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Kassandra

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Kassandra

Suhrkamp,

15 min read
10 take-aways
Text available

What's inside?

Christa Wolf erzählte den antiken Mythos neu – und traf damit den Nerv der Zeit.

Literatur­klassiker

  • Roman
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Der Trojanische und der Kalte Krieg

Als Kassandra 1983 erschien, traf Christa Wolf den Nerv der Zeit. Angesichts der atomaren Bedrohung und des Wettrüstens zwischen den Großmächten machte sich in Deutschland eine geradezu apokalyptische Stimmung breit. Die Erzählung führt auf mythologisch verschlüsselte Weise die Absurdität eines jahrzehntelangen, kräftezehrenden und vor allem sinnlosen Krieges vor Augen. Die schöne Helena – im antiken Mythos der Auslöser für den Krieg zwischen Griechen und Trojanern – ist in dieser modernen Version der Geschichte nur ein Phantom. Die Protagonisten des Kampfes um Macht und Herrschaft sind vor allem Männer, die bei Christa Wolf abgesehen von wenigen Ausnahmen gar nicht gut wegkommen. Kein Wunder, dass das Buch in der Frauen- und Friedensbewegung der 80er Jahre mit Begeisterung aufgenommen wurde. Einzelne Kritiker bescheinigten ihm zwar ein übersteigertes moralisches Pathos und einen Hang zum „Gutmenschentum“, doch tat dies dem Erfolg keinen Abbruch: Bis heute ist Kassandra das meistgelesene Werk der ostdeutschen Autorin.

Take-aways

  • Christa Wolfs Kassandra ist die moderne Neuerzählung eines antiken Mythos.
  • Inhalt: Entgegen allen Warnungen der Seherin Kassandra beginnt Troja einen Krieg mit Griechenland, der Jahrzehnte dauert und zum Untergang der Stadt führt. Im Wettkampf mit den Griechen gleicht sich das einst idealistische Troja immer mehr dem Feind an, um schließlich selbst zu einem Überwachungsstaat zu verkommen.
  • Christa Wolf nutzt den antiken Mythos, um verschlüsselt vom DDR-Alltag, vom Wettrüsten und von der atomaren Bedrohung zu erzählen.
  • Am Beispiel Trojas schildert Wolf den Übergang vom Matriarchat zu einem patriarchalischen System.
  • Kritisiert werden Rationalismus und Herrschaftsdenken in einer von Männern dominierten Gesellschaft – egal ob kapitalistisch oder sozialistisch.
  • Wolf entheroisiert die klassischen antiken Helden: Achill wird zum „Vieh“, Agamemnon zum „Trottel“ und „Hohlkopf“.
  • Stilistisch wechselt Kassandra zwischen altertümelndem Pathos und alltagssprachlicher Schnoddrigkeit.
  • Das Werk wurde zu einem Kultbuch der Friedens- und Frauenbewegung.
  • Kritiker warfen Wolf vor, sie habe indirekt zum Verbleib in der DDR aufgerufen.
  • Zitat: „Was ich lebendig nenne? Was nenne ich lebendig. Das Schwierigste nicht scheuen, das Bild von sich selbst ändern.“

Zusammenfassung

Die Gabe und der Fluch des Sehens

Nach dem verlorenen Kampf um ihre Heimatstadt Troja sitzt Kassandra, die Tochter des Königs Priamos und seiner Frau Hekabe, auf dem Gefangenenwagen des siegreichen griechischen Königs Agamemnon vor dessen Burg Mykene. Wegen ihrer seherischen Fähigkeiten weiß sie, dass Agamemnons Gemahlin Klytaimnestra ihren Mann wie auch sie selbst ermorden wird, sobald sich die Burgtore öffnen. Im Angesicht des Todes erinnert sie sich an ihre Kindheit und Jugend, an den zärtlich geliebten Vater und die strenge Mutter, die Herrscherin des Landes.

„Hier war es. Da stand sie. Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt. Diese Festung, einst uneinnehmbar, ein Steinhaufen jetzt, war das Letzte, was sie sah.“ (S. 7)

Der Sonnengott Apollon verleiht der jungen Kassandra, einem unnahbaren Mädchen, das sich immer schon als Außenseiterin gefühlt hat, die Gabe des Sehens. Als sie sich jedoch weigert, mit ihm zu schlafen, bestraft er sie mit dem Fluch, dass niemand ihren Prophezeiungen je Glauben schenken werde. Wie alle jungen trojanischen Mädchen soll Kassandra entjungfert werden. Doch Aineias, der für diese rituelle Pflicht auserwählt ist, versagt – vermutlich aus Liebe. Seit dieser Begegnung hat sich sein Name in ihr Herz eingebrannt. Nachdem Aineias auf Reisen in ferne Länder verschwunden ist, wird Kassandra Priesterin – u. a. aus Abneigung gegen andere Männer. Als solche wird sie vom Ersten Priester Apollons entjungfert, dem zynischen und verhassten Griechen Panthoos, der sie fortan nachts regelmäßig aufsucht. Immer wenn sie mit ihm und später auch mit anderen Männern schläft, denkt sie nur an den geliebten Aineias. Nach außen hin verrichtet sie ihr Priesteramt mit Hingabe und Würde, innerlich aber fühlt sie sich erstarrt und leblos.

Kassandras Entfremdung

Schon als Kind hat Kassandra gelernt, Gefühle wie Liebe und Angst mit ihren Gedanken zu beherrschen. Ein einschneidendes Erlebnis ist die Entführung von Priamos’ Schwester Hesione durch den Spartaner Telamon, der diese zu seiner Frau macht. An Bord des Schiffes, das zur Befreiung der Königsschwester ausgesandt wird, befindet sich neben dem alten Seher Kalchas, Priamos’ engstem Ratgeber, auch Aineias’ Vater Anchises. Die Trojaner jubeln den Kriegern zu, doch hinter dem Siegeswillen spürt Kassandra die Todesangst, hinter der glänzenden Fassade erkennt sie bereits das Scheitern. Erstmals fühlt sie sich ihrem Volk und ihrer Familie entfremdet. Auf die Nachricht hin, Kalchas sei bei den Griechen geblieben – aus Angst vor den wütenden Reaktionen der Trojaner, die sich auf seine optimistische Prognose über den Ausgang des Krieges verließen –, erleidet Kassandra einen Anfall, der sie lange ans Bett fesselt.

„Die Sonne hat den Mittag überschritten. Was ich begreifen werde, bis es Abend wird, das geht mit mir zugrund.“ (S. 10)

Eines Tages taucht ein schöner Fremder namens Paris auf, der sich als Kassandras Bruder entpuppt. Von der Mutter ihres Halbbruders Aisakos, der Einsiedlerin Arisbe, die ebenfalls seherische Fähigkeiten besitzt, erfährt Kassandra, warum Paris so lange verschwunden war. Aisakos hatte erkannt, dass ein Fluch auf Paris lag und er Troja ins Unglück stürzen würde. Ein Hirte wurde beauftragt, den Säugling zu töten, brachte es aber nicht über sich, und so überlebte Paris, dem nun im Palast ein fürstlicher Empfang bereitet wird. Kassandra aber fühlt sich getäuscht. Ihr Wunsch, in Zukunft mehr zu wissen und auf diese Weise Macht über die anderen auszuüben, trägt dazu bei, dass sie Priesterin wird.

Verschwörung und Krieg

Fast unmerklich verändert sich die Stimmung in Troja. Im Palast herrscht Misstrauen gegen die Griechen. Menelaos, dem König von Sparta, der einst als Gastfreund in Troja empfangen wurde, werden ebenso wie Panthoos verschwörerische Absichten unterstellt. Um den Offizier und Königsberater Eumelos sammeln sich Angehörige der Palastwache, die plötzlich den Ton angeben. Auch Paris zählt zu seinen Anhängern. Bei einem Gastmahl am Vorabend von Menelaos’ Abreise kommt es zum Eklat. Paris, dem die Göttin Aphrodite angeblich Menelaos’ Frau Helena versprochen hat, stellt dem Spartaner dreiste Fragen zu seiner Gattin. Von seiner Mutter Hekabe zurechtgewiesen, begehrt Paris auf: Er lasse sich den Mund nicht länger verbieten. Er werde die entführte Königsschwester Hesione zurückholen, und wenn man sie nicht herausgebe, werde er stattdessen Helena nehmen. Kassandra, die den Untergang Trojas voraussieht, erleidet einen heftigen Anfall und will die Ausfahrt des Schiffes verhindern. Sie wird von ihrer Familie für wahnsinnig erklärt und weggesperrt.

„Das alte Lied: Nicht die Untat, ihre Ankündigung macht die Menschen blass, auch wütend, ich kenn es von mir selbst. Und dass wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht: Da sind wir, wie in allem Übrigen, alle gleich.“ (S. 21 f.)

Unterdessen gewinnt Eumelos mit seiner griechenfeindlichen Propaganda immer mehr Anhänger. Das Schiff aus Sparta kehrt zurück, Paris aber fehlt. Er soll, als ihm die Rückgabe der Königsschwester verweigert wurde, seine Drohung wahrgemacht und Helena entführt haben. Das Volk jubelt, Paris wird bei seiner verspäteten Heimkehr als Held gefeiert. Kassandras Ahnung, dass es sich bei der verschleierten Frau, die Paris mitbringt, gar nicht um Helena handelt und die angeblich entführte Schöne nur ein Kriegsvorwand ist, bewahrheitet sich. Die Seherin erleidet einen erneuten Anfall und weiß, dass Troja verloren ist, doch ihrem Vater zuliebe behält sie ihr Wissen für sich: Das Heer müsse an das Phantom glauben, sagt Priamos, nur so sei der Krieg zu gewinnen.

Feindin im eigenen Land

Der Krieg beginnt, aber nach offizieller Sprachregelung ist immer nur von einem Überfall die Rede. Bereits am ersten Kriegstag stirbt Kassandras Lieblingsbruder Troilos vor ihren Augen, auf sadistische Weise von dem grausamen Griechenkämpfer Achill ermordet. Aineias, der für eine Nacht zurückgekehrt ist, tröstet sie zärtlich und weckt in ihr erneut die alte Liebe und Sehnsucht. Troilos’ Geliebte Briseis verliert den Verstand und folgt mit Erlaubnis des Königs ihrem Vater Kalchas, der aus schierer Überlebensangst die Fronten gewechselt hat und zu den Griechen übergelaufen ist. Blutsbande, so verteidigt der König seinen Entschluss, seien nun einmal stärker als Staatsbande.

„Was ich lebendig nenne? Was nenne ich lebendig. Das Schwierigste nicht scheuen, das Bild von sich selbst ändern.“ (S. 30)

Kassandra begleitet Briseis zu den Griechen. Dabei erfährt sie, dass auch Kalchas längst informiert ist: Die schöne Helena ist gar nicht in den Händen der Trojaner. Wissen die anderen Griechen, die da stehen und sie höhnisch anstarren, etwa auch Bescheid? Der Hass auf die grobschlächtigen griechischen Männer und besonders auf Achill bestärkt Kassandra in ihrer Liebe zu ihrer Heimat Troja, von der sie sich nach Kriegsausbruch distanziert hat. Umso größer ist ihre Enttäuschung über die Behandlung, die ihr bei ihrer Rückkehr aus dem feindlichen Lager zuteilwird. Vor den Toren der Stadt durchsuchen Eumelos’ Leute sie gründlich und befragen sie nach dem Zweck ihrer Reise – als wäre sie selbst der Feind.

Trojas Niedergang

Kassandra glaubt immer noch, dass sich der Krieg mit Mut und dem Willen zur Wahrheit, was ja eigentlich der trojanischen Tradition entspricht, beenden ließe. Nur langsam begreift sie, dass es ihr geliebtes, freiheitlich gesinntes Troja, in dem Frauen und Männer gleichberechtigt leben, nicht mehr gibt. An seine Stelle ist eine Scheinwelt aus leeren Worten, Gesten und Zeremonien getreten, in der sich die Bewohner vor allem wohlfühlen sollen. Nach und nach richtet sich auch Kassandra in dieser neuen Wirklichkeit ein, bestärkt von ihrem Hass auf Achill, der die Dörfer rings um Troja plündert und verwüstet. Eines Nachts träumt Kassandra, sie sei zur Schiedsrichterin in einem Wettstreit zwischen Mond und Sonne bestellt und solle bestimmen, wer von beiden heller strahle. Letztlich entscheidet sie sich für die Sonne, aber sie weiß, dass an der Frage grundsätzlich etwas falsch ist: Der Mond ist gar nicht zum Strahlen bestimmt.

„Wohin ich blicke oder denke, kein Gott, kein Urteil, nur ich selbst.“ (S. 32)

Nach diesem Traum erwacht sie aus ihrer Erstarrung. Sie verbringt eine Liebesnacht mit Aineias, doch schon am nächsten Morgen verlässt dieser Troja, da er sich dort nicht mehr heimisch fühlt. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Menschen, vor allem Frauen, wenden sich vom Staat ab. Die vormals so strenge Königin Hekabe verstummt in Angst um ihren verzärtelten Lieblingssohn Hektor, der zum Helden aufgebaut und im Krieg verheizt werden soll. Kurz darauf wird sie von den Ratssitzungen ausgeschlossen, mit der Begründung, dass Besprechungen in Kriegszeiten nicht Frauensache seien. Um den alten, weisen Anchises, der unbeirrbar an das Gute im Menschen glaubt und sogar um Verständnis für Eumelos und dessen Truppe wirbt, sammeln sich immer mehr Enttäuschte und Verfolgte.

„Hervorbringen müssen, was einen vernichten wird: der Schrecken über den Schrecken.“ (S. 80)

Während im Palast Jüngere das Kommando übernehmen, geht Kassandra ganz in ihrem Priesteramt auf. Eifrig versieht sie ihren Dienst und bildet junge Priesterinnen aus, genießt die Abgeschiedenheit von den Massen und die Ehrfurcht, die man ihr entgegenbringt. An die Götter glaubt sie allerdings nicht mehr. Der Krieg ist inzwischen zum Dauerzustand geworden. Obwohl Troja uneinnehmbar erscheint, hat Kassandra jede Hoffnung auf einen Sieg verloren. Sie geht ihrer Pflicht ohne Freude nach, und wenn sie sich im scharf überwachten Palast aufhält, fühlt sie sich wie eine Gefangene. Traurig beobachtet sie, wie ihr Vater allmählich zu einer leeren Kultfigur verkommt.

Verrat und Selbstzerstörung

Auf die Gefangennahme von Kassandras Bruder Lykaon durch die Griechen reagiert Eumelos, der sich auf dem Gipfel seiner Macht befindet, mit einer Verschärfung der Kontrollen. Die Sicherheitsmaßnahmen, die zuvor nur für Beamte und Angehörige der Königsfamilie galten, werden nun auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt. Auf dem Markt trifft man immer öfter auf Eumelos’ Leute, die als Verkäufer verkleidet sind. Kassandra ist verzweifelt. Sie weiß: Mit solchen Taktiken schadet man sich selbst mehr als dem Feind. Und eigentlich will sie doch dasselbe wie Eumelos und seine Leute, nämlich nicht so werden wie Achill. Aber sollen sie sich dem Feind angleichen, nur um zu überleben? Während die trojanischen Männer allmählich verrohen, ziehen sich die Frauen in die Häuser zu ihren Kindern zurück.

„Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter andern Sätzen: Lasst euch nicht von den Eignen täuschen.“ (S. 88)

Eines Tages erblickt Achill im Apollon-Tempel, einem neutralen Ort, zu dem auch die Griechen Zugang haben, Kassandras schöne Schwester Polyxena. In Achills gierigem Blick liest Kassandra, dass ihre Schwester verloren ist. Während nach trojanischer Tradition Frauen frei sind, dürfen griechische Männer über ihre Gattinnen, Schwestern und Töchter verfügen. Als Achill Hektor bittet, ihm die Schwester auszuliefern, geht dieser zu der Bedingung, dass Achill ihm dafür einen Plan des Griechenlagers gibt, auf den Wunsch ein. Es ist das erste Mal, dass Troja einen Verrat begeht. Später tötet Achill Hektor in einem brutalen Zweikampf und verspricht König Priamos, den geschundenen Leichnam des Sohnes herauszugeben – im Tausch gegen Polyxena.

Frauenleben statt Heldenkampf

Aineias holt für die kriegerische Unterstützung die Amazonen unter der Führung von Penthesilea nach Troja. Im Kampf tötet Achill Penthesilea und schändet ihren Leichnam. Die rasende Wut der Frauen, Amazonen wie Trojanerinnen, entlädt sich, Panthoos wird getötet, Kassandra selbst wird verletzt. In den Höhlen der Frauen am Idaberg vor den Toren Trojas wird sie gesund gepflegt und schließt Freundschaft mit der ebenfalls schwer verwundeten Amazone Myrine. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlt sie sich in einer Gemeinschaft aufgehoben.

„Was wahr ist, wahr zu nennen, und was unwahr falsch: das mindeste, so dachte ich, und hätte unsern Kampf weit besser unterstützt als jede Lüge oder Halbwahrheit. Denn es ging doch nicht an, so dachte ich, den ganzen Krieg und unser ganzes Leben (...) auf den Zufall einer Lüge aufzubaun.“ (S. 112)

Nach ihrer Genesung ruft man Kassandra in den Palast, wo der greise König Priamos einen Plan ausgeheckt hat. Unter dem Vorwand einer Vermählung mit Polyxena soll Achill in den Tempel gelockt werden, wo Paris ihn aus dem Hinterhalt töten soll. Als Kassandra ihre Zustimmung verweigert und mit der Enthüllung des Planes droht, lässt Priamos sie in ein finsteres Verlies sperren. Dort erreicht sie die Nachricht, dass der Anschlag geglückt ist und Achill getötet wurde, aber sie verspürt keinen Triumph. Wieder in Freiheit zieht sie sich in die Höhlen am Idaberg zurück, wo die Frauen fernab der Festung Troja in Armut leben, Früchte ernten, Stoffe weben, töpfern, singen und sich ihre Träume erzählen. Auf Wunsch ihres Vaters heiratet Kassandra Eurypilos, einen Verbündeten, der bald darauf im Kampf fällt. Kassandra bekommt Zwillinge, die sie gemeinsam mit den anderen Frauen am Idaberg aufzieht.

„Mit diesem Schweigen, an dem mehrere beteiligt sind, so lernte ich, beginnt Protest.“ (S. 119)

Eines Tages taucht ein hölzernes Pferd vor den Toren Trojas auf. Allen Warnungen Kassandras zum Trotz wird die Skulptur, in der sich griechische Krieger befinden, in die Stadtmauern geholt. Wie der Krieg begann, so endet er auch: durch Betrug. Aineias Bitte, Kassandra möge mit ihm und den Kindern vor dem schrecklichen Blutvergießen fliehen und irgendwo ein neues Troja gründen, weist sie zurück. Lieber geht sie freiwillig in den Untergang, als mitzuerleben, wie ihr Geliebter in einer Zeit, die nun einmal Helden braucht, notgedrungen selbst zum Helden wird. Denn einen Helden kann sie niemals lieben.

Zum Text

Aufbau und Stil// Christa Wolfs Erzählung Kassandra ist aus einem Guss, sie verzichtet vollständig auf Kapiteleinteilungen oder voneinander abgegrenzte Abschnitte. Der Text besteht aus dem inneren Monolog der Titelfigur, die angesichts des bevorstehenden Todes auf ihr Leben zurückblickt. Der chronologische Hauptstrang der Erinnerungen wird immer wieder von Rückblenden und Vorausdeutungen durchbrochen. Nicht selten reißt die Erzählerin eine Episode kurz an, um sie gleich wieder fallen zu lassen und erst später darauf zurückzukommen. Diese sprunghafte, assoziative Erzählweise fordert dem Leser ein hohes Maß an Konzentration ab, ebenso wie die Fülle von Figuren, die eher beiläufig eingeführt als ausführlich vorgestellt werden. Auch stilistisch lebt Kassandra //vom raschen Wechsel und scharfen Kontrasten. Die oft archaisch anmutende Sprache ist von modernen, alltagssprachlichen Wendungen durchsetzt, antiken Figuren werden mitunter fast schnoddrige Äußerungen in den Mund gelegt, was für einen anachronistischen Effekt sorgt. Oftmals sind die Sätze unvollständig und abgehackt. Je näher Kassandras Tod rückt, desto atemloser und gehetzter wird ihre Erzählung.

Interpretationsansätze

  • Kassandra beruht auf der Geschichte der trojanischen Königstocher, von der Aischylos in der Orestie berichtet. Mit dem antiken Stoff ist die DDR-Gegenwart der Autorin Christa Wolf verflochten: Ob es um den Aufbau eines Spitzelsystems, um das Wettrüsten oder um Kriegspropaganda geht, stets schimmert der Ost-West-Konflikt durch. Um im ideologischen Wettstreit mit den Griechen (BRD) zu bestehen, nimmt das einst idealistische Troja (DDR) immer mehr die Züge des Feindes an und verkommt schließlich selbst zum imperialistischen Überwachungsstaat.
  • Wolf betreibt bewusst die Entheroisierung der antiken Helden. Achill, der tapfere, schöne Kämpfer aus Homers Ilias, wird zu einem blutrünstigen Lüstling, der den Beinamen „das Vieh“ trägt. Und Agamemnon, der mutige Flottenführer, erscheint als feiger „Trottel“ und machtgieriger „Hohlkopf“.
  • Der trojanische Krieg markiert in Christa Wolfs Darstellung das Ende der matriarchalischen Welt. Die neue, patriarchalische Ordnung ist von Leistungs- und Herrschaftsdenken, Konkurrenz und Effizienz bestimmt. Frauen werden zunehmend von der Politik ausgeschlossen und als reine Objekte betrachtet.
  • Das herrschaftslose, naturnahe und künstlerisch-kreative Leben der Frauen in den Höhlen vor Troja stellt einen feministisch-utopischen Gegenentwurf zu der männerdominierten, aggressiven und rationalen Politik dar. Bei allen feministischen Tendenzen hütet sich Wolf jedoch vor einer naiven Idealisierung des Matriarchats: Die Figur der Penthesilea etwa verkörpert übersteigerten Männerhass und Weiblichkeitswahn.
  • Kassandras Sehergabe muss nicht unbedingt als gottgegeben verstanden werden: Sie beruht auch auf der genauen Wahrnehmung ihrer Umgebung. Allein aus der mutigen, unvoreingenommen Beobachtung der realen Verhältnisse schließt Kassandra auf Künftiges und durchschaut so die Lügen und Intrigen.
  • Kassandra betrachtet ihre Rolle im Staat durchaus selbstkritisch – und spiegelt damit Christa Wolfs zwiespältige Haltung zur DDR wider. Die Liebe zum Vater macht die Seherin anfangs blind. Erst ihre Gefangennahme und Inhaftierung öffnen der Königstochter endgültig die Augen für die korrupten Machenschaften ihrer Familie.

Historischer Hintergrund

Wettrüsten und Widerstand

Nach der Entspannungspolitik der 1970er Jahre trat der Rüstungswettlauf zwischen den USA und der Sowjetunion am Ende des Jahrzehnts in eine neue Phase. Als Reaktion auf die verstärkte Aufrüstung in den Ländern des Warschauer Pakts bot die NATO 1979 im so genannten NATO-Doppelbeschluss der UdSSR Verhandlungen mit dem Ziel eines beidseitigen Verzichts auf nukleare Waffen in Europa an. Sollte man sich jedoch nicht einigen, würden die Amerikaner in absehbarer Zeit atomar bestückte Mittelstreckenraketen in Europa, u. a. auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland, stationieren – was sie auch taten. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan am 24. Dezember 1979 spitzte sich die Lage weiter zu.

Die Pläne zur Stationierung von Raketen mit Atomsprengköpfen stießen in der BRD auf scharfe Proteste. Anfang der 1980er Jahre organisierte die Friedensbewegung zahlreiche Großdemonstrationen, an denen Hunderttausende teilnahmen. Zeitweise herrschte eine regelrecht apokalyptische Stimmung. Auch in der DDR gab es verschiedene, vor allem von der Kirche getragene Friedensinitiativen, die die Keimzelle der Opposition bildeten. Intellektuelle, die bis dahin an die Möglichkeit eines humanen Sozialismus geglaubt hatten, wandten sich nun zunehmend von ihrem Staat ab. Ein einschneidendes Ereignis stellte die Ausbürgerung des Dichters und Liedermachers Wolf Biermann im November 1976 dar. Die Hoffnungen auf eine Liberalisierung, die mit dem Regierungsantritt Erich Honeckers 1971 aufgekeimt waren, wurden mit einem Schlag zerstört.

Entstehung

Wie viele Intellektuelle in der DDR sah sich Christa Wolf durch die Ausbürgerung Biermanns in ihrem Selbstverständnis als sozialistische Künstlerin erschüttert. Zusammen mit anderen Schriftstellern und Künstlern unterzeichnete sie einen öffentlichen Protestbrief, in dem sie die Parteiführung bat, die Maßnahme zu überdenken. Als SED-Mitglied sagte sich die Autorin zwar nicht radikal von der Partei los, doch ihr Blick auf den eigenen Staat, für den sie sich engagiert hatte, war nüchterner geworden. In ihrer Poetikvorlesung Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, die Wolf 1982 in Frankfurt am Main hielt, sprach die ostdeutsche Autorin offen über ihre Enttäuschung und diesen neuen Blick – nicht nur auf die DDR, sondern auf die gesamte abendländische Kultur, die ihr zum Untergang verurteilt erschien.

Den ersten Anstoß zur Beschäftigung mit dem Kassandra-Mythos erhielt Wolf anlässlich einer Griechenlandreise im Mai 1980: Sie las Aischylos’ Orestie, und die Geschichte der Seherin Kassandra faszinierte sie so, dass sie begann, sich intensiv mit literarischen und archäologischen Studien zum Trojanischen Krieg zu befassen. Als Hauptquellen dienten ihr neben Homers Ilias vor allem Euripides’ Troerinnen und Robert von Ranke-Graves’ Griechische Mythologie. 1981 begann sie mit der Arbeit an ihrer eigenen Kassandra-Version.

Wirkungsgeschichte

Kassandra ist bis heute Christa Wolfs erfolgreichstes Buch. Die Startauflage von 20 000 Exemplaren, die im Frühjahr 1983 erschien, war binnen weniger Tage vergriffen. Das Werk wurde in viele Sprachen übersetzt. In den 80er Jahren avancierte Kassandra zu einem wahren Kultbuch der Friedens- wie auch der Frauenbewegung und erreichte zu Beginn der 90er eine Auflage von 700 000. Auch in der DDR, wo die Erzählung zusammen mit den um 60 Zeilen gekürzten Frankfurter Poetikvorlesungen im Winter 1983/84 erschien, erhielt das Buch gewaltigen Zuspruch: Zwischen 1983 und 1990 wurden nicht weniger als acht Auflagen gedruckt.

In der Literaturkritik löste Kassandra eine emotional geführte Debatte aus. Ostdeutsche Kritiker wie Wilhelm Girnus nahmen Anstoß an Wolfs pazifistischer Haltung, ihrem Subjektivismus und dem mangelnden Klassenbewusstsein. Die westdeutsche Kritik dagegen reagierte überwiegend positiv. Fritz J. Raddatz verfasste für Die Zeit eine Lobeshymne auf das Werk, das er nicht nur wegen seiner sprachlichen Qualitäten, sondern auch aufgrund seiner moralischen Haltung in den höchsten Tönen pries. Nur vereinzelt war in Rezensionen von Pathos und moralischer Überfrachtung die Rede.

Nach dem Fall der Mauer 1990 geriet Christa Wolf erneut ins Kreuzfeuer der Kritik. Der Autorin wurde unterstellt, sie habe als privilegierte Person Kritik üben dürfen und mit Kassandra indirekt zum Verbleib in der DDR aufgerufen. Aus ihrem Werk spreche „Gesinnungsästhetik“ sowie ein sentimentaler Hang zum „Gutmenschentum“ – ein Vorwurf, vor dem Günter Grass seine Schriftstellerkollegin in Schutz nahm.

Über den Autor

Christa Wolf wird am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe geboren. Nach der Vertreibung 1945 lässt sich ihre Familie in Mecklenburg-Vorpommern nieder. Wolf arbeitet zunächst als Schreibkraft und macht 1949 ihr Abitur. Im selben Jahr tritt sie der SED (Sozialistische Einheitspartei) bei. Während des Germanistikstudiums lernt sie ihren späteren Mann, den Schriftsteller Gerhard Wolf, kennen. Nach dem Studium arbeitet Christa Wolf zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin für den Deutschen Schriftstellerverband, dann als Verlagslektorin und als Redakteurin einer Literaturzeitschrift. Ab 1962 ist sie freie Schriftstellerin. Ein Jahr darauf erscheint der Roman Der geteilte Himmel, eine Auseinandersetzung mit dem Mauerbau und mit unterschiedlichen Lebensentwürfen in beiden Teilen Deutschlands. Christa Wolf gilt als Vorzeigeintellektuelle der jungen DDR, doch schon bald gerät sie wegen ihres subjektiven Stils und der Behandlung kontroverser Themen in Konflikt mit dem Machtapparat. Ihr zweiter Roman Nachdenken über Christa T.(1968) erscheint zunächst nur in kleiner Auflage. 1976 unterstützt die Autorin den Protest gegen die Zwangsausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Bei aller Kritik bleibt sie der Idee des Sozialismus dennoch treu. Als sogenannte „loyale Dissidentin“ darf sie reisen, hält Vorträge im Ausland und wird zunehmend als gesamtdeutsche Schriftstellerin anerkannt. 1980 erhält sie den renommierten westdeutschen Georg-Büchner-Preis. 1983 erscheint ihre Erfolgserzählung Kassandra. Nach dem Fall der Mauer setzt Wolf sich für den „dritten Weg“ einer reformierten DDR und gegen die Wiedervereinigung ein. 1993 gibt sie zu, zwischen 1959 und 1962 als IM (inoffizielle Mitarbeiterin) für die Stasi gearbeitet zu haben, weist aber auch darauf hin, dass sie ab 1969 permanent von der Spitzelbehörde überwacht wurde. In den 90er-Jahren diffamieren westliche Kritiker die einst gefeierte Schriftstellerin als „Staatsdichterin der DDR“. Sie stirbt am 1. Dezember 2011 in Berlin.

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