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Die Wissenschaftslehre

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Die Wissenschaftslehre

Zweiter Vortrag im Jahre 1804

Meiner,

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10 take-aways
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What's inside?

Fichte macht sich in der Wissenschaftslehre auf die Suche nach dem Absoluten und findet es in der reinen Vernunft.

Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Deutscher Idealismus

Worum es geht

Auf der Suche nach dem Absoluten

Fichte ist heute vor allem als Denker bekannt, der zwischen Kant und Hegel einzuordnen ist. Sein Hauptwerk Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) brachte ihm zu Lebzeiten den Vorwurf des Atheismus ein, was ihn offensichtlich so sehr erschütterte, dass er das Werk noch mehrmals neu schrieb. Das Konzept der frühen Fassung (die Darstellung der menschlichen Vernunftkategorien) ließ er für die Version von 1804 fallen, um einem neuen, zu jener Zeit äußerst beliebten Projekt, der Auffindung des Absoluten, Platz zu machen. Das Verständnis des Werks wird durch die anscheinend willkürliche Terminologie erheblich erschwert. Diese resultiert aus Fichtes Anspruch, dass Philosophie sich nie auf feste Begriffe reduzieren lassen sollte, sondern lebendiger und selbstständiger Nachvollzug von Gedanken sein muss. Diese Eigenschaften machen Die Wissenschaftslehre zu einem schwierigen Stück Philosophie, das einen schnellen und einfachen Zugang praktisch verunmöglicht. Die historische Bedeutung des Werks liegt vor allem in seinem Beitrag zur zeitgenössischen Debatte um das Verhältnis von Religion, Gottesbegriff, Vernunft und Individuum.

Take-aways

  • Johann Gottlieb Fichte war einer der bedeutendsten Philosophen des Deutschen Idealismus.
  • Die Wissenschaftslehre von 1804 ist eine Neufassung seines Hauptwerks Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95).
  • Insgesamt hat Fichte das Werk neunmal überarbeitet.
  • Inhalt: Fichte verfolgt das Ziel, ein Prinzip zu finden, das alle Phänomene der Welt auf ein einziges Absolutes zurückführt. Dieses Absolute ist das reine Wissen oder die reine Vernunft, die in unserem Leben und Denken lebendig wirkt.
  • Die Wissenschaftslehre sollte u. a. den Vorwurf des Atheismus entkräften, der gegen Fichte vorgebracht worden war.
  • Die Schrift besteht aus einer Sammlung von Vorlesungsmanuskripten, die Fichte für eine Vortragsreihe im Frühling 1804 verfasste.
  • Aufgrund der uneinheitlichen Terminologie und der nicht eindeutig nachvollziehbaren Struktur verschließen sich weite Teile des Werks einem eindeutigen Verständnis.
  • Fichtes Bedeutung wird heute vor allem in seiner Rolle als Verbindungsglied zwischen Kant und Hegel gesehen: Er führte Kants Ideen weiter und bereitete wichtige Elemente des Hegel’schen Systems mit vor.
  • „Wissenschaftslehre“ ist Fichtes Ausdruck für die seiner Ansicht nach einzige zeitgemäße Art der Philosophie.
  • Zitat: „(...) das Wesen der Philosophie würde darin bestehen: Alles Mannigfaltige (das sich uns denn doch in der gewöhnlichen Ansicht des Lebens aufdringt) zurückzuführen auf absolute Einheit.“

Zusammenfassung

Was ist Wissenschaftslehre?

Das Ziel jeder Philosophie muss darin bestehen, die Wahrheit zu finden und darzustellen. Im Unterschied zu anderen Wissenschaften beschäftigt sie sich jedoch nicht mit den vielfältigen Erscheinungen der Welt, sondern damit, all diese Phänomene auf eine absolute Einheit zurückzuführen. Eines der möglichen philosophischen Systeme, das diese Einheit bzw. das Absolute zu finden versucht, ist die Wissenschaftslehre. Ist ihr Prinzip zur Erklärung oder Auffindung des Absoluten das richtige, so ist die Wissenschaftslehre zugleich die einzig richtige Philosophie. Damit das der Fall ist, muss ihr Einheitsprinzip sich jedoch von den bisher aufgefundenen Prinzipien anderer philosophischer Systeme unterscheiden.

Sein und Denken

Fast alle bisherigen philosophischen Systeme haben entweder angenommen, dass alles materiell ist, es also nur das Sein an sich gibt, oder sie haben eine Unterscheidung zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Formen getroffen, denen sich die Phänomene der Welt zuordnen lassen: Sein und Denken bzw. Sein und Bewusstsein. Betrachtet man diese Unterscheidung genauer, wird klar, dass das Sein als solches gar nicht aufgefasst werden kann, ohne zugleich ein Bewusstsein desselben anzunehmen. Da nun die absolute Einheit gesucht werden soll, kann diese weder allein im Sein noch allein im Denken liegen. Daraus folgt: Das Gesuchte muss in der absoluten Einheit von Sein und Denken angesiedelt sein. Kann nachgewiesen werden, dass beide in Wirklichkeit ein und dasselbe sind, ist das Absolute, nach dem gesucht wurde, gefunden. Dieses Prinzip der absoluten Einheit von Sein und Denken soll reines Wissen genannt werden.

Kants drei Absoluta

Auch Immanuel Kant hat erkannt, dass die Einheit von Sein und Denken das Absolute ist. Doch im Anschluss daran stellte er fest, dass es drei Erscheinungsformen oder Urmodifikationen des Absoluten gibt. Diese untersuchte er in seinen drei Kritiken. Das erste Absolute ist nach Kant die sinnliche Erfahrung (Kritik der reinen Vernunft), das zweite ist die moralische Welt (Kritik der praktischen Vernunft), als drittes nennt er eine allem gemeinsame, nicht weiter zu erforschende Wurzel, die die sinnliche mit der übersinnlichen Welt verbindet (Kritik der Urteilskraft). Die Wissenschaftslehre hat die Aufgabe, diese laut Kant unerforschliche Wurzel eben doch zu erforschen – und dann aus ihr die beiden anderen Absoluta (sinnlich erfahrbare Welt und Moral) abzuleiten, um schließlich das endgültige Einheitsprinzip zu finden. Dass dieses eine, Absolute das Wissen sein muss, leuchtet unmittelbar ein: Denn egal, wie sehr sich die Inhalte unseres Wissens unterscheiden, das Wissen selbst bleibt unabhängig vom Inhalt immer gleich. Daraus folgt etwas Entscheidendes für die Wissenschaftslehre: Sie ist das Wissen selbst – das reine Wissen und die Wissenschaftslehre gehen ineinander auf. Nun ist also die erste wichtige Erkenntnis gefunden: Das Wissen ist das eine Absolute, es existiert nur durch sich selbst und ist von nichts anderem abhängig, es ist unwandelbar und unmittelbar einsichtig.

Faktischer Beweis vs. genetische Konstruktion

Das Problem besteht nun darin, dass es sich bei dieser Erkenntnis um eine objektive, leblose Feststellung handelt. Gesucht wird aber ein organisches, lebendiges Prinzip, aus dem heraus auch die Wandelbarkeit und Mannigfaltigkeit der Welt erklärt werden kann. Dies kann nur auf genetischem Weg geschehen, d. h. in der aktiven Nachkonstruktion des Einheitsprinzips. Das ist das Verfahren der Wissenschaftslehre, an dessen Ende die Erkenntnis des reinen Wissens oder reinen Lichts stehen muss.

Die absolute Einheit und das Mannigfaltige

Eine Aufgabe der Philosophie und damit der Wissenschaftslehre ist es, das Mannigfaltige aus der absoluten Einheit abzuleiten. Während sich die empirischen Wissenschaften ausschließlich mit dem Mannigfaltigen beschäftigen, steht die Philosophie über ihnen – zwischen der Einheit und dem Mannigfaltigen – und muss sich also mit beidem beschäftigen. Mannigfaltig ist in diesem Zusammenhang alles, wofür gedacht werden kann, dass es auch anders sein könnte; also alles, wo ein Unterschied denkbar ist. Daraus folgt, dass es nicht nur um ein reines Einheitsprinzip geht, sondern zugleich um ein Disjunktionsprinzip, ein Prinzip also, das Unterscheidungen erklären kann. Um beide Seiten zu verbinden, muss das Prinzip der Einheit lebendig sein. Wir müssen es erkennen können, indem wir uns selbst, als Teil der Mannigfaltigkeit, näher betrachten. Dadurch, dass wir allerdings das reine Wissen als ein uns durchdringendes Licht betrachten, wird es uns entfremdet, getötet, weil wir nur eine leblose Repräsentation des eigentlichen Lichts untersuchen können.

Licht und Begriff

Indem wir uns einen Begriff vom reinen Licht bilden, verliert es seine Lebendigkeit. Der Begriff muss also zerschlagen und ungültig gemacht werden, damit das Licht seine Lebendigkeit wiedererlangt. Ohne den Begriff wird das Licht zwar lebendig, zugleich aber unbegreiflich. Viele haben das Absolute „Gott“ genannt. Gott wäre nach diesem Verständnis für uns nur so lange lebendig, wie wir nicht versuchen, ihn vernünftig zu erfassen – uns also einen Begriff von ihm zu machen –, sondern uns vielmehr in seiner Anschauung als etwas Unbegreiflichem verlieren. Andere haben das absolute Licht in uns selbst gesehen, im Ich. Es ist aber beides: absolutes, unbegreifliches Sein, das den Begriff vernichtet, und zugleich inneres, den Begriff aufstellendes, subjektives Denken.

Idealismus vs. Realismus

Der Begriff, also die Vernunft, setzt das Leben. Da wir wissen, dass unsere Vernunft existiert, da wir uns ihrer ständig bewusst sind, folgt unmittelbar das Dasein des Lichts, also alles Lebens, der Realität. Das ist die idealistische Sichtweise: Aus der faktischen Erkenntnis der Vernunft wird alles Sein abgeleitet. Genau da liegt aber das Problem: Die Wissenschaftslehre will ja das Absolute ohne Rückgriff auf faktische Beweise erkennen. Da also in der idealistischen Erklärung auf ein Faktum zurückgegriffen wird (die unmittelbare Einsicht der eigenen Vernunft), ist sie zurückzuweisen.

„Bei dem Unternehmen, welches wir jetzt gemeinschaftlich beginnen, ist nichts so schwer als der Anfang; und sogar der Ausweg, den ich, wie Sie sehen, zu nehmen im Begriffe bin, mit Betrachtung der Schwierigkeit des Anfanges anzufangen, hat wiederum seine Schwierigkeiten.“ (S. 3)

Eine andere Möglichkeit besteht darin, das Sein oder Leben zum Ausgangspunkt zu machen. Es wird absolutes Leben vorausgesetzt, und aus diesem folgt die Existenz der Vernunft. Das ist die realistische Sichtweise. Aber: Wenn alles in sich geschlossenes Leben, alles äußere Realität ist, wie können wir dann eine Intuition vom Sein haben, wie kann unsere Vernunft es, gleichsam von außen, erkennen und untersuchen? Zunächst ist nur eine Antwort denkbar: Wenn alles Leben ausschließlich Sein ist, gibt es keine darüber reflektierende Vernunft. Die realistische Sichtweise ist also ebenfalls zurückzuweisen. Sie kann aber modifiziert werden, indem man die Vernunft nicht als unabhängiges, außerhalb des Lebens liegendes Phänomen, sondern als von ihm abhängiges, untergeordnetes auffasst, das innerhalb des in sich geschlossenen Ganzen liegt. Vielleicht kann durch diese Annahme eine mögliche Aussöhnung zwischen Realismus und Idealismus erreicht werden.

Das Ansich

Die Grundlage, der Kern des Realismus ist: Es gibt nur das Leben an sich, außerhalb dessen gibt es nichts. Sobald man über das Ansich nachdenkt, vernichtet man, unter der Voraussetzung des Realismus, das eigene Denken, das man ja als etwas außerhalb des Ansich wahrnimmt. Oder nicht? Es scheint, als konstruierten wir die Form des Ansich aus uns, durch unsere Intuition. Könnte es aber nicht sein, dass sich das Ansich in uns selbst konstruiert, dass es die Intuition von ihm selbst hervorruft? Dann wäre das Nachdenken über das Ansich in Wahrheit doch Teil des Ansich und würde durch den Realismus nicht vernichtet. In der Selbstkonstruktion sind Ansich und Denken im gleichen Moment da, sie bilden eine Einheit.

Unmittelbares Bewusstsein

Die Grundlage des Idealismus ist das unmittelbare Bewusstsein des Ichs. Wie bereits angemerkt, lehnt die Wissenschaftslehre diese unmittelbare Intuition aber als Beweis ab. Wenn man die Wahrheit finden will, muss man vom reinen Denken das Bewusstsein abziehen, darf es nicht beachten – obwohl man sich ja zu jedem Zeitpunkt des eigenen Bewusstseins bewusst ist. Das Bewusstsein ist nicht der Grund für die Wahrheit einer Aussage. Die Wahrheit kann vielmehr nur gefunden werden, wenn man das Bewusstsein aus seinen Untersuchungen streicht. Die reine Vernunft allein führt zur Wahrheit. Wer sich auf die unmittelbare Intuition oder auf das reine Bewusstsein zur Stützung einer Aussage beruft, wird allein schon deshalb von der Wissenschaftslehre nicht ernst genommen.

Ansich und Nicht-Ansich: Welt und Ich

Wenn man das Ansich genauer betrachtet, wird klar, dass es nur als ein Nicht-nicht-Ansich zu denken ist, in einer doppelten Negation also. Daraus folgt die Existenz eines Nicht-Ansich, ohne dass das Ansich nicht existieren kann. Das Ansich als äußere Realität benötigt also ein Nicht-Ansich, das Ich. Da nun weder die eine noch die andere Seite zuerst da ist, sondern beide gleichzeitig und als Einheit bestehen, sind sowohl der Idealismus als auch der Realismus aufgehoben. Was bleibt, ist das reine Sein, das Sein an sich, in sich, durch sich. Das Sein kann also definiert werden als unabhängiges, sich selbst konstruierendes Absolutes. Es gehört zu seinem Wesen, sich in uns zu konstruieren, eine Erkenntnis von ihm in uns hervorzurufen. Die Tätigkeit des Seins (die Selbstkonstruktion) und das Sein selbst sind ein und dasselbe.

Von der Einheit zur Mannigfaltigkeit

Es kann also festgehalten werden, dass das Sein und die Vernunft eins sind, womit die gesuchte Einheit gefunden wurde. Aus dieser gilt es nun die eingangs erwähnte Mannigfaltigkeit abzuleiten: In der Einheit muss es einen Grund für die Mannigfaltigkeit geben. Es wurde gesagt, dass das Licht eine lebendige Sichselbstkonstruktion ist; es ist „von sich“. Dieses „Von“ ist sein inneres Wesen und setzt sich weiter fort: einmal zu unserem Bewusstsein, in dem wir das Absolute erkennen, ebenso aber zu all den verschiedenen Erscheinungen der Welt. Geht man diesen Ketten von „Vons“ nach, endet man schließlich wieder beim ursprünglichen „Von“, dem Licht oder dem Absoluten. Durch diese Erkenntnis wird auch die Differenzierung zwischen dem Faktischen und der Genesis aufgehoben: Das Absolute ist zugleich lebendige Selbstkonstruktion (ursprüngliche Genesis) und faktische Nicht-Genesis, d. h. bestehendes Sein.

Die Vernunft und das Ich

Wir selbst sind die Vernunft, das überindividuelle Absolute. Indem ich über meine eigene Vernunft nachdenke, ihr Eigenschaften zuschreibe und sie erkenne, bin ich mir meiner individuellen Persönlichkeit bewusst und mir meiner gewiss. Das, worüber ich in diesem Fall nachdenke, ist aber nicht die Vernunft, das Absolute selbst, sondern nur ein Bild, das ich mir von ihr mache. Ich bin zwar die Vernunft, kann sie aber nur über ein Bild von ihr (meine individuelle Persönlichkeit) erfassen. Die Vernunft ist reine, lebendige Einheit, die nicht weiter untersucht oder beschrieben, sondern nur gelebt werden kann; sie ist demnach ewig und unmittelbar Ich. Will man sie dennoch beschreiben, also von außen untersuchen, kann man das nur anhand einer Projektion, eines Bildes. Diese Unterscheidung zwischen Objekt und Vorstellung, Sein und Bild führt nun zu einer kreuzweisen Aufspaltung des Absoluten in Sein, Ich, Vorstellung des Seins und Vorstellung des Ichs.

Vier Grundprinzipien

Aus dieser Aufteilung folgen vier Grundprinzipien, die das Prinzip der Einheit mit dem Mannigfaltigen verbinden und gleichsam vier Sphären der Wissenschaft abstecken:

  1. Das äußere Objekt, die Welt, führt zum Prinzip der Sinnlichkeit, zum Glauben an die Natur und zum Materialismus. Damit beschäftigen sich die empirischen Wissenschaften.
  2. Das innere Subjekt führt zum Glauben an die Persönlichkeit und durch die Abstraktion auf andere Subjekte zum Glauben an das Recht. Das ist der Bereich der Rechtsphilosophie.
  3. Die Vorstellung vom Subjekt als bewusstem Ich führt zum moralischen Handeln. Das ist der Bereich der Ethik.
  4. Die Vorstellung des absoluten Objekts schließlich führt zum Glauben an Gott und zur Religion.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Wissenschaftslehre von 1804 ist eine Sammlung von Vorlesungsschriften, die Fichte im Rahmen seiner privaten Dozententätigkeit in Berlin niederschrieb. Für alle seine Vortragszyklen fertigte er neue Manuskripte an, die sich in Aufbau und Argumentationsweise teilweise drastisch unterschieden und dem jeweiligen Publikum angepasst waren. Fichte war der Ansicht, dass sich die Philosophie nicht auf feste, gewissermaßen tote Begriffe stützen dürfe, sondern von den Zuhörern lebendig nachvollzogen werden müsse. Dies erklärt die mitunter äußerst willkürliche Terminologie der Wissenschaftslehre und den Eindruck der fehlenden Strukturierung der 28 Vorträge, was das Verständnis der dargestellten Theorie oft erschwert oder gar unmöglich macht.

Fichte selbst setzt voraus, dass sich die Teilnehmer seiner Lehrveranstaltungen schon gründlich mit wissenschaftlichen Studien beschäftigt haben – tatsächlich ist die Kenntnis der Grundthesen seiner Vordenker für die Lektüre der Wissenschaftslehre (die Fichte im Text mit „W.=L.“ abkürzt) unerlässlich. Doch auch mit diesem Vorwissen verschließen sich weite Abschnitte des Werks vehement einem eindeutigen Verständnis.

Interpretationsansätze

  • Ähnlich wie vor ihm René Descartes will Fichte mit seiner Wissenschaftslehre eine feste Grundlage für jede Form von Wissenschaft etablieren. Dazu ist es seiner Meinung nach nötig, alle Phänomene der Welt auf ein einziges Grundprinzip zurückzuführen. Dieses Prinzip soll die Einheit von Sein und Denken sein, die reine Vernunft, die sich im Ich lebendig verwirklicht.
  • Damit ist Fichtes Wissenschaftslehre eine Absage an den Dualismus: Es gibt nur das lebendige Sein, das das Denken mit einschließt, und nicht zwei voneinander unabhängige Substanzen wie etwa Sein und Denken, Geist und Materie.
  • Fichte glaubt, mit seiner Theorie die Versöhnung von Idealismus und Realismus zu bewerkstelligen. Mit seinem Argument, das Denken werde vom Sein als Teil seines Wesens hervorgebracht, führt er eine Idee weiter, der sich in abgewandelter Form auch bei Spinoza findet.
  • Viele Aspekte der Wissenschaftslehre scheinen nur aufgenommen worden zu sein, um den Vorwurf des Atheismus, den Fichtes Gegner gegen ihn vorgebracht hatten, zu entkräften. Somit ist das Werk als Versuch einer Aussöhnung zwischen idealistischer Philosophie und Religion anzusehen.
  • Die Wissenschaftslehre verfolgt ein eindeutig erkenntnistheoretisches Projekt: Unmittelbares Bewusstsein und Intuition werden als Argumente für die Wahrheit einer Aussage gestrichen; als Prüfstein für die Wahrheit gilt nur die reine Vernunft. Damit erweist sich Fichte als Rationalist und stellt sich gegen den Empirismus, der die direkte Erfahrung zum Wahrheitskriterium macht.

Historischer Hintergrund

1789: Europa im Umbruch

Vielfältige gesellschaftliche Probleme, wie die Benachteiligung des Bürgertums und der niedrige Lebensstandard der unteren Klassen, führten 1789 in Frankreich zu einem Massenaufstand, der in der Stürmung der Bastille seinen Höhepunkt fand. In der Folge der Französischen Revolution hob die Nationalversammlung das Feudalsystem auf und verabschiedete die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die über die Grenzen Frankreichs hinaus Anspruch auf Geltung erhob. Die neue Verfassung trat im Jahr 1791 in Kraft und erklärte Frankreich zur konstitutionellen Monarchie – die erste Phase der Französischen Revolution hatte den Menschen zu mehr Freiheit und Rechten verholfen.

Die Entwicklungen in Frankreich beeindruckten die deutschen Intellektuellen: Was auf den Straßen Frankreichs mit hohen Verlusten errungen wurde, führte in Deutschland zu einem Kampf, den man in den Köpfen austrug. Ein neues Menschenbild nahm Formen an: Im Mittelpunkt stand der Mensch als eigenständiges Wesen mit autonomem Willen, dessen Denken und Moral nicht mehr von Autoritäten, von der Religion und von Gott bestimmt war, sondern der die Antworten allein in sich selbst suchen und finden musste. Daraus resultierten ein neuer Freiheitsbegriff und eine neue Verantwortung, wie die Philosophen erkannten: Ihre Aufgabe sahen sie darin, eine Ethik und eine Erkenntnistheorie zu formulieren, die dem neuen Menschenbild Rechnung trug. Die deutsche Philosophie gelangte im Deutschen Idealismus zu einer Blütezeit, wie sie in dieser Form danach nicht wieder vorgekommen ist.

Entstehung

Das Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft (1781) von Immanuel Kant wird häufig als kopernikanische Wende in der Philosophie bezeichnet. Damit ist gemeint, dass Kant die Philosophie gründlich auf den Kopf stellte und ihr Thema neu definierte. Er formulierte die These, dass nicht die Dinge der Welt oder übernatürliche Wesen dem Menschen seine Erkenntnisse eingäben, sondern dass die Beschaffenheit des menschlichen Geistes die Welt so erscheinen lasse, wie es seine Bedingungen vorgeben würden. Mit dieser revolutionären Idee ging ein Ruck durch die deutsche Philosophiegemeinde. Fichte schrieb in einem Brief an einen Freund: „Ich lebe in einer neuen Welt, seit ich die Kritik der reinen Vernunft gelesen habe.“ Bald jedoch tauchten neue Fragen auf, man beschäftigte sich intensiv mit Kants Theorie und erkannte, dass auch sie nicht fehlerfrei war und Inkonsistenzen aufwies. Diese aufzulösen, war das Ziel von Fichtes Wissenschaftslehre. Die Version von 1804 ist eine Neufassung des eigentlichen Hauptwerks Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95), das Fichte insgesamt neunmal überarbeitet hat.

Neben Kant gilt Baruch de Spinoza als wichtigster Einfluss für den Deutschen Idealismus; auch Fichte nimmt in seiner Wissenschaftslehre immer wieder Bezug auf ihn. Spinozas These ist in ihren Grundzügen allerdings das Gegenteil des kantischen Projekts: Er vertrat die Ansicht, dass alles Substanz ist. Das Denken wird in dieser Ansicht zum Attribut der Substanz. Fichte übernahm diese monistische Position grundsätzlich, lehnte jedoch Spinozas Schlussfolgerung ab, dass alles Denken Teil einer unabänderlichen Weltordnung sei und es deshalb kein unabhängiges Ich und keine Freiheit gebe.

Wirkungsgeschichte

Die Wirkung von Fichtes Werk zeigt sich vor allem im Einfluss auf seine Zeitgenossen: Die philosophischen Systeme von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel bekamen durch seine Ideen zahlreiche Impulse. Beide standen verschiedenen Aspekten der Lehre Fichtes jedoch auch kritisch gegenüber, und vor allem im Zuge des so genannten Atheismusstreits (1799) kam es zwischen den drei Philosophen zu Auseinandersetzungen. Friedrich Heinrich Jacobi wurde dagegen zum offenen Anhänger Fichtes, nannte ihn den „tiefsten Denker unserer Zeit“ und sah in dessen Wissenschaftslehre die erste „Transzendentalphilosophie aus einem Stück“. Neben der Philosophie standen vor allem die Dichter und Schriftsteller der Romantik unter Fichtes Einfluss: Der Philosoph pflegte persönlichen Kontakt zu Novalis und Friedrich Hölderlin, die Fichtes theoretische Überlegungen für die Literatur fruchtbar machten.

Die heutige Philosophie beschäftigt sich nur noch wenig mit Fichte. Das liegt nicht nur daran, dass Fichtes Bedeutung zwischen seinem übergroßen Vordenker Kant und seinem viel beachteten Nachfolger Hegel untergangen ist; das mangelnde Interesse hat sicher auch mit der fehlenden Systematik und den wenig genauen Begrifflichkeiten seiner Lehre zu tun.

Über den Autor

Johann Gottlieb Fichte wird am 19. Mai 1762 im sächsischen Rammenau als Sohn eines Bandwebers geboren. Das Stipendium eines Adligen erlaubt ihm den Besuch der Lateinschule und anschließend der Fürstenschule in Pforta. Nach dem Abitur nimmt er in Jena das Studium der Theologie auf. Als sein adliger Gönner 1784 stirbt, bricht er es ohne Abschluss ab. In der folgenden Zeit schlägt sich Fichte als Hauslehrer durch, u. a. in Zürich, wo er den Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi sowie seine künftige Frau Johanna Rahn kennen lernt. Die Begegnung mit den Schriften Immanuel Kants, den er 1791 in Königsberg besucht, wird für Fichte zu einem philosophischen Erweckungserlebnis. Mit seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) landet er einen Überraschungserfolg. Das Werk wird zunächst anonym publiziert und von der Öffentlichkeit für einen Text Kants gehalten. Als dieser den Irrtum aufklärt, wird Fichte mit einem Schlag berühmt. Seine antisemitischen Äußerungen und sein harscher Umgang mit Studenten, Freunden und selbst seinem Lehrer Kant tragen ihm schon früh den Ruf eines streitbaren Kopfes ein. 1793 veröffentlicht er die beiden Revolutionsschriften Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten und Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution. 1794 erhält er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Philosophie in Jena und veröffentlicht seine Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Das Werk, das großen Einfluss auf die Romantiker ausübt, stößt in Fachkreisen auf Widerspruch. Im so genannten Atheismusstreit von 1799, in dem sich Fichte mit dem Vorwurf der Gottlosigkeit auseinandersetzen muss, gewinnen seine Gegner die Oberhand. Fichte gibt seine Professur auf und geht nach Berlin. Als Privatdozent hält er Vorträge, u. a. die berühmten Reden an die deutsche Nation (1808), in denen er sich als Gegner Napoleons zu erkennen gibt, bis er 1810 an die neu gegründete Berliner Universität berufen wird. 1813 steckt er sich bei seiner Frau, die im Lazarett Kriegsverletzte pflegt, mit Typhus an. Während sie sich bald wieder erholt, stirbt Fichte am 29. Januar 1814 in Berlin an den Folgen der Krankheit.

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