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Philosophische Bissen

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Philosophische Bissen

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What's inside?

Um an Gott glauben zu können, muss der Verstand gekreuzigt werden: Kierkegaard denkt das Christsein neu.

Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Glaube statt Erkenntnis

Relativ locker und unsystematisch entwirft Kierkegaard in den Philosophischen Bissen das Grundgerüst seiner erkenntnistheoretischen und metaphysischen Ansichten. Die entscheidende Frage borgt er sich bei Sokrates: Wieweit lässt sich Wahrheit lehren? Während der griechische Philosoph annimmt, dass die Wahrheit im Menschen selbst liege und er sich sozusagen nur daran erinnern müsse, glaubt Kierkegaard an einen historischen Moment, in dem der Mensch instand gesetzt werde, seine eigene Unzulänglichkeit zu erkennen. Der Lehrer, der ihn dazu veranlasst, muss ihm nicht nur die Wahrheit bringen, sondern auch die Bedingung, sie überhaupt zu verstehen. Daher kann es sich nicht um einen Lehrer im sokratischen Sinne handeln – denn der könnte die Denkfähigkeit des Schülers nicht grundsätzlich verändern –, sondern nur um Gott, der sich in Menschengestalt zum Schüler herablässt. Was dieser dabei erlebt, lässt sich nicht als Erkenntnis im herkömmlichen Sinn bezeichnen. Wer Kierkegaard liest, muss auf manches Paradox gefasst sein – und auch darauf, dass der Autor bei seinem Ringen um Erkenntnis und Wahrheit letztlich immer beim Glauben landet.

Take-aways

  • Mit Philosophische Bissen legte Kierkegaard einen Grundstein für den Existenzialismus des 20. Jahrhunderts.
  • Das Büchlein ist keine in sich abgeschlossene philosophische Abhandlung, sondern hat eher den Charakter eines lockeren Entwurfs.
  • Wieweit lässt sich die Wahrheit lehren? Mit dieser Frage beginnt das Buch, und die Suche nach Antworten bestimmt den Verlauf des Textes.
  • Kierkegaard betrachtet die Beziehung von Lehrer und Schüler und geht dabei vom Beispiel des griechischen Philosophen Sokrates aus.
  • Mit ihm stimmt er darin überein, dass ein Lehrer einem Schüler nur eine Wahrheit vermitteln kann, die unbewusst schon in ihm vorhanden ist.
  • Deshalb kann die Wahrheit nicht von einem menschlichen Lehrer, sondern nur von Gott kommen: Er gibt dem Schüler mit der Wahrheit auch die Bedingung, sie zu verstehen.
  • Um dem Menschen die Wahrheit zu vermitteln, lässt Gott sich zu ihm herab und nimmt menschliche Gestalt an.
  • Gott wird zum Erlöser: Durch seine Gnade überwindet der Schüler die Unwahrheit und gelangt zur Erkenntnis seiner selbst.
  • Der zeitliche Abstand zum Augenblick der Offenbarung spielt keine Rolle: Der Glaube eines Zeitzeugen ist nicht mehr wert als der Glaube einer späteren Generation.
  • Um an das Paradox der Menschwerdung Gottes glauben zu können, ist eine „Kreuzigung des Verstandes“ nötig.
  • Kierkegaard veröffentlichte das Buch wie zahlreiche andere seiner Werke unter einem Pseudonym: Johannes Climacus.
  • Erst Jahrzehnte nach seinem Tod wurden die Philosophischen Bissen aus dem Dänischen ins Deutsche und Englische übersetzt. Seither haben sie Klassikerstatus.

Zusammenfassung

Woher kommt die Wahrheit?

Wieweit lässt sich die Wahrheit lehren? Diese Frage hat bereits Sokrates beschäftigt. Er hat darauf hingewiesen, dass ein Mensch unmöglich suchen kann, was er bereits weiß, aber auch nicht, was er nicht weiß. Im ersten Fall müsste er nicht suchen, und im zweiten wüsste er nicht, wonach er suchen sollte. Sokrates zieht daraus einen entscheidenden Schluss, nämlich dass alles Suchen nach der Wahrheit letztlich nur ein Sicherinnern sei. Die Wahrheit werde dem Menschen nicht von außen mitgeteilt, sondern sei bereits in ihm. Wenn dem so ist, dann kann man die Wahrheit weder von Sokrates noch von irgendeinem anderen Menschen erhalten. Sie ist ewig. Wann aber ist dieses Ewige „geworden“? Es muss einen entscheidenden Augenblick geben, in dem der Mensch sich bewusst wird, dass er sich außerhalb der Wahrheit befindet, dass er also sozusagen die „Unwahrheit“ ist.

Gott als Lehrer, Retter und Erlöser

Weil der Lernende die Unwahrheit ist, kann ihn der Lehrer nicht daran erinnern, dass er die Wahrheit eigentlich schon weiß. Er kann ihm nur den Anlass zur Selbsterkenntnis liefern. Ein wahrhafter Lehrer bringt dem Lernenden also nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Bedingung, sie überhaupt zu verstehen. Er bildet seinen Schüler nicht nur, sondern schafft ihn neu. Das kann kein Mensch, sondern nur Gott.

„Das, was hier geboten wird, ist nur eine Broschüre (...)“ (S. 3)

Der Mensch, der sich um Wahrheit bemüht, ist zu diesem Zeitpunkt bereits geschaffen, und er muss die Bedingung zum Verständnis der Wahrheit bereits einmal besessen haben – sonst wäre er bisher nur Tier gewesen. Daraus folgt, dass er diese Bedingung verloren hat, und das macht seine Schuld aus. Gott lässt ihn diese Sünde erkennen und gibt ihm gleichzeitig die Bedingung zur Erkenntnis der Wahrheit wieder. Er ist also auch ein Retter und Erlöser: Er rettet den Lernenden aus der Unfreiheit und erlöst ihn aus der Gefangenschaft seiner selbst. Auch versöhnt er den Menschen mit den Folgen der Schuld, die dieser auf sich geladen hat. Der Augenblick, in dem Gott das tut, ist zwar kurz wie jeder Augenblick, aber „vom Ewigen erfüllt“. Deshalb kann er „Fülle der Zeit“ genannt werden. Hat der Schüler seine Unwahrheit erkannt und kehrt um, wird er zu einem neuen Menschen. Dieser Akt der Erkenntnis ist die „Wiedergeburt“, das Abschiednehmen nach der Umkehr ist die „Reue“.

„Wieweit lässt sich die Wahrheit lehren? Mit dieser Frage wollen wir beginnen.“ (S. 8)

All das ergibt sich als Konsequenz, wenn man – im Unterschied zu Sokrates – dem Augenblick der Erkenntnis eine zentrale Bedeutung beimisst. In diesem Augenblick wird dem Menschen bewusst, dass er geboren bzw. wiedergeboren ist, und er tritt damit vom Nichtsein ins Sein. Was aber ist Gottes Antrieb, den Menschen von der Unwahrheit zur Wahrheit zurückzuführen? Was bringt ihn dazu, sich dem Schüler zuzuwenden? Irgendein Bedürfnis kann es nicht sein, denn Gott hat keine Bedürfnisse. Es muss Gottes ewige Liebe sein.

„Der Lehrer ist also Gott selbst, der als Anlass wirkend veranlasst, dass der Lernende daran erinnert wird, dass er die Unwahrheit ist und es durch eigene Schuld ist.“ (S. 14)

Das Unglück der irdischen Liebe besteht darin, dass sich die Liebenden im Grunde genommen nicht verstehen. Ähnlich ist es mit dem Verhältnis der Menschen zu Gott. Es ist vergleichbar mit der Liebe eines Königs zu einem Mädchen aus armem Haus. Der König will nicht, dass sich das Mädchen ihres niedrigen Standes schämt. Er will sie, in einem natürlichen Reflex der Liebe, zu sich emporziehen, damit die beiden sich als Gleiche lieben können. Aber es ist unmöglich, diese Gleichheit zu erreichen, indem der eine den anderen hochzieht: Der Emporgezogene wäre, wenn man ihn einfach in ein anderes Sein versetzt, um seine Individualität betrogen. Die Einheit der Liebenden kann also nur dadurch zustande gebracht werden, dass der König zu dem Mädchen hinabsteigt und ihr als ein Gleicher gegenübertritt. So macht es auch Gott: Die Knechtsgestalt, die er annimmt, ist keinesfalls eine Maske oder ein bloßer Umhang, sondern Ausdruck seiner Liebe und damit seine eigentliche Gestalt. Gerade weil sie aber kein bloßer Umhang ist, muss Gott alles erleiden und erdulden, was ein Mensch erleiden und erdulden muss – also auch den Tod. Dass sich Gott durch seine Liebe gleichzeitig zum Leiden verurteilt, ist das eigentliche Wunder des Lebens.

Das Paradox

Das Paradox ist die Leidenschaft des Denkenden. Wie jede Leidenschaft strebt auch diese ihrem eigenen Untergang zu. Das gilt gleichermaßen für das höchste Paradox des Denkens – nämlich etwas denken zu wollen, was es zu denken unfähig ist – wie auch für die Liebe, die sich aus dem Paradox der Selbstliebe heraus als Liebe zu einem anderen weiterentwickelt. Ist die Leidenschaft der Liebe erst einmal entfacht, verändert sich der Mensch und kann sich daran sogar zugrunde richten.

„(...) das Paradox ist die Leidenschaft des Gedankens, und ein Denker, der ohne das Paradox ist, der ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft: ein mittelmäßiger Patron.“ (S. 36)

Das, woran sich der Verstand in seiner Leidenschaft für das Paradox stößt, ist das Unbekannte, das man auch Gott nennen kann. Die Existenz des einen Gottes beweisen zu wollen, ist töricht. Existiert Gott nicht, so ist es unmöglich, sein Dasein zu beweisen. Existiert er aber, so wird durch einen Beweis seiner Existenz lediglich eine Begriffsbestimmung für sein Dasein vorgenommen; das Dasein selbst lässt sich nicht beweisen. Die Verschiedenheit des Bekannten vom Unbekannten kann man nicht festhalten. Wer es trotzdem versucht, handelt willkürlich und könnte sogar zu dem wahnhaften Schluss gelangen, er selbst habe Gott hervorgebracht.

„Wie also wird der Lernende ein Glaubender oder Schüler? Wenn der Verstand außer Tätigkeit gesetzt ist und der Lernende die Bedingung erhält. Wann erhält er sie? Im Augenblick. Was bedingt diese Bedingung? Dass er das Ewige versteht.“ (S. 63)

Die unglückliche Liebe des Verstandes zum Paradox lässt sich auch als „Ärgernis“ bezeichnen. Dieses Ärgernis ist Ausdruck des Leidens, und es wird durch das Paradox – nicht durch den Verstand – hervorgebracht. Das Paradox selbst ist da, sobald wir davon ausgehen, dass es den besagten Augenblick gibt, in dem der Lernende sich plötzlich selbst als Unwahrheit erkennt und sich seiner Sündhaftigkeit bewusst wird.

Der gleichzeitige Schüler

Gott hat seine Knechtsgestalt nicht angenommen, um sich über die Menschen lustig zu machen. Im Gegenteil: Indem er sie annimmt, will er sich zu erkennen geben. Die Verkündigung seiner Lehre ist für ihn die einzige Notwendigkeit, der Lernende wie ein Bruder oder eine Schwester. Der historische Ausgangspunkt für diese Beziehung ist Gottes Menschwerdung. Daraus folgt, dass es einerseits einen „gleichzeitigen“ Schüler und andererseits einen „Schüler zweiter Hand“ geben muss. Der Unterschied zwischen den beiden Arten von Lernenden besteht darin, dass der gleichzeitige Schüler in direkter Weise mit Gottes menschlicher Gestalt in Berührung gekommen ist, während der Schüler zweiter Hand auf Überlieferungen zurückgreifen muss. Dieser wie jener können aber nur auf eine Art zu einem Einverständnis mit dem Paradox kommen: indem der Verstand und das Paradox glücklich zusammentreffen, oder anders ausgedrückt, indem der Verstand sich selbst ausschaltet und sich dem Paradox hingibt. Das Gefäß, worin sich dieser Vorgang abspielt, nennen wir den „Glauben“.

„Der Glaube selbst ist ein Wunder, und alles, was vom Paradox gilt, gilt auch vom Glauben.“ (S. 64)

Natürlich ist es für den gleichzeitigen Schüler leichter als für den späteren, die historische Bedeutung der Erscheinung Gottes auf Erden zu erfassen. Dass jemand Augenzeuge der historischen Ereignisse ist, macht ihn keinesfalls automatisch zu einem echten Schüler, denn zunächst einmal begreift er die Menschwerdung Gottes eben nur als historische Tatsache, nicht jedoch als Anstoß zur Erkenntnis der Wahrheit bzw. des eigenen Zustands der Unwahrheit. Dazu braucht er den Glauben. Dieser Glaube, der Historisches und Ewiges überbrückt, kann keine Erkenntnis sein, denn erkennen kann man nur immer das eine oder andere, das Historische oder das Ewige. Der Glaube aber bezieht sich gerade auf das Paradox, dass das Ewige das Historische ist.

„Mein lieber Leser! Wir nehmen jetzt an, jener Lehrer sei erschienen, sei gestorben und begraben und es verstreiche nun zwischen Kapitel IV und V eine gewisse Zeit. So kommt es auch in Komödien vor, dass zwischen zwei Akten ein Zeitraum von mehreren Jahren liegt.“ (S. 71)

Der gleichzeitige Schüler hat also den Vorteil, Augenzeuge zu sein, er kann hingehen und den Lehrer selbst anschauen. Im Glauben hilft ihm das jedoch nicht weiter, denn auf diesem Weg kann er Gott ja nur in Menschengestalt erkennen, das Göttliche aber offenbart sich ihm nicht. Der Mensch wird erst dann zu einem Glaubenden, zu einem Schüler, wenn sein Verstand außer Kraft gesetzt wird und er, im angesprochenen Augenblick, die Bedingungen für den Glauben erhält. Weil man diese Bedingung nur von Gott selbst bekommen kann, gibt es im Grunde gar keinen späteren Schüler. Jeder Glaubende, der sie empfängt, ist im weiteren Sinne ein Gleichzeitiger, und längst nicht jeder unmittelbar Gleichzeitige muss ein wirklich Gleichzeitiger sein.

Erkenntnistheoretisches Zwischenspiel

Wenn etwas noch nicht ist, aber werden kann, dann sprechen wir von einer Möglichkeit. Es macht eine Veränderung durch vom Nichtsein zum Sein. Ganz anders das Notwendige: Es kann sich nicht verändern, es ist und bleibt sich selbst. Alles, was wird, beweist durch sein Werden, dass es nicht notwendig ist. Eine Möglichkeit, die Wirklichkeit wird, tut dies also nie notwendigerweise, sondern immer in Freiheit. Alles, was geworden ist, bezeichnen wir als das Historische oder das Vergangene. Es kann sich nicht mehr verändern. Allerdings hat es, als es geworden ist, eine Veränderung durchgemacht. Daraus, dass Notwendiges sich nicht verändern kann, folgt, dass das Vergangene nicht notwendig ist. Gleiches gilt für das Zukünftige, das ja ebenso durch ein Werden entsteht: Auch es ist niemals notwendig.

„Alles Werden geschieht durch Freiheit, nicht aus Notwendigkeit; nichts Werdendes wird aus einem Grund; sondern alles aus einer Ursache.“ (S. 74)

Die direkte sinnliche Wahrnehmung kann sich nicht täuschen. Deshalb kann das Historische nicht Gegenstand solcher Wahrnehmung sein, denn es ist geworden, und sobald man sich fragt, wie es geworden ist, setzt der Zweifel ein. Nicht die Wahrnehmung ist es, die trügerisch ist, sondern die Reflexion derselben. Die griechischen Skeptiker zweifelten keinesfalls per se an der Wahrnehmung, wohl aber an den Schlussfolgerungen, die man aus ihr zieht. Die Besonderheit des Glaubens ist nun, dass er glaubt, was er nicht sehen kann. Wenn der Glaubende beispielsweise einen Stern sieht, dann glaubt er nicht einfach, dass da ein Stern ist – er glaubt, dass dieser Stern geworden ist. Nach Ansicht der griechischen Skeptiker ist es möglich, den Zweifel durch einen Akt des Willens zu überwinden. Der Glaube ist ein solcher Akt der Freiheit, eine reine Willensäußerung. Er glaubt, dass etwas auf eine bestimmte Weise geworden ist – ohne eine andere Möglichkeit auszuschließen –, und hebt damit die Frage, wie etwas geworden ist, auf. Darum ist er das Gegenteil des Zweifels, mit dem er nur eines gemeinsam hat: Beide sind keine Erkenntnisakte. Was die Menschwerdung Gottes betrifft, so entbehrt jemand, der nicht Augenzeuge dieses historischen Ereignisses war, zwar der unmittelbaren Möglichkeit sinnlicher Wahrnehmung. Seinen Glauben aber berührt das nicht.

Der Schüler zweiter Hand

Die erste Generation sekundärer Schüler hat den Vorteil, über die Menschwerdung Gottes noch von Zeitzeugen informiert zu werden, deren Glaubwürdigkeit außer Frage steht. Auch sind diese Schüler zweiter Hand näher an der Erschütterung, die die unmittelbare Wahrnehmung ausgelöst hat. Die jüngste Generation hingegen lebt in großer zeitlicher Distanz zu all dem, was die Erscheinung Gottes auf Erden unmittelbar bewegt hat. Dafür verfügt sie über ein größeres Wissen, was die Folgen dieser Erscheinung betrifft. Wenn der späte Schüler allerdings meint, aufgrund dieser Folgen das Paradox aufheben zu können, das die Menschwerdung Gottes ist, geht er genauso in die Irre wie der Zeitzeuge, der die unmittelbare Sicherheit des Erlebens mit Glauben gleichsetzt. Die Vorteile beider Schüler, jene der frühen und jene der späteren, sind höchst zweifelhaft.

„Hieraus ergibt sich nun, dass sich der Zweifel nur durch die Freiheit aufheben lässt, durch einen Willens-Akt (...)“ (S. 81)

Fest steht, dass das Faktum der Menschwerdung Gottes immer auch ein historisches Faktum ist. Als solches ist es Gegenstand des Glaubens. Das Historische muss darin zwar hervorgehoben werden, aber nicht so, dass man meinen könnte, es sei für den Glauben entscheidend. Ebenso steht fest, dass es einen Schüler zweiter Hand eigentlich nicht gibt. Denn ob erster oder letzter Schüler: Im Glauben selbst spielt das keine Rolle. Ein Unterschied besteht lediglich darin, dass spätere Generationen Ihren Glauben über den Bericht der Zeitgenossen finden, während Letztere über einen unmittelbaren Anlass verfügen.

Über Sokrates hinaus

Der Entwurf, der hier ausgebreitet wurde, geht offenbar über das hinaus, was Sokrates über die Wahrheit gesagt hat und darüber, wie sie gelehrt werden kann. Es wurde eine Reihe neuer Faktoren eingeführt, die sich bei ihm nicht finden: der Glaube, das Sündenbewusstsein, der Augenblick und Gott als Lehrer. Ob der Entwurf damit auch überzeugender ist als Sokrates’ Ausführungen, sei dahingestellt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Philosophischen Bissen gliedern sich in fünf etwa gleich lange Kapitel, die durch ein Vorwort, ein Zwischenspiel und eine abschließende Moral ergänzt werden. In den Kapiteln finden sich einige Exkurse, in denen der Autor aber inhaltlich nicht abschweift, sondern bei den zentralen Themen des Werks bleibt: der Wahrheitsvermittlung, dem Glauben und dem Verhältnis zur Geschichte. Kierkegaard nutzt diese Exkurse, um die Themen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten – eine Methode, die sich durch sein ganzes Werk zieht. Auffällig sind die verschiedenen Stilarten, mit denen das Buch immer wieder verblüfft. Sie reichen von einem betont trockenen wissenschaftlichen Stil über dichterisch-metaphorische Begeisterung bis hin zu einem ironischen Predigertonfall, vom schonungslosen Selbstgespräch bis zur direkten Ansprache des Lesers. Wiederholt stellt Kierkegaard sein eigenes Vorgehen infrage („Das ist der lächerlichste von allen Entwürfen, oder richtiger, du bist der Lächerlichste von allen, die Entwürfe machen“) – allerdings nur, um sich gleich besserwisserisch zu verteidigen. Eine Schwäche des Buchs sind, trotz seiner Kürze, die inhaltlichen Redundanzen. In einigen Abschnitten scheint der Erkenntnisgewinn nicht dem von Kierkegaard betriebenen Aufwand zu entsprechen. Andere Teilaspekte werden eher achtlos behandelt – auch das liegt wohl an der lockeren, unsystematischen Form des Entwurfs.

Interpretationsansätze

  • Kierkegaard benutzt die Philosophie, um das Christentum neu zu begründen. Das tut er, indem er an die Stelle einer ewigen Wahrheit, wie sie in Philosophie und Religion oft angenommen wird, ein historisches Ereignis setzt, mit dem die Wahrheit überhaupt erst beginnt und für den Menschen begreifbar wird. Dieses Ereignis ist die Menschwerdung Gottes durch die Geburt Jesu.
  • Gleichzeitig Gott und Mensch zu sein, ist ein Paradox. Es lässt sich laut Kierkegaard weder mit Sokrates’ Erkenntnistheorie noch mit Hegels Dialektik erklären. Man kann diesem Paradox nur auf zweierlei Weise begegnen: Entweder man glaubt es, oder man ärgert sich darüber. Kierkegaard entscheidet sich für die erste Variante.
  • Um das Paradox der göttlichen Menschwerdung glauben zu können, ist laut Kierkegaard eine „Kreuzigung des Verstandes“ nötig. Der Verstand ermöglicht zwar die Selbstreflexion, aber dieses Nachdenken führt letztlich nur dazu, die eigene Unfähigkeit zur Erkenntnis festzustellen. Zum Glauben taugt der Verstand nicht – wer den Sprung in den Glauben machen will, muss den Verstand überwinden.
  • Kierkegaard grenzt sich von einem unkritischen Christentum ab. Die historischen Folgen, die das Leben Jesu hatte, lassen sich keineswegs als Begründung für den christlichen Glauben heranziehen. Dieser muss immer wieder erneuert werden.
  • Die Philosophischen Bissen lassen sich nicht nur als philosophisches, sondern auch als literarisches Werk lesen. Kierkegaard selbst spricht innerhalb seines Entwurfs ausdrücklich von einer poetischen Perspektive und dichterischen Passagen. Ob diese dem Anspruch des Autors gerecht werden, ist umstritten: Die Mischung aus erklärender Metaphorik, Ironie und Pathos wirkt oft unausgegoren.

Historischer Hintergrund

Politische und kirchliche Reformen in Dänemark

Im Zuge der Revolutionen, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts gegen das „alte Europa“ unter der Führung des österreichischen Fürsten von Metternich wandten, bekam auch die dänische Nationalbewegung Auftrieb. Der Widerstand gegen den Hochadel wuchs, vor allem vonseiten des Bürgertums, das immer mehr an Einfluss gewann. Unter dem Eindruck der deutschen Märzrevolution wurde Dänemark 1849 zu einer konstitutionellen Monarchie und erhielt seine erste Verfassung. Kierkegaard konnte die revolutionäre Begeisterung nicht teilen, sie war seines Erachtens nur Ausdruck eines Zeitgeistes, der der Masse den Vorzug vor dem Individuum gab. Die prägendste dänische Persönlichkeit jener Zeit war Nikolai Frederik Severin Grundtvig. Der Dichter, Philosoph und Theologe begründete die skandinavische Volkshochschulbewegung, die auf Bildung und Erziehung ohne Examen setzte. Gleichzeitig trieb Grundtvig die Reformation der dänischen Kirche voran, mit dem Hauptanliegen, den dominierenden Rationalismus derselben durch die Erneuerung der Lehren Luthers zu überwinden. Nach seiner Priesterweihe und den ersten Predigten fand Grundtvig rasch eine große Zahl von Anhängern, die als Grundtvigianer die Befreiung der Pfarrer von jedem dogmatischen und liturgischen Zwang forderten und die dänische Kirchengeschichte fortan prägten. Als Abgeordneter im Reichstag setzte sich Grundtvig erfolgreich für Religions- und Schulfreiheit ein. Seine beschwörende Darstellung der jungen dänischen Nation als auserwähltes Volk brachte dem Nationaldichter die Feindschaft Kierkegaards ein. Dessen Auffassung des Christentums war – obwohl auch er sich gegen die Staatskirche wandte – von jener Grundtvigs sehr verschieden: Während dieser das leichtherzige, gemeinsame Feiern befürwortete, betonte Kierkegaard die Innerlichkeit, die Sündhaftigkeit und das Leiden des einzelnen Christen.

Entstehung

Wie die Mehrzahl seiner Werke hat Sören Kierkegaard auch die Philosophischen Bissen, die 1844 erschienen, unter einem Pseudonym veröffentlicht. In diesem Fall nennt er sich Johannes Climacus, wobei er seinen richtigen Namen lediglich als den des Herausgebers verzeichnet. Die Philosophischen Bissen entsprangen einer überaus schöpferischen Phase des Autors. 1843, ein Jahr zuvor, waren bereits Entweder – Oder, Furcht und Zittern sowie Die Wiederholung publiziert worden, und Kierkegaard hatte damit in der Kopenhagener Öffentlichkeit einiges Aufsehen und Ärgernis erregt. Die produktive Zeit begann zwei Jahre nach der Auflösung der Verlobung mit Regine Olsen, die Kierkegaard 1837 im Alter von 24 Jahren kennen gelernt hatte. Das gescheiterte Verhältnis fand Niederschlag in den Philosophischen Bissen – der Autor stellte dem Entwurf das Shakespeare’sche Motto „Besser gut gehängt als schlecht verheiratet“ voran. Prägend waren aber auch die immer größere Unzufriedenheit Kierkegaards mit den Lehrmeinungen der dänischen Staatskirche und seine Auseinandersetzung mit den Schriften G. W. F. Hegels, die damals den philosophischen Diskurs dominierten. Kierkegaard lehnte Hegels Auffassung einer objektiven, außerhalb des Menschen liegenden Wahrheit ab und setzte dessen Staatsphilosophie seinen dezidierten Individualismus entgegen.

Wirkungsgeschichte

Kierkegaards Werke, darunter auch die Philosophischen Bissen, waren noch lange über seinen Tod hinaus kaum zugänglich, zumal die dänische Staatskirche seine Arbeiten mit einem regelrechten Bann belegte. Zudem stand die Tatsache, dass sie in dänischer Sprache geschrieben waren, einer weiter reichenden Rezeption im Weg. Der Erste, der sich um die Verbreitung von Kierkegaards Werk verdient gemacht hat, war sein Kollege Georg Brandes. Dieser publizierte sowohl in dänischer als auch in deutscher Sprache und verhalf Kierkegaard durch seine Vorträge zu größerer Aufmerksamkeit. Weiteren Auftrieb erhielt der Philosoph durch den Dramatiker Henrik Ibsen, der ihn im gesamten skandinavischen Raum bekannt machte. Die ersten wissenschaftlich fundierten Übersetzungen ins Deutsche datieren zwischen 1910 und 1920. Diese deutschen Versionen begründeten schließlich den großen Einfluss, den Kierkegaard auf die Philosophie, aber auch auf die Literatur und die Psychologie des 20. Jahrhunderts nahm. In den 30er Jahren wurde der Autor dann ins Englische übersetzt. Einige Philosophen des 20. Jahrhunderts, darunter auch atheistische, beriefen sich auf die Entwürfe des Dänen. Seine Themen wie menschliche Angst und Verzweiflung und die Betonung des Individuellen waren grundlegend für die existenzialistische Bewegung, die in den 30er Jahren einsetzte. Kierkegaard gilt als Vordenker des Existenzialismus und damit als Wegbereiter für Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre. Zu den Literaten, die von seinen Werken beeinflusst waren, gehören herausragende Schriftsteller wie Jorge Luis Borges, Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Max Frisch und John Updike. Kierkegaards Einfluss reicht darüber hinaus auch weit in die christliche Philosophie hinein.

Über den Autor

Sören Kierkegaard wird am 5. Mai 1813 als jüngstes von sieben Kindern eines wohlhabenden Kopenhagener Kaufmanns geboren. Schon früh setzt er sich, inspiriert von seinen religiösen Eltern, mit der Bedeutung der christlichen Lehre im alltäglichen Leben auseinander. 1830 immatrikuliert er sich an der Universität Kopenhagen, um Philosophie und Theologie zu studieren. Zeitlebens fühlt sich Kierkegaard geprägt von der Melancholie eines christlichen Schuldbewusstseins, das er über seinen Vater kennen gelernt hat, der den Tod seiner Frau und fünf seiner Kinder als Strafe Gottes ansah. 1841 bittet Sören Kierkegaard seine Verlobte Regine Olsen, das ein Jahr zuvor eingegangene Eheversprechen wieder zu lösen. Er hat Angst, wegen seiner Tendenz zur Schwermut nicht der richtige Mann für sie zu sein. Er bleibt ihr aber bis zu seinem Tod treu. In einem an Ereignissen armen Leben ist dies ein Vorgang, der auch in seinen Schriften Niederschlag findet. Wenige Wochen nach dem Bruch mit Regine fährt Kierkegaard nach Berlin, um dort Schellings Vorlesungen zu hören und sich mit dem Werk Hegels vertraut zu machen. Später kritisiert er den Hegelianismus in seinem ersten großen Buch Entweder – Oder. 1845 lässt er Stadien auf dem Lebensweg folgen. Zwischen 1843 und 1855 erscheinen unter diversen Pseudonymen alle weiteren Bücher Kierkegaards, deren Publikation er aus dem Vermögen seines 1838 verstorbenen Vaters finanziert, darunter Furcht und Zittern (1843), Die Wiederholung (1843), Philosophische Bissen und Der Begriff Angst (beide 1844). 1848 werden die Christlichen Reden veröffentlicht, die Kierkegaards Auseinandersetzung mit der dänischen Kirche einläuten. Er wirft ihr vor, dass das Christsein nicht mehr das Ergebnis einer bewussten Entscheidung sei, sondern ein von der Kirche unterstützter, geradezu mechanischer und mit keiner Mühe verbundener Vorgang. 1855 hat Kierkegaard, der nie einem Broterwerb nachgegangen ist, das Erbe des Vaters nahezu aufgebraucht und bereitet sich auf ein Leben in Armut vor. Am 2. Oktober des gleichen Jahres erleidet er einen Schlaganfall, an dessen Folgen er am 11. November stirbt.

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