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Jahrestage

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Jahrestage

Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Suhrkamp,

15 min read
12 take-aways
Text available

What's inside?

Vier Jahrzehnte deutsch-deutscher Geschichte, in 366 Tagen erzählt – die „Jahrestage“ sind ein Jahrhundertroman von epischer Breite und Größe.

Literatur­klassiker

  • Roman
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

40 Jahre deutscher Geschichte

Der ahnungslose Leser steht vor Johnsons Jahrestagen wie der Ochs vorm Berg: Schier unüberwindbar erscheint dieser Wälzer von gut 1700 Seiten über die unnahbare Gesine Cresspahl und ihre frühreife Tochter Marie. Die Themen und Motive verschwimmen vor den Augen: Kindheit während der Nazizeit, Jugend in der stalinistisch geprägten DDR, Übersiedlung, Verlust der Heimat und schließlich die New Yorker Gegenwart, geprägt von Rassendiskriminierung und Nachrichten über Kriegstote in Vietnam. Die Gefahr ist groß, dass dem Besteiger dieses Romanbergs nach den ersten Schritten die Puste ausgeht. Allzu leicht kann er – umgeben von plattdeutschen Dialogen, seitenlangen Zeitungszitaten und Stimmen aus dem Jenseits – die Orientierung verlieren. Doch wenn er durchhält und es bis zum Gipfel schafft, bietet sich ihm ein einmaliger Anblick: Vier Jahrzehnte deutscher Geschichte breiten sich vor ihm aus. Er hat die Farben der Mecklenburger Ostseeküste in sich aufgesogen, den einsamen Tod des alten Cresspahl beweint und über skurrile Geschichten wie den Ersatz des Christkindes durch das „Solidaritätsmännchen“ in der DDR gelacht. Es war ein Kraftakt. Aber er hat sich gelohnt!

Take-aways

  • Johnsons Mammutroman Jahrestage gilt vielen als die deutsche Antwort auf Marcel Proust und James Joyce.
  • Das Buch handelt davon, die eigene Identität anhand von erzählter Erinnerung zu rekonstruieren.
  • Die Bankangestellte Gesine Cresspahl lebt mit ihrer Tochter in New York. Während eines Jahres – von August 1967 bis August 1968 – erzählt sie ihre Geschichte.
  • Zu Gesines Geburt kehren die Eltern 1933 aus England nach Mecklenburg zurück, weil die Mutter Heimweh hat.
  • In den nächsten Jahren meint sie, durch die Verbrechen der Nazis Schuld auf sich geladen zu haben, und nimmt sich schließlich das Leben.
  • Nach Kriegsende stecken die Sowjets Gesines Vater für zweieinhalb Jahre in ein Arbeitslager.
  • Gesine siedelt 1953 in den Westen über, weil sie den stalinistischen Terror nicht erträgt.
  • Jakob, ihre große Liebe, besucht sie dort. Er kehrt aber in die DDR zurück und stirbt bei einem Eisenbahnunfall.
  • 1957 wird Marie geboren. Vier Jahre später emigrieren Mutter und Kind nach New York.
  • Am 20. August 1968 fliegen sie von New York nach Prag. Gesine soll mit der tschechischen Reformregierung über Kredite verhandeln.
  • Der in Ostdeutschland aufgewachsene Uwe Johnson verarbeitete in der Tetralogie seine eigene Geschichte und den Verlust der Heimat.
  • Das Etikett „Dichter beider Deutschland“ lehnte er ab. Er starb 1984 vereinsamt in England.

Zusammenfassung

Zwei Deutsche in New York

August 1967. Die aus Mecklenburg stammende Gesine Cresspahl lebt seit sechs Jahren mit ihrer zehnjährigen Tochter Marie in New York. Marie hatte anfangs große Schwierigkeiten, sich einzuleben. Doch nun liebt sie die Stadt, die Mietwohnung am Riverside Drive und die Läden am Broadway über alles. Die 34-jährige Fremdsprachensekretärin Gesine hingegen fühlt sich nach wie vor fremd. Ihr Freund Dietrich Erichson, ebenfalls aus Mecklenburg und Raketenfachmann für die NATO, hat ihr schon mehrfach die Ehe angetragen. Marie nennt ihn zärtlich D. E. und hat ihn längst als Vater akzeptiert. Doch Gesine kann sich nicht zur Heirat durchringen. Ihre Vergangenheit lässt sie nicht in Ruhe. In Gedanken und Träumen sprechen die vielen Menschen, Tote und Lebendige, zu ihr, die sie in ihrer Heimat zurückgelassen hat. Sie beginnt, Marie ihre Geschichte zu erzählen.

Geboren in Nazideutschland

Gesines Vater, der Kunsttischler Heinrich Cresspahl, heiratete Lisbeth Papenbrock Ende 1931 in der mecklenburgischen Kleinstadt Jerichow. Er stammte selbst aus der Gegend, lebte aber seit vielen Jahren im englischen Richmond. Mit den Papenbrocks wollte er so wenig wie möglich zu tun haben. Lisbeths Vater wurde „der König von Jerichow“ genannt. Als gescheiterter Gutsverwalter, eingeheiratet in eine adlige Familie, wohnte er nun herrschaftlich am Markt und beutete mit seinem Speichergeschäft die Ackerbauern aus. Lisbeth folgte ihrem Mann nach England, jedoch ohne dort glücklich zu werden. Im siebten Monat schwanger, reiste sie mitten im Winter nach Jerichow zurück und brachte Gesine am 3. März 1933 zur Welt. Als ihr Mann sie besuchen kam, stellte ihn die Familie Papenbrock vor vollendete Tatsachen: Lisbeths Vater hatte der Neugeborenen einen Hof im Ort überschrieben, den ihr Vater bis zu ihrem 21. Geburtstag treuhänderisch verwalten sollte.

„Woher kommt die Gewissheit, dass wir nur Sprache zwischen uns haben, und nicht Verständigung?“ (S. 261)

Cresspahl gab sich geschlagen. Während er in Richmond seinen Hausstand auflöste, festigten in Deutschland die Nazis ihre Macht. Gleichzeitig wurde die gläubige Lisbeth immer sonderbarer. Sie fühlte sich schuldig ihrem Ehemann gegenüber, dem ehemaligen SPD-Mitglied, den sie in das Deutschland der Nazis zurückgeholt hatte; schuldig vor Gott und schuldig dafür, am Leben zu sein. Voller Angst vor einem neuen Krieg beobachtete sie den Bau eines Militärflughafens nördlich von Jerichow, an dem auch Cresspahl mitverdiente.

Tod und Verzweiflung

An Weihnachten 1936 nahm Lisbeth etwas Ungenießbares zu sich und erlitt daraufhin eine Fehlgeburt. Im folgenden Sommer sah sie reglos zu, wie ihre Tochter in eine unabgedeckte Regentonne fiel. Es war Cresspahl, der Gesine vor den Augen der Mutter aus dem Wasser zog. Als er merkte, dass Lisbeth ihr Kind hungern ließ, wich er nicht mehr von Gesines Seite. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 sah Lisbeth mit an, wie die achtjährige Tochter des jüdischen Kleiderhändlers Tannebaum „aus Versehen“ erschossen wurde. Am nächsten Morgen erfuhren Cresspahl und Gesine – in jener Nacht bei Verwandten –, dass die Scheune mit allen Arbeitsgeräten verbrannt und Lisbeth in den Flammen umgekommen war. Für Cresspahl bestand kein Zweifel: Sie hatte das Feuer selbst gelegt. Pfarrer Brüshaver gestattete Lisbeth entgegen den kirchlichen Regeln eine ordentliche Beerdigung. In der Sonntagspredigt redete er den Bürgern Jerichows ins Gewissen – und sich selbst um die Freiheit: Er sprach von den vielen kleinen Verbrechen, die Lisbeth das Weiterleben unmöglich gemacht hatten, und von ihrer aller Schuld am Mord eines Kindes. In der Nacht darauf wurde der Pfarrer ins Konzentrationslager abtransportiert.

Den Krieg überleben

Anfang 1939 ließ Cresspahl sich als Spion für die Briten anwerben. Seine Arbeit am Militärflughafen erlaubte ihm den Zugang zu wichtigen Informationen. Gesine zog ein halbes Jahr nach Pommern, zu Lisbeths Schwester Hilde, deren Mann Alexander und den drei Kindern. Sie nahm dort an einem unbeschwerten Familienleben teil. Doch Cresspahl vermisste seine Tochter und holte sie zu sich zurück. Alexander wurde 1944 an die Ostfront versetzt, weil er sich als Beamter gegen die Einweisung von jüdischen Kindern in ein Konzentrationslager gewehrt hatte. Er fiel kurz vor Kriegsende. Hilde und die drei Kinder kamen auf der Flucht nach Westen durch sowjetische Bomben ums Leben.

„Die Nordvietnamesen haben in Süd-Viet Nam einen Flugplatz und ein Munitionslager beschossen, sodass ein ganzes Tal in Flammen steht. Der Amerikanische Oberbefehlshaber in Viet Nam findet die Lage ,sehr, sehr ermutigend‘.“ (S. 271)

Nach dem Krieg ernannte die britische Besatzungsmacht Cresspahl zum Bürgermeister. Schon bald war sein Haus mit Flüchtlingen aus den Ostgebieten überfüllt, darunter auch Marie Abs und ihr Sohn Jakob. Gesine verliebte sich in den fünf Jahre älteren Jakob, der in ihr zunächst nur die kleine Schwester sah. Im Tausch gegen Westberlin ging der Westen Mecklenburgs zum Schrecken der Bürger wenige Monate nach Kriegsende an die Sowjets über. Gerüchte über die gefährlichen und primitiven russischen „Untermenschen“ zogen durchs Land, etwa dass sie ihre Kartoffeln in der Kloschüssel waschen würden. Schon bald hatten die Jerichower einen neuen Sündenbock: Cresspahl, der als Bürgermeister versuchte, unter chaotischen Bedingungen die Versorgung der hungernden Stadt zu gewährleisten. Im Oktober 1945 verhaftete ihn die Rote Armee aus reiner Willkür. Über zwei Jahre vegetierte er in einem Arbeitslager.

Auferstanden aus Ruinen

Gesine begann die Sowjets zu hassen. Im Sommer ging sie zur Erntehilfe in die landwirtschaftliche Kommune Johnny Schlegels. Es war der einzige Hof, dessen Bewohner trotz der Abgaben an die Besatzungsmacht satt wurden. Überall erschienen nun von den Sowjets geschulte deutsche Kaderleute, die den Sozialismus aufbauen sollten. In der Schule lernte Gesine zu lügen: über das Verschwinden ihres Vaters, ihre Meinung über die neue Ordnung und ihre Vorliebe für die BBC. Im Mai 1948 wurde Cresspahl entlassen. Er humpelte, konnte lange keine feste Nahrung zu sich nehmen und wusch sich wie besessen.

„Wenn ich mich auf einen Menschen einlasse, könnte sein Tod mich schmerzen. Ich will diesen Schmerz nicht noch einmal. Ich kann es mir also nicht leisten, mich auf jemand einzulassen.“ (S. 350)

Gesine freundete sich mit Pius Pagenkopf an, dem Sohn eines einflussreichen Funktionärs der Sozialistischen Einheitspartei (SED). Gemeinsam versuchten sie, inmitten von Dogmatikern, Opportunisten und Spitzeln Humor und ein gewisses Maß an Freiheit zu bewahren. Während des FDJ-Pfingsttreffens in Berlin folgte Pius der strammen Stalinistin und Junglehrerin Bettina Selbich heimlich in den verbotenen Westen der Stadt und fotografierte sie vor einem Schuhgeschäft. Für den Rest ihrer Schulzeit hatten sie von ihr nichts mehr zu befürchten. Andere kamen nicht so glimpflich davon. Der Rektor der Fritz-Reuter-Oberschule in Gneez, Dr. Julius Kliefoth, wurde 1950 wegen fehlender Linientreue entlassen. Unter anderem hatte er in seiner Klasse eine kleine Weihnachtsfeier erlaubt, obwohl Weihnachten offiziell abgeschafft und das Christkind durch das „Solidaritätsmännchen“ ersetzt worden war.

Widerstand und Abstimmung mit den Füßen

Der Klassenprimus Dieter Lockenvitz verschickte anonym Briefe, in denen er auf das Unrecht und die Willkür der mecklenburgischen Justiz aufmerksam machte. Er wurde gefasst und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Pius Pagenkopf ging nach der elften Klasse ab, verpflichtete sich zur Überraschung seiner Freunde bei der Bewaffneten Volkspolizei und wurde später Pilot bei der Nationalen Volksarmee. Er starb 32-jährig in der Sowjetunion. Am Ende blieb Gesine nur Anita Gantlik, eine Vertriebene, die während der Schulzeit mit ihrer Tante in Gneez wohnte. Als Elfjährige war sie von drei Rotarmisten vergewaltigt worden und hatte sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen. Fünf Jahre später sagten ihr die Ärzte, dass sie niemals Kinder bekommen würde. Nach dem Abitur ging Anita nach Westberlin, studierte Slawistik und eröffnete ein „Reisebüro“ der besonderen Art: Sie besorgte falsche Pässe und verhalf Ausreisewilligen zur Flucht aus der DDR.

„Ein Präsident kann nicht lügen: sagt Marie: Es käme doch heraus!“ (S. 439)

Gesine selbst studierte zunächst englische Literatur in Halle. Doch nach einem halben Jahr konnte sie die Spitzelei, die Propaganda und die Einschüchterungen nicht mehr ertragen. 1953 zog sie in den Westen. Es folgten der Besuch der Dolmetscherschule in Frankfurt und schließlich eine Anstellung für die Alliierten in Düsseldorf. Im Herbst 1956 bekam sie Besuch von Jakob, der mittlerweile bei der ostdeutschen Reichseisenbahn arbeitete. Jakob fuhr zurück in die DDR und verunglückte im Morgennebel auf den Gleisen. Im Juli darauf wurde Marie geboren. Gesine gelang es nicht, in der Bundesrepublik heimisch zu werden. Die Selbstgefälligkeit, mit der ehemalige Nazis es sich bequem gemacht hatten, stieß sie ab. 1961 ließ sie sich von ihrem Arbeitgeber nach New York versetzen. Ein Jahr später starb ihr Vater allein in Mecklenburg.

Mit der New York Times durchs Jahr

Während Gesine in New York in Gedanken und Geschichten ihr Leben vorüberziehen lässt, liest sie Tag für Tag die New York Times, die sie sich als „alte Tante“ vorstellt. Die Zeitung berichtet über die täglich steigende Zahl von Toten im Vietnamkrieg, über Einbrüche und Gewaltverbrechen, über Rassenunruhen in Detroit und Newark. Marie freundet sich mit Francine an, der einzigen schwarzen Schülerin in der Klasse ihrer katholischen Privatschule. Anfangs schämt sie sich, denn Francine haust mit ihrer Mutter in einer Einzimmerwohnung und ihre Geschwister spritzen sich Heroin. Marie glaubt im Gegensatz zu ihrer Mutter an den amerikanischen Traum und daran, dass jeder das Leben hat, das er verdient. Als Francines Mutter in eine Messerstecherei gerät, zieht das Mädchen zu den Cresspahls. Das Zusammenleben ist schwierig. Zwischen den deutschen Einwanderern und der schwarzen Unterklasse New Yorks liegen Welten. Als die Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wird, erzählt Francine den Cresspahls nichts davon. Schließlich wird sie von einem Sozialarbeiter abgeholt. Marie ist enttäuscht. Es ist für sie unfassbar, dass ein Kind nicht zu seiner Mutter zurück möchte.

„Lisbeth, ick schlå di dot. Schlåmi dot Hinrich. Mi is kein Helpn mihr.“ (Heinrich und Lisbeth Cresspahl, S. 552)

Gesine hat in New York Bekannte, aber kaum Freunde. Mit der Finnin Annie Killainen überwirft sie sich, als diese wegen Streitereien über den Vietnamkrieg ihren Mann verlässt und mit ihren drei Kindern bei den Cresspahls auftaucht. Und warum Mrs. Ferwalter, eine tschechische Jüdin und Überlebende eines Konzentrationslagers, ausgerechnet eine Deutsche zur Freundin haben will, kann Gesine nicht verstehen. Die amerikanischen Kolleginnen können auf Dauer mit ihrer spröden und undurchdringlichen Art nicht umgehen. Kurz vor Weihnachten lädt der Vizepräsident von Gesines Bank, de Rosny, sie in seine Villa auf Long Island ein. Er plant ein Kreditgeschäft mit der tschechoslowakischen Regierung und will prüfen, ob sich Gesine als Abgesandte seiner Bank eignen könnte. Sein Institut bezahlt ihr schon seit einiger Zeit Tschechischunterricht. Noch ist das alles streng geheim. Doch schon hat Gesine den Eindruck, dass ihr nachspioniert wird. Vom KGB? Oder von der Bank selbst? Dietrich Erichson rät ihr, die Finger von diesem Auftrag zu lassen. Aber Gesine sieht in der tschechischen Reformbewegung einen Hoffnungsschimmer für den Osten. Im Februar zieht sie in ihr eigenes Büro, mit Besuchersofa und flauschigem Teppich.

Ein Jahr der Gewalt

Im April 1968 wird Martin Luther King ermordet. Gesine möchte dem schwarzen Hausmeister ihr Beileid auszudrücken. Doch dieser weist es entschieden zurück: Sie gehöre zu den Weißen, es könne ihr nicht wirklich leidtun. Als Bobby Kennedy im Juni erschossen wird, ist Marie untröstlich. Bobby hat für sie das „gute“ Amerika repräsentiert. Sie ist überzeugt: Wäre er Präsident geworden, hätte er den Vietnamkrieg sofort beendet. Außerdem ist sie ihrer Mutter böse, dass diese ihre Trauer und ihre Liebe für die Wahlheimat USA nicht teilt. Inzwischen zweifelt auch Gesine an ihrem Auftrag in der ČSSR. Mit Unbehagen liest sie über die militärischen Manöver der Truppen des Warschauer Pakts. Der Gedanke an einen Abschied von New York fällt ihr immer schwerer, nicht nur wegen Marie. Erichson trägt ihr wieder einmal seine Heiratswünsche an – und dieses Mal sagt sie zu.

„Gott, der die Atombombe erfand, schießt auch auf Sperlinge, damit sie vom Dach fallen.“ (S. 693)

Ende Juli wird in ihre Wohnung eingebrochen. Die Diebe zerstören alte Bücher über Mecklenburg und zertrümmern Möbel – vielleicht weil sie kaum Geldwerte gefunden haben. Eine Woche darauf stirbt Erichson bei einem Flugzeugabsturz in Finnland. Gesine wagt nicht, es Marie zu erzählen, aus Angst, dass sie nicht mit nach Prag kommen wird. Ihre alte Freundin Anita beginnt, im Namen von Erichson Telegramme zu schicken, in denen sie von einem Unfall spricht: Das Kind soll behutsam auf die Todesnachricht vorbereitet werden. Am Wochenende vor der Abreise fliegt Gesine mit Marie noch nach San Francisco und New Orleans, als vorläufiger Abschied von Amerika. Auf ihrem Flug nach Prag machen die beiden eine Zwischenlandung in Dänemark. Der stark gealterte Lehrer Kliefoth überrascht sie im Hotel. Gesine überreicht ihm ein Manuskript, die Niederschrift ihres Lebens. Am Nachmittag will sie mit Marie nach Prag fliegen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Erzählzeit des Romans, der aus vier Teilen besteht, erstreckt sich über ein Jahr: vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968. Die ersten beiden Teile behandeln jeweils vier, die letzten beiden je zwei Monate aus dem Leben von Gesine und Marie Cresspahl in New York. Die erzählte Zeit ist viel weiter gespannt: Anhand von Einzelschicksalen werden fast vier Jahrzehnte deutscher Geschichte reflektiert. Uwe Johnson verwebt die Zeitebenen und Ereignisse durch eine Vielzahl von Erzählsituationen und Perspektiven miteinander: Gesine erzählt Marie aus ihrer Vergangenheit, spricht in Tag- und Nachtträumen mit entfernt Lebenden, Toten und dem Autor selbst („Genosse Schriftsteller“). Sie schreibt und erhält Briefe, telefoniert, nimmt für Marie Tonbänder auf „für wenn sie tot ist“ und zitiert Tag für Tag Berichtenswertes aus der New York Times. Familien- und Zeitgeschichte verschmelzen so miteinander, und die Dramatik der Vergangenheit spiegelt sich in der erzählten Gegenwart. Während Gesine z. B. über die in Flammen stehenden Synagogen während der Reichspogromnacht und den anschließenden Selbstmord ihrer Mutter in einer brennenden Scheune nachdenkt, liegt sie selbst mit hohem Fieber im Bett. Johnson macht es dem Leser nicht immer einfach: Mehrmals lässt er Figuren aus früheren Romanen auftreten, deren Geschichten er als bekannt voraussetzt. Ganze Passagen auf Französisch, Englisch, Russisch, Tschechisch und Mecklenburger Plattdeutsch lässt er unübersetzt. Außerdem wimmelt es von Anspielungen auf Personen und Werke, die nur mithilfe eines ausführlichen Kommentars zum Werk zu entschlüsseln sind.

Interpretationsansätze

  • Jahrestage handelt von dem Versuch, Geschichte über die erzählte Erinnerung zu begreifen. Familien- und Zeitgeschichte greifen dabei ineinander: Gesine Cresspahl reflektiert parallel ihr Verhältnis zum verlorenen Vater und jenes zum Vaterland.
  • Der Roman zeigt, dass Geschichte bestenfalls annähernd rekonstruiert werden kann. Ein Schlüsselsatz ist der von Heinrich Cresspahl überlieferte Ausspruch: „Geschichte ist ein Entwurf.“
  • Die Problematik der Erinnerung schlägt sich in der Scham vor dem Ich nieder. Häufig ersetzt die Erzählerin das „Ich“ durch das distanzierte „Kind/Schülerin/Angestellte Cresspahl“. Johnson selbst sprach an anderer Stelle von der „Peinlichkeit, ‚ich‘ zu sagen“.
  • Die Auswanderin Gesine steht für die verlorene Generation Deutschlands: Ihren Traum von Freiheit und Gerechtigkeit sieht sie weder im Osten noch im Westen Deutschlands, geschweige denn in den USA verwirklicht. Die Reise nach Prag ist ihre letzte Hoffnung auf eine basisdemokratische Gesellschaft.
  • Heimat ist da, wo die Erinnerung zu Hause ist: Gesine hat den Verlust Mecklenburgs und so vieler geliebter Menschen nie überwunden. Entwurzelung und Entfremdung haben sie einsam und beziehungsunfähig werden lassen.
  • Durch Menschen wie Pfarrer Brüshaver oder Heinrich Cresspahl wird die Schwierigkeit, als aufrechter Mensch in einer Diktatur zu leben, besonders augenfällig: Während sie für ihre Zivilcourage bestraft werden, retten sich viele Mörder, Opportunisten und Denunzianten von einem Unrechtsregime ins andere.
  • Die Figuren, Schauplätze und Geschichten zeigen eine stark autobiografische Prägung. Der junge Uwe Johnson tritt z. B. in Gestalt des Schülers Dieter Lockenvitz auf. Auch die Figur Dietrich Erichson verweist nicht nur durch ihren Namen auf den Autor (Johnsons Vater hieß Erich): Er ähnelt ihm auch in der beginnenden Alkoholsucht, in Aussehen und Charakter.

Historischer Hintergrund

Der Prager Frühling

Jahrestage endet am Morgen des 20. August 1968. Am Nachmittag, so heißt es, werden Gesine und Marie auf dem Weg nach Prag sein, um dort beim Aufbau eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ mitzuhelfen. Doch in der Nacht zum 21. August rollten sowjetische Panzer in die tschechoslowakische Hauptstadt ein, um ein als „Prager Frühling“ bezeichnetes politisches Experiment gewaltsam zu beenden. Angefangen hatte es im Herbst 1967 mit Studentenprotesten und Angriffen des Schriftstellerverbandes gegen den orthodox-kommunistischen Staats- und Parteichef Antonin Nowotny. Im Januar 1968 wurde auf Druck der Öffentlichkeit der slowakische Reformer Alexander Dubček zum Ersten Sekretär der kommunistischen Partei gewählt. Im April stellte die Partei ein Aktionsprogramm vor, das neben wirtschaftlichen Reformen auch Meinungs- und Informationsfreiheit sowie eine Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit versprach. Die übrigen Staaten des Warschauer Pakts fürchteten ein Übergreifen dieser Bewegung auf ihre Länder; sie warfen der ČSSR konterrevolutionäre Absichten und eine „Gefährdung des Weltfriedens“ vor. Doch die Bewegung hatte längst eine eigene Dynamik entwickelt. Das Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft schlug sich im Juni in dem von Zehntausenden unterschriebenen „Manifest der 2000 Worte“ nieder. Die Verfasser geißelten darin die „Irrtümer des Sozialismus“ und riefen zu passivem Widerstand gegen reaktionäre Kräfte auf. Vergeblich. Die Niederschlagung des Prager Frühlings markierte für viele Intellektuelle im Osten wie im Westen ein Ende aller Hoffnungen auf die Gangbarkeit eines sogenannten dritten Weges. Die Freiheit des Einzelnen in einer kommunistischen Gesellschaft schien von nun an reine Utopie.

Entstehung

Uwe Johnson begann nach eigener Aussage am 29. Januar 1968 mit der Niederschrift der Jahrestage. Der Schriftsteller lebte damals wie seine Protagonistin Gesine Cresspahl am Riverside Drive in New York und sammelte bereits seit geraumer Zeit Material. Die Wahl des Datums, an dem der Roman einsetzt, gab der Autor später in der Frankfurter Vorlesung Begleitumstände als zufällig an: „So wurde der 20. August 1967 der Tag für das erste Kapitel, ohne Ahnung von dem, der ihm gegenüberstehen sollte binnen Jahresfrist.“ Die ersten drei Bände erschienen in rascher Folge 1970, 1971 und 1973. Doch ab 1975 litt Johnson unter einer schweren Schreibblockade. Er machte das Zerwürfnis mit seiner Frau Elisabeth dafür verantwortlich. Sie gestand ihm, in den 60er Jahren ein Verhältnis mit einem Mann in Prag gehabt zu haben. Johnson war überzeugt, dass sie ihn und das gemeinsame Projekt der Jahrestage an diesen – wie er meinte – „Vertrauten“ des Geheimdienstes verraten hatte. Elisabeth stritt dies ab. 1978 trennten sich die Eheleute. Johnson zog sich immer stärker in seine Romanwelt zurück. Er bezeichnete sich selbst als schizophren: „Es ist, als sei das künstlich Erzeugte zu meinem einzigen Leben geworden, alles was hier vorkommt, ist wahr für mich.“ Die Identifikation ging so weit, dass er auf Erkundigungen nach Einzelheiten über die Hauptperson zu antworten pflegte: „Das weiß ich nicht. Fragen Sie Gesine Cresspahl selbst.“ Der Verleger Siegfried Unseld drängte den Autor im Dezember 1982 unter Hinweis auf seine Schulden zur Fertigstellung des vierten Bandes. Am 17. April 1983 setzte Johnson den Schlusspunkt.

Wirkungsgeschichte

Der Kritiker Joachim Kaiser lobte die Jahrestage-Tetralogie als „opus magnum“ und forderte, sie „den großen Werken unserer deutschen Literaturgeschichte an die Seite zu stellen.“ Für die literaturwissenschaftliche Forschung ist Johnsons Hauptwerk in der Tat eine unerschöpfliche Fundgrube. Allein der im Jahr 2000 erschienene Kommentar zum Buch ist stolze 1133 Seiten dick. Einige Kritiker bemängelten die extrem sperrige Lektüre und das fehlende psychologische Einfühlungsvermögen des Autors für seine Figuren. Der Lyriker Peter Rühmkorf gestand lange nach dem Tod seines Freundes Johnson, dass er die Jahrestage für eine „Kapitulationsurkunde“ hielt: „Es kommt ja außer Zeitungslektüre nicht sehr viel Weltbewegendes vor, (...) und da schleift er dann auch noch diese Cresspahl-Familie wie einen Schlagschatten seiner eigenen Vergangenheit hinter sich her, als ob sich das Plusquamperfekt unendlich verlängern ließe.“ Margarethe von Trotta inszenierte den als unverfilmbar geltenden Roman 2000 als vierteiligen Fernsehfilm und machte ihn damit erstmals einem breiten Publikum zugänglich.

Siegfried Unseld sah in dem Werk über ein „Weltjahr“ den bisher „letzten Epochenroman“ und verglich ihn mit James Joyce’ Ulysses über einen „Welttag“: „Er ist zugleich Epiphanie der Alltäglichkeit und doch Utopie-Entwurf.“ Für viele begann mit Johnson die eigentliche deutsche Nachkriegsmoderne. Auch heftete man ihm schon früh das Etikett „Dichter beider Deutschland“ an. Glücklich wurde er damit nie. Er wollte sich von keiner Seite vereinnahmen lassen und stieß auch die westdeutsche Öffentlichkeit nach seiner Übersiedlung stets mit kritischen Äußerungen vor den Kopf. Die Emigration nach England 1974 war wohl auch Ausdruck seines Willens, letztlich „Dichter keiner der beiden“ zu sein.

Über den Autor

Uwe Johnson wird am 20. Juli 1934 im polnischen Kamień Pomorski, dem damaligen Cammin in Vorpommern, als Sohn eines Landwirts und Gutsverwalters geboren. Das vierte Schuljahr verbringt er in einem Eliteinternat der Nationalsozialisten. Anfang 1945 flieht der Elfjährige mit seiner Mutter und seiner Schwester nach Mecklenburg. Sein Vater stirbt in sowjetischer Haft. Nach dem Abitur in Güstrow studiert er zunächst Germanistik in Rostock. Er protestiert in einer Großversammlung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) gegen die staatliche Verleumdung der evangelischen Jungen Gemeinde und wird daraufhin exmatrikuliert. Johnson tritt aus der FDJ aus. In Leipzig wird er wieder zum Studium zugelassen. Sein Diplom macht er 1956 bei Hans Mayer, einem prominenten jüdischen Literaturwissenschaftler, der nach Kriegsende in die DDR zurückgekehrt ist. Im gleichen Jahr vollendet er seinen ersten Roman, Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, der von ost- und westdeutschen Verlagen abgelehnt und erst posthum veröffentlicht wird. Der Roman Mutmaßungen über Jakob erscheint 1959 im Frankfurter Suhrkamp Verlag und wird auf der Buchmesse enthusiastisch gefeiert. Er handelt vom Leben und Tod eines Grenzgängers, der auf keiner Seite Deutschlands zurechtkommt. Kurz nach dem Erscheinen siedelt Johnson nach Westberlin über. In den 60er Jahren folgen mehrere Werke, in denen er historische Ereignisse wie den DDR-Volksaufstand am 17. Juni 1953, den Ungarnaufstand 1956 und den Mauerbau 1961 aufarbeitet. Anfang 1968, während eines Stipendiums in New York, beginnt er die Arbeit an seinem Hauptwerk Jahrestage. Die ersten drei Bände erscheinen 1970, 1971 und 1973. 1974 zieht er nach Sheerness-on-Sea, einem einsamen Ort auf der englischen Themse-Insel Sheppey. Er trinkt, leidet unter schweren Depressionen und einer Schreibblockade. Für Letztere macht er die Untreue und angebliche Spionagetätigkeit seiner Frau Elisabeth verantwortlich. Auf Drängen seines Verlegers beendet er 1983 den vierten Band der Jahrestage. Am 23. Februar 1984 stirbt er 49-jährig an Herzversagen. Seine Leiche wird erst drei Wochen später gefunden.

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    S. B. vor 6 Jahren
    Sehr hilfreich und ausführlich. Ein paar Literaturangaben wären noch schön. Diese Zusammenfassung wurde doch nicht nur mit der Primärquelle geschrieben, oder?
    • Avatar
      vor 6 Jahren
      Danke für Ihren Kommentar! Sie haben recht, neben der Primärquelle wurde für das Abstract auch auf Sekundärliteratur zurückgegriffen. Da wir bei getAbstract aber keinen streng wissenschaftlichen Ansatz verfolgen, verzichten wir in den Abstracts auf die Angabe sonstiger Quellen.

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