst, lange bevor sie Königin war, wohnte sie im Haus der Frau Rat. Sicherlich wünscht sie sich, auch einen unsterblichen Sohn zu bekommen wie sie, denkt die Frau Rat. Sie würde es ihr gönnen – und vor allem dem Volk, das so einen Herrscher dringen bräuchte. Der Regent müsste mutig und originell sein, einer, dem man vertrauen kann.

Im Gespräch mit dem Pfarrer

Das Mädchen Bettine ist, wie so oft, bei der Frau Rat zu Besuch. Diese bescheinigt ihr Lebensfeuer und eine große Originalität. Da kommt der Herr Pfarrer. Bettine setzt sich während des folgenden Gesprächs still in eine Ecke. Die Frau Rat bekennt, ihre Ansichten seien so leidenschaftlich, dass sie sich über Ungerechtigkeiten im Märchen genauso echauffieren könne wie über solche in der Wirklichkeit. Sie stellt fest, dass die Fürsten hier und dort oft schwach sind, leicht beeinflussbar von den kriecherischen Höflingen. Gerade liest sie ein Buch über die Inquisition, und darüber könne man nun wirklich vom Glauben abfallen. Es ist ihr ein Anliegen, durch geistig-seelische Anschauung Vorurteile aufzubrechen, eigene, aber vor allem auch die anderer. Ein Denken, das durch überkommene, unhinterfragte Dogmen gefesselt wird, ist ihr zuwider. In Sachen Religion plädiert sie dafür, das Göttliche in sich selbst zu spüren und danach zu handeln, statt schwach und passiv die höhere Macht um Gnade anzuflehen. Man müsse sich selbst zum Glück erziehen.

„Aber das kann einen wundern, daß die Menschen sichs gefallen lassen von denen sich regieren zu lassen statt von ihrem angestammten Herrn dem diese heraldische Unthiere den Kopf toll machen.“ (Frau Rat, S. 14)

Der Pfarrer weiß gar nicht, wie ihm geschieht, und meint, dass zwischen dem, was die Frau Rat sage, und der aktuellen Wirklichkeit wohl noch tausend Jahre Geistesentwicklung nötig wären. Die Frau Rat nennt dieses Aufschieben Faulheit und bezeichnet alles, was die Freiheit des Geistes einschränkt, als Inquisition. So kann sie z. B. nicht glauben, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat, weil sie nicht glauben kann, dass Gott danach einen Ruhetag brauchte. Ihrer Meinung nach kreiert Gott ohne Pause; das Gras höre ja auch nicht sonntags auf zu wachsen. Die Frau Rat ist sich sicher, dass Geist und Natur eins sind. Dies könne man an der den Geist beflügelnden Wirkung des Weins beobachten oder daran, wie man in der Natur oft ergriffen und voller Ideen sei. Gott sei in allem.

„Alles was als Glaube festgestellt ist, das wär da um seine Zweifel dran auszubilden und zum Selbstdenker sich umzuschaffen.“ (Frau Rat, S. 28)

Auch Frau Goethes eigener Geist wird vom Wein zusehends befeuert, und sie hält den Pfarrer an, tüchtig mitzutrinken. Der ist sowieso schon ganz verwirrt, aber tief beeindruckt von den Reden der klugen Frau. Er lobt ihren Geist als männlich, was ihr nicht gefällt; sie schont den Pfarrer nicht und beschimpft ihn wiederholt als Kleingeist. Immer wieder kommt sie auf die Staatsbeamten zurück. Diese so genannten Mittler zwischen Volk und Herrscher hält sie für besonders beschränkte Geister, sie würden gar nichts vermitteln, sondern das Volk unterdrücken und dem Herrscher etwas vorheucheln.

„Deutscher Kaiser zu sein, davor wollt ich mich gar nicht fürchten. – Weil ich meine Muttersprach kann, mit der kann man alles bezwecken (...)“ (Frau Rat, S. 77)

Als der Pfarrer gegangen ist und Bettine sich über ihn lustig macht, verteidigt ihn die Frau Rat. Bettine bekennt, das Gespräch aufgeschrieben zu haben. Die Frau Rat ist überrascht und geschmeichelt. Sie unterstellt Bettine zwar, einiges hinzugedichtet zu haben, aber Plato sei mit Sokrates schließlich auch nicht anders verfahren. So werde Bettine sie wohl unsterblich machen. Bettine erzählt ihr noch, wie sie neulich einen Blickwechsel mit Napoleon hatte, in einem Treppenhaus in Frankfurt. Für kurze Zeit dachte sie nach dieser Begegnung, ihn retten zu müssen, d. h. ihn zu dem Helden zu machen, der er sein könnte. Auch die Frau Rat sieht Napoleon auf Irrwegen, sie findet es aber vermessen, wenn Deutschland sich über Frankreich erhebt, das immerhin eine Revolution zustande gebracht hat.

Empörende Armut

Mit dem Pfarrer und dem Bürgermeister von Frankfurt diskutiert die Frau Rat über Verbrecher. Sie spricht sich gegen die Zensur, die Ahndung von „Sittenlosigkeit“ und die Judenerlasse aus, besonders aber gegen die Todesstrafe. Der Mensch dürfe sich nicht anmaßen, über Leben und Tod zu verfügen. Sie geht sogar noch weiter: Eigentlich sei der Staat verantwortlich, wenn ein Mensch zum Verbrecher werde; das gelte für jedes Vergehen. Die plündernde Witwe etwa, die dem Bürgermeister in grausiger Erinnerung ist, sei vom Staat vernachlässigt worden, ihr Mann und ihre Söhne seien wegen des Kriegs wahrscheinlich tot oder verkrüppelt, und jetzt versuche sie nur, sich und die Ihren durchzubringen. Dass die Richter so blind für die Armut sind, findet die Frau Rat besonders empörend. Sie würde anstelle des Landesvaters Wohnstätten für die Armen bauen.

„Suchen wir den Gott überall, doch finden wir ihn nur da wo wir nicht uns vor ihm demüthigen sondern kraft des Göttlichen in menschlicher Natur uns als Helden fühlen.“ (Frau Rat, S. 155)

Wenn man einen Verbrecher töte, zerstöre man das Leben seiner ganzen Familie. Besonders unmenschlich sei es, dass Familienmitglieder nach geltendem Recht gegeneinander aussagen müssten. Frau Goethe zitiert aus einem aktuellen Fall einen Sohn, der das Gericht anflehte, nicht gegen seinen Vater aussagen zu müssen. Überhaupt zeugen die Prozessakten häufig von der Charakterstärke der Angeklagten. Die Frau Rat ist etwa von der Furchtlosigkeit des zum Tode verurteilten Veit Krähmer fasziniert: Er verbat sich jeden geistlichen Beistand und weigerte sich, seine Taten zu bereuen, weil ihm das geheuchelt erschien. Er konnte weder seine Tat begreifen noch was ihn nach dem Tod erwarten würde.

Fragwürdige Strafen

Der Verbrecher gelange oft auf eine höhere Bewusstseinsstufe als der Normalbürger, weil er sich mit seiner Tat auseinandersetzen müsse; er bringe seine höhere Natur gegen den einen Moment des Wahns in Anschlag. Man solle den Verbrechern Zugang zu Bildung verschaffen, findet die Frau Rat – am Ende würden sogar Künstler aus ihnen. Mit den herkömmlichen Glaubenssystemen könne man ihnen nicht helfen, sie müssten vielmehr Gott in sich selbst erschaffen. Schon gar nicht brauche man ihnen mit den Leiden Jesu als Sühne der Weltsünden kommen, da sie ja meist selbst einen schweren Tod für ihre Sünden sterben müssen. Sie ist dafür, dass man den Verbrechern hilft, ihr besseres Ich zu finden, statt sie in „Schweig- und Isoliergefängnissen“ in die Verzweiflung zu treiben, um sie schließlich aufzuhängen oder zu köpfen. Sie hätten keine Möglichkeit, ihre hellere Seite zu entdecken, wenn man ihnen permanent nur ihre Schlechtigkeit vor Augen führe. Nach Frau Goethe muss der Staat sein Verhältnis zum Strafen dringend revidieren, ebenso sein Verhältnis zum Belohnen. Dass etwa Soldaten für ihren Mut ausgezeichnet werden, findet sie lächerlich. Wer einen Orden brauche, um mutig zu sein, spotte dieser Tugend.

„Es ist meine Unsterblichkeit daß ich in deinem Herzen fort wachs wenn ich schon lange begraben bin (...)“ (Frau Rat zu Bettine, S. 195)

Den Herren Bürgermeister und Pfarrer wird geradezu schwindlig von den geistigen Höhenflügen der Frau Rat. Doch während der Bürgermeister ihr politische Naivität vorwirft, bekennt der Pfarrer immerhin, selbst nicht den überkommenen Lehren der Kirchenväter folgen zu wollen, und gibt zu, dass man im Lauf seines Lebens oft von den Idealen abweiche, die man als junger Mensch verwirklichen wollte.

Gespräch mit einer Elster

Die Frau Rat erzählt Bettine, dass am Vortag ein französischer Junge, den sie bei sich einquartiert hatte, unter Tränen von ihr Abschied nehmen musste. Auch sie hing sehr an ihm, und sie hat nun Angst, dass er Kanonenfutter für Napoleon wird. Der Junge ließ ihr eine Elster zurück, der er Vergissmeinnicht auf den Rücken gebunden hatte. Frau Goethe fängt an, mit dem Vogel zu sprechen. Die Elster sitzt dabei auf Bettines Kopf, der auf dem Schoß der Frau Rat liegt. Sie nennt den Vogel Satan, und er soll ihr aus der Hölle berichten. Nun ist es an der Frau Rat, über die Dreistigkeit ihres Gesprächspartners zu staunen: Der Vogel postuliert die Notwendigkeit der Existenz Satans, von dem sich Gott, wenn es den Teufel nicht gäbe, gar nicht abheben könnte. Er rühmt seine Eigenständigkeit, weil er sich gegen Gott auflehnt. Er, Satan, erschaffe Menschen, die nach Erkenntnis dürsten und vom Baum der Erkenntnis essen. Alle Menschen, die eigenständig dächten, folgten seinem Prinzip. Durch die Existenz unabhängiger menschlicher Denker werde der Teufel zum Gott. Als Bettine wegen der schwülen Luft das Fenster öffnet, fliegt die Elster davon. Kurz darauf bricht ein Gewitter los, und der Blitz schlägt in einen Kirchturm ein, der Feuer fängt.

Die Armensiedlungen der Berliner Vorstadt

Ein junger Schweizer berichtet: Im Vogtland vor dem Hamburger Tor in Berlin leben die Armen in einer eigenen Siedlung, in so genannten Familienhäusern. Einer Familie steht gewöhnlich ein abgetrenntes Zimmer zur Verfügung, manchmal müssen sich aber auch mehrere Familien einen Raum teilen. Viele arme Familien teilen das Schicksal, dass der Vater durch Krankheit, Unfall oder im Krieg arbeitsunfähig wurde und den erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann. Die Lage verschärft sich, wenn auch die Mutter, die oft zehn Kinder und mehr gebärt, krank ist und die Nachkommen ebenfalls nichts zum Lebensunterhalt beitragen können. Meist stirbt dann mehr als die Hälfte der Kinder. Das Wohnen in den Familienhäusern ist nicht umsonst. Es ist zwar billiger als in der Stadt, aber teurer als auf dem Land, und ab einer gewissen Mietschuld werden die Familien hinausgeworfen. Fast bei allen ist die Lage aussichtslos, denn die Ausgaben übersteigen die Einnahmen. Das Geld reicht kaum zum Leben, Schulden abzuarbeiten ist unmöglich, und bei nur einem Tag ohne Arbeit erhöhen sie sich. Die meisten hungern, sie essen nur Kartoffeln und Hafergrütze und verkaufen, wenn sie Verdienstausfälle haben, die Hausgeräte und Kleider, die sie noch haben. Sie arbeiten oft zu Hause als Tagelöhner, sie weben, flicken oder spulen Garn auf und erhalten nur Geld für das, was sie jeweils an einem Tag produzieren; dabei sind sie der Willkür des Abnehmers ausgesetzt. Den Handwerkern werden von den Fabrikanten die Preise verdorben.

„Aber, seid Ihr denn nicht verhärtet daß Ihr den Fluch der Armuth an Eurer glatt polierten Bildung so kaltblütig abgleiten lasset.“ (Frau Rat zu Bürgermeister und Pfarrer, S. 225)

Die Armendirektion sichert den Leuten im Familienhaus nur selten Unterstützung zu, mit der Begründung, dass dort so viele Arme seien, dass man sie gar nicht mehr loswürde, wenn man erst anfange, welchen zu helfen. Man hat vor der Behörde sehr devot und verzweifelt aufzutreten, um etwas zu bekommen, und das scheuen viele, sodass sie nicht um Hilfe bitten. So erzählt eine Witwe dem Schweizer, sie habe weinen müssen, um etwas Pflegegeld für ein Kind zu erhalten, und sei doch als faul beschimpft worden. Manchmal wird auf Gesuche auch gar nicht reagiert. Die Unterstützung ist stets zu gering und kommt immer zu spät, dabei würden wenige Taler zum richtigen Zeitpunkt oft ausreichen, während zu spät bewilligte Almosen die Lage nicht mehr verändern können. Wenn ein Familienvater in Schuldenarrest kommt und dann die Behörde für seine Frau und die sechs Kinder Unterstützung zahlen muss, kostet das mehr, als wenn man vorher die Schulden der Familie getilgt hätte.

„Der Verbrecher ist des Staates eigenstes Verbrechen!“ (Frau Rat, S. 251)

Einige reiche pietistische Damen aus der Stadt halten in den Familienhäusern Gebetsstunden ab und verteilen manchmal Almosen. Aber auch dafür muss man sich unerträglich verbiegen. Die geforderte strenge Selbstprüfung lässt keine Zeit mehr für die Arbeit. Auch die pietistischen Pfarrer mit ihrer krankhaften Sündenfixierung sind keinerlei Hilfe oder Erbauung. Nicht nur Stehlen, sondern auch Betteln ist verboten und führt ins Gefängnis, beim ersten Mal für vier Wochen, beim zweiten Mal acht, beim dritten ein bis vier Jahre. Die größte Hoffnung der Armen ist, dass ihre Kinder dereinst durch Bildung dem Elend entkommen. Die Armenschule ist allerdings so schlecht wie die Dorfschulen vor hundert Jahren, und manche Eltern unterrichten ihre Kinder lieber selbst. Von den älteren Kindern müssen die meisten bereits arbeiten.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der dialogische Hauptteil des Buchs setzt sich aus vier Gesprächen zusammen, deren Wortführerin stets die Frau Rat ist. Ihr Ton ist frech, oft ironisch und teilweise anklagend, der Pfarrer oder der Bürgermeister werden mit einem „Du“ oder „Ihr“ für alle reaktionären Kräfte in Deutschland in Sippenhaft genommen. Ihr Engagement treibt die Frau Rat zu poetisch-romantischen Höhenflügen, aber auch zu vielen Abschweifungen und Wiederholungen. Bei aller Feinsinnigkeit und Kühnheit legt Bettine von Arnim Wert darauf, dass die Gedanken ihrer Protagonistin im Leben verankert und für alle nachvollziehbar sind. Die hessische Färbung der Sprache betont diese Bodenständigkeit. Die Handlung deckt eine Zeitspanne von mehr als 35 Jahren ab: Die Gespräche finden 1807 statt, aber im Hauptteil gibt es zahlreiche Anspielungen auf Ereignisse und Debatten, die in den 40er Jahren stattfanden. Diese beiden Zeitebenen werden vielfach überblendet. Zwei sehr unterschiedliche erzählende Teile flankieren die Gespräche: am Anfang die launige Erzählung der Mutter Goethes von ihrer Einladung bei der Königin, am Ende der nüchterne Bericht eines Schweizers aus den Armenhäusern Berlins.

Interpretationsansätze

  • Bettine von Arnim will den preußischen Regenten zu gesellschaftlichen Reformen bewegen, indem sie ihm die Wahrheit über die Zustände im Land erzählt – im Gegensatz zu den ihn umgebenden Staatsbeamten und Beratern, die für sie allesamt Heuchler sind.
  • Von Arnims Haltung ist staatskritisch, aber königstreu. Sie glaubt an die Möglichkeit von Reformen innerhalb der Monarchie und entwirft einen idealen „Volkskönig“.
  • Die freie Meinungsäußerung ist der Autorin zu riskant, sie delegiert ihre politisch brisanten Gedanken an die Mutter Goethes und noch Skandalöseres an eine Elster. Eine nicht unerhebliche Rolle kommt dem Alkohol zu, der die Funktion hat, Gedanken zu lizenzieren.
  • Bettine von Arnim stellt sich mit ihrer literarischen Konstruktion in eine weibliche Ahnenreihe: Indem sie sich die Mutter des wichtigsten deutschen Dichters als Ziehmutter auswählt, fallen auch ihr Gaben zu, die er von seiner Mutter mitbekommen hat; sie legitimiert sich so als Dichterin. Gleichzeitig setzt sie Catharina Elisabeth Goethe, die selbst kein Werk hinterlassen hat, ein literarisches Denkmal.
  • Über Goethes Mutter schafft die Autorin auch eine Verbindung zu Friedrich Wilhelm IV.: 1790 beherbergte Frau Goethe in ihrem Frankfurter Haus Prinzessin Luise von Mecklenburg-Strelitz, die drei Jahre später den preußischen Kronprinzen heiratete, 1797 Königin von Preußen und 1795 Mutter des späteren Königs Friedrich Wilhelm IV. wurde. Damals trafen also die Mütter zweier wichtiger Söhne aufeinander, wobei die eine wiederum eine Mutterfigur für die andere war. Zugleich ist es eine Union von Geist und Macht, die Bettine von Arnim gern im Verbund mit dem König aufleben lassen würde.
  • Der angehängte Bericht aus den Armenvierteln Berlins, verfasst von einem jungen Schweizer Lehrer, gilt als die erste Sozialreportage der deutschen Literatur. Der schmucklose, nüchterne Text bezieht gerade aus diesem Umstand seine Wirkung. Trotz des Kontrasts zum Vorhergehenden gibt es deutliche thematische Parallelen zum Hauptteil: die Blindheit der staatlichen Stellen gegenüber der Armut, die Schuldlosigkeit der verarmten Kriminellen, die Notwendigkeit von Bildung.

Historischer Hintergrund

Der deutsche Weg zur gescheiterten Revolution

1806 hatte Napoleon Preußen vernichtend geschlagen; die meisten deutschen Staaten standen unter französischer Besatzung. Es kam zu Reformen nach französischem Vorbild, die den Bürgern mehr Freiheit brachten. Gleichzeitig aber regte sich in der Bevölkerung Widerstand gegen die Besatzer. Volk und Fürsten nahmen gemeinsam einen Freiheitskampf auf. Eine Allianz von Preußen, Russland, England, Schweden und Österreich erreichte schließlich 1814 den Sturz Napoleons. Im Anschluss daran drifteten die Interessen von Bürgern und Adligen wieder auseinander: Während Erstere auf mehr Mitbestimmung und nationale Einheit hofften, hatten die Herrscher Europas Angst und beschlossen 1814/15 auf dem Wiener Kongress die Rückkehr zum alten Staatensystem.

In Preußen stand König Friedrich Wilhelm III., der ab 1797 herrschte, für diese Restaurationspolitik, die sich in strenger Zensur und vielen Verhaftungen von Oppositionellen niederschlug. Die gesellschaftlichen Spannungen verstärkten sich durch das enorme Bevölkerungswachstum, mit dem die Nahrungsmittelproduktion nicht Schritt halten konnte – Massenverarmung vor allem in den wachsenden Städten war die Folge. Als Friedrich Wilhelm IV. 1840 den preußischen Thron bestieg, brach er zwar mit der überharten Linie seines Vaters – er ließ religiöse Freiheit gegenüber Katholiken und Altlutheranern walten und hob manches Todesurteil auf –, die Pressezensur aber führte er fort, und seine Vorstellung vom Gottesgnadentum des Königs wollte er nicht zugunsten parlamentarischer Mitbestimmung aufgeben. Zu Beginn der Märzrevolution 1848 machte er dann zunächst Zugeständnisse: Er hob die Pressezensur auf und stellte sich öffentlich, aber nur zum Schein, hinter die Idee der nationalen Einheit. 1849 bot die Frankfurter Nationalversammlung ihm die deutsche Kaiserkrone an, die er, weil vom Volk legitimiert, als „Krone aus der Gosse“ ablehnte. Gleichzeitig ließ er die Revolution durch die preußische Armee niederschlagen.

Entstehung

Bettine von Arnim schrieb im April 1840 erstmals an Friedrich Wilhelm, um ihn auf das Schicksal der Brüder Grimm aufmerksam zu machen; sie waren vom König von Hannover verbannt worden, weil sie 1837 gegen die Aufhebung der Landesverfassung protestiert hatten. Bettine von Arnim hoffte, dass der König die Grimms an die Berliner Universität holen würde; darüber hinaus spekulierte sie auf eine Fortsetzung des Briefkontakts, um ihm noch weiter „die Wahrheit sagen“ zu können. Beides traf ein: Im Juni 1840 wurde Friedrich Wilhelm zum König von Preußen gekürt, im Herbst bekamen die Grimms einen Ruf nach Berlin, und es entwickelte sich eine Korrespondenz zwischen Bettine von Arnim und dem König. Als sie allerdings bemerkte, wie weit entfernt er von ihrem Idealkönig war, überlegte sie, wie sie ihren Einfluss auf ihn verstärken könnte. So entstand Ende 1840 der Plan, sich öffentlich mit einem Buch an ihn zu wenden. Da die im Text vertretenen Ansichten in direkter Äußerung viel zu brisant waren, machte die Autorin eine reale, aber schon verstorbene Person, Catharina Elisabeth Goethe, zum Sprachrohr ihrer Ansichten. Die Dialoge sollen angeblich „der Erinnerung abgelauschte Gespräche“ sein – eine Fiktion. Bettine Brentano (so ihr Geburtsname) hatte Goethes Mutter zwar wirklich häufig besucht und dabei auch manchmal Notizen gemacht, aber dass sie das, was sie 1840–1843 aufschrieb, der Frau Rat bloß in den Mund gelegt hatte, gab sie 1843 selbst zu.

Der Anhang über die Berliner Armenquartiere, verfasst von einem jungen Schweizer Lehrer namens Heinrich Grunholzer, der sich in Berlin fortbildete, wurde sehr spät und spontan ins Manuskript aufgenommen, zu einem Zeitpunkt, als Teile des Buchs schon im Druck waren. Bettine von Arnim lernte den jungen Mann im Februar 1843 kennen.

Wirkungsgeschichte

Das Buch erschien anonym, aber jeder wusste, wer die Verfasserin war. Bettine von Arnim hatte sich direkt vom König die Erlaubnis geholt, ihm das Buch widmen zu dürfen – und umging so die preußische Zensur. Schon dieser Vorgang sorgte für großes Aufsehen und schürte Hoffnungen auf eine baldige Lockerung der Pressezensur. Innerhalb der Zensurbehörde herrschte freilich große Aufregung, und der preußische Innenminister wies den König auf die politische Brisanz des Buchs hin – die allerdings durch den Ton „prophetischer Ekstase“ und den „abenteuerlichen Charakter“ der Verfasserin abgemildert werde. Diese Spannung klang in vielen Urteilen der Zeit an, teils zugunsten, teils zuungunsten der Autorin: Mal warf man ihr vor, die politischen Argumente nicht stringent genug zu verfolgen, mal sah man ihre politischen Absichten durch die poetische Brillanz literarisch aufgewertet. In der Folge bemühte sich die Zensurbehörde, zumindest positive Rezensionen des Buches zu unterdrücken.

Über den Autor

Bettine von Arnim wird am 4. April 1785 als Elisabeth Catharina Ludovica Magdalene Brentano in Frankfurt am Main geboren. Sie ist das siebte Kind aus der zweiten Ehe des Großkaufmanns Peter Anton Brentano mit Maximiliane von La Roche, die Goethe in jungen Jahren verehrt hatte. Bettines Großmutter ist die Schriftstellerin Sophie von La Roche, bei der sie nach dem frühen Tod der Mutter zeitweilig aufwächst. Familiäre Verbindungen eröffnen ihr früh Kontakte zu den Geistesgrößen ihrer Zeit. Sie lernt Tieck und Beethoven kennen, die Brüder Grimm, Karoline von Günderrode, Schleiermacher und viele andere. Besonders bemüht sie sich um den Kontakt zu Goethe, den sie sehr verehrt – zu sehr für seinen Geschmack, deshalb beantwortet er ihre Briefe zunächst nicht. So sucht und gewinnt sie 1806 die Freundschaft seiner Mutter, Catharina Elisabeth Goethe. Ein Jahr später besucht sie dann Goethe selbst in Weimar und nimmt mit ihm einen Briefwechsel auf, den sie nach seinem Tod in überarbeiteter Form unter dem Titel Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835) veröffentlicht. Goethe bleibt jedoch immer ein wenig reserviert angesichts ihrer großen Schwärmerei, und als Bettine Goethes Frau Christiane in einem Streit 1811 als „wahnsinnige Blutwurst“ bezeichnet, bricht er jeden Kontakt zu ihr ab. Im selben Jahr heiratet sie Achim von Arnim, einen Dichterfreund ihres Bruders Clemens Brentano. Mit ihm bekommt sie sieben Kinder, denen sie die 20 Jahre ihrer Ehe widmet. Erst nachdem ihr Mann 1831 stirbt, widmet sie sich ihrer eigenen schriftstellerischen Tätigkeit und ihrem sozialen Engagement. Sie publiziert neben dem Goethe-Buch auch ihre Briefwechsel mit Karoline von Günderrode (Die Günderode, 1840) und ihrem Bruder (Clemens Brentanos Frühlingskranz, 1844) in stark überarbeiteter Form. Dies Buch gehört dem König (1843), ihr offener Brief an den König von Preußen, erhält 1852 durch Gespräche mit Dämonen eine Fortsetzung. 1854 erleidet Bettine von Arnim einen ersten Schlaganfall, 1856 einen zweiten, von dem sie sich nicht mehr erholt. Am 20. Januar 1859 stirbt sie in Berlin. Ihr Porträt wird später auf dem Fünfmarkschein abgebildet.

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